Sufismus
13.09.2009 um 15:07
Ich (Nafs), das der Mensch für den Kern seiner Persönlichkeit hält und von dem schon ausführlich die Rede war. Auf dieser Ebene liegt Noah denn: Ein gut erzogenes Ich ist wie ein Schiff voller Tiere - die menschlichen Triebe und Regungen, die sich allesamt innerhalb ihrer berechtigten Grenzen bewegen und sich bereitwillig dem Kapitän unterordnen, der das Schiff durch die Stürme des Lebens hindurch auf das Ziel zusteuert, zu dem der Reeder ihn beauftragt hat. Das bedeutet, dass das Ich einsieht, dass es nicht im Mittelpunkt des Daseins steht. Ein egozentrischer Mensch würde sich selbst verabsolutieren und die eigenen Wünsche und Bestrebungen zum Maßstab für alles andere in der Welt machen. Ein Mensch jedoch, der sich gründlich selbst erforscht, entdeckt zwangsläufig, dass er nichts als ein Pünktchen auf dieser Erde ist, geschweige denn im Universum. Er erkennt, dass es Maßstäbe gibt, denen er untergeordnet, und Beziehungen, in die er eingeordnet ist und die ihn auch selbst verändern können. Wichtig auf der Ebene der Beziehungen ist das
Herz (Qalb): Es ist der Wendepunkt des Menschen, indem es sich zuwendet, den es liebt. Wenn jemand nur sich selbst liebt, wird das Herz ganz vom Ego in Anspruch genommen und Mitmenschlichkeit oder Gottesliebe hat darin keinen Platz. Diese Ebene wird durch Abraham verdeutlicht. Nach einer intensiven Suche nach dem wirklichen Geliebten wird er geprüft, wen er nun mehr liebt, Gott oder seinen Sohn, der sein Ich verkörpert; er sieht sich aufgefordert, seinen Sohn zu opfern. Selbstaufgabe ist aber nicht der Sinn dieser Prüfung, sondern was geprüft wird, ist die Liebe und die Bereitschaft: der Sohn wird ja schließlich durch ein Schaf ausgelöst. Auch die nach muslimischem Glauben von Abraham und Ismail gebaute Kaaba ist ein Herzsymbol. Sie kann mit Götzen vollgestellt sein wie zur Zeit der ersten Offenbarungen an den Propheten Muhammad (s.s.), oder sie kann rein und leer sein, um Gottes Gegenwart aufzunehmen, also im wahrsten Sinne des Wortes Gottes Haus sein. Jenseits des Herzens liegt die
Vernunft ('Aql) nicht der rationale Verstand, sondern die Fähigkeit, übergreifende Zusammenhänge zu erkennen und richtige Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wenn das Ich aus seinen Kenntnissen aber eigennützige Schlussfolgerungen zieht und damit die Harmonie der Beziehungen stört, in die es eingebettet ist, kann großer Schaden entstehen (z.B. Gewinnmaximierung durch technologische Kenntnisse). Vernunft ist immer mit Verantwortung verknüpft und macht den Menschen erst wirklich zum Khalifa, zum Statthalter Gottes. Hier ist den Mystikern Moses Bezugsperson, dem das "Gesetz" deutlich wird und der in Gottes Auftrag das größenwahnsinnige Ich in der Gestalt des Pharao in seine Grenzen weist. Auf der nächsten Ebene ist der
Geist (Ruh). Er ist die Verbindung zwischen Mensch und Gott. In diesem mystischen Erklärungsmodell ist der Geist Übermittler der Offenbarung und der schöpferischen Impulse. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt von Jesus, dessen Wunder, wie sie im Koran erwähnt werden, die im Sinne einer Belebung toter Herzen, einer Heilung innerlich Kranker, einer Eingliederung gesellschaftlich "Unberührbarer" usw. verstanden werden. Ruh ist die eigentliche Seele des Menschen, deren leise Stimme aber oft durch das laute Geschrei des Ich in den Hintergrund gedrängt wird. Die letzte und höchste dieser Ebenen ist das
Licht (Nur), jener göttliche Funke im Menschen, der erst dann richtig zum Vorschein kommt, wenn der ganze Mensch durchlässig geworden ist. Licht ist der Offenbarungsinhalt, die Mitteilung Gottes an den Menschen. Es erleuchtet und zeigt die Aufgaben auf, und den Weg, sie zu bewältigen. Die Welt wird "in ihrem wahren Licht" gesehen. Das Licht vertreibt die Finsternis der Unwissenheit und Ungerechtigkeit (zulm). Es ist Gottes eigenes Licht, und der Mensch erkennt, dass Gott selbst es war, der ihn führte. Der Funke Seines Lichtes im Menschen ist es, der Einsicht gibt in die Wirklichkeit der Welt und den Sinn des eigenen Lebens. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt Muhammads (s.s.), der Kontakt mit dem göttlichen Licht im "Abstand von zwei Bogen" hatte (Sura 53:1-12). Das bedeutete im damaligen arabischen Sprachgebrauch eine unmittelbare Berührung auf breiter Fläche, aber keine "Verschmelzung". Auf diese Art bleibt der "unendliche, qualitative Unterschied", Gottes Transzendenz gewahrt, auch wenn das Ich völlig das Bewusstsein von sich selbst verliert, auch wenn der betreffende Mensch sich völlig "von Gott erfüllt" erfährt und nichts anderes mehr lebt als die Impulse, die ihm von Gott eingegeben werden, wenn er völlig Offenbarungsträger geworden ist.