AfD
03.07.2016 um 12:27
Das Bundesprogramm wirkt unfertig. Einzelne Themenfelder waren noch nicht erarbeitet; die Präambel wird als Entwurf bezeichnet. Die Ausführlichkeit und Begründetheit der einzelnen Passagen schwankt. Die argumentative Qualität der Abschnitte entspricht dem damaligen Zustand der Arbeitsgruppen in der Partei und den beteiligten sozialen Bewegungen (van Hüllen, S. 265-281; Markovits und Gorski, S. 231-263). Dem Programm fehlte die durchgängig gestaltende, also zentrierende Kraft. Insofern spiegelt es den Aufbruch der Partei und die unentschiedenen Machtverhältnisse in ihr wider. Es markiert den Beginn, weniger die zukünftige Entwicklung eines neuen Segments im Parteiensystem der Bundesrepublik.
Dennoch und zugleich erhebt das Programm den Anspruch, eine Gesamtanalyse der Gesellschaft zu leisten und ein umfassendes Lösungskonzept zu bieten. Es umfasst tendenziell alle Bereiche, denen sich auch eine die Regierung tragende Fraktion stellen müsste, und begründet damit von Anbeginn der Partei an deren Selbstverständnis, in machttragender Position die Gesellschaft umzugestalten. So sehr es aus innerer Oppositions- und Anti-Haltung formuliert erscheint, so selbstbewusst, gestaltungsfordernd und wahrheitsüberzeugt ist es zugleich. Bei aller Brüchigkeit formt es einen dichten grün-alternativen Vorstellungskosmos, in dem der sich seit den sechziger Jahren entwickelnde Wertewandel der westdeutschen Gesellschaft verdichtet manifestiert erscheint.
Singulär in der Reihe der Parteiprogramme der Bundesrepublik ist das Bundesprogramm bis heute durch seinen umfassenden gesellschaftlichen Ansatz, der das Politische weit übersteigt: Viele der aufgestellten Forderungen sind politisch überhaupt nicht einzulösen. Sie können nur durch die Mitglieder der Gesellschaft selbst erfüllt werden, wie etwa die Vermeidung diskriminierender Haltungen, partizipatorische Aktivität oder verändertes Konsumverhalten.
In eigenartigem Kontrast dazu, tatsächlich aber ergänzend, erscheint die Staatsfixiertheit des Bundesprogramms: Zentrale politische Eingriffe sind das Standardmittel, mit dem die Gesellschaft verändert werden soll. Sie basieren auf Mehrheitsentscheid der politisch Aufgeklärten, und darin liegt das Bindeglied zum Ansatz beim Einzelnen. Die Berufung auf den Staat und das politische System ist signifikant.
Wirtschaft, Wissenschaft und Militär dagegen erscheinen als je monolithische Gegner, als das Andere, von dem sich die Partei abgrenzt und dem die Verursachung aller Krisen zugeschoben wird. Eigengesetzlichkeiten dieser gesellschaftlichen Subsysteme, aus denen sich Anforderungen oder Notwendigkeiten an Politik, Gesellschaft und Einzelnen ergeben, werden nicht gesehen oder thematisiert. Es geht durchgängig darum, alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche aus der Basissicht der Beteiligten oder Betroffenen heraus dem politischen Willen zu erschließen, sie steuerbar zu machen, um sie durch Reformen umfassend zu humanisieren. Diese Humanität entspricht der abendländischen Wertegeschichte, und ihre Besonderheit liegt nicht in ihren Inhalten, sondern in ihrer von gesellschaftlichen Umständen und Zwängen sowie von Interessen losgelösten Unbedingtheit.
Die Wirkungsgeschichte des Programms
Das Bundesprogramm selbst betont seine Vorläufigkeit und proklamiert eine kontinuierliche Programmdiskussion durch die Parteimitglieder. Tatsächlich folgte dem Bundesprogramm in rascher Abfolge bis heute eine Vielzahl weiterer programmatischer Texte, welche die politischen Positionen auf den einzelnen Politikfeldern immer wieder in andere Richtungen verschoben. Dabei wurden zum Teil aber auch die Positionen des Bundesprogramms wieder eingenommen (Wiesenthal, S. 105-125).
Auch der Umgang der Parteimitglieder und der Parteieliten selbst mit dem Programm blieb undogmatisch. Zwar stellten die in ihm formulierten vier "Grundsätze": ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei über zwanzig Jahre hinweg und mangels eines Nachfolgeprogramms einen Bezugspunkt der Selbstvergewisserung dar. Doch hatten die Grünen besonders in den neunziger Jahren viele Aussagen ihres Bundesprogramms aufgegeben, lange bevor das Grundsatzprogramm von 2002 eine neue programmatische Zusammenfassung brachte. Exemplarisch für diese Abläufe waren die Debatten und Beschlüsse über Militäreinsätze und Krieg, insbesondere die Debatte um den GlossarKosovo-Einsatz im Jahr 1999. Überhaupt verhinderte schon die basisbezogene, unhierarchische politische Kultur der Grünen eine zentralisierende, disziplinierende und dauerhafte Wirkung des Bundesprogramms.
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