Die große, große Müdigkeit
Ausgebrannt zu sein ist heute kein persönliches Schicksal mehr, sondern ein gesellschaftliches. Es rührt von einem System her, das die Kosten historischer Umbrüche immer nur auf denselben Schultern ablädt.
Züge zur Weihnachtszeit sind ein soziales Experiment. Menschen, die sich nie begegnen würden, werden in einer Röhre komprimiert und manchmal bewegt, manchmal nicht. Schlecht, wenn die Bahn es versäumt, einen voll reservierten Wagen auch anzuhängen, und noch schlechter, wenn die Zugbegleiterin dann um „Verständnis wegen des Notfalls“ bittet, denn zu Recht merkten die Passagiere an, dass es kein schicksalhafter Notfall, sondern schlicht eine Panne war - zudem eine, mit der die Bahn Geld spart. Denn auch stehende Passagiere zahlen den vollen Fahrpreis, und ob jeder wirklich die Formulare einreicht, damit die Reservierungsgebühr erstattet werden kann? Man unterstellt Absicht.
Doch in welchem Ton wird das vorgebracht, wie schnell ist der Vielfahrer mittleren Alters in Jeans und Baumwollhemd auf höheren Touren als das an jenem Tag defekte Triebwerk des ICE. Sein Gesicht nimmt die Farbe einer Aubergine an, er brüllt fast. Die Zugbegleiterin bittet, wie sie das immer tun, „um Verständnis“, aber er weist das mit der verhohlenen Sympathie des ganzen Waggons zurück: „Und wer versteht mich? Wer versteht mich denn auf der Arbeit?“
Keiner versteht ihn
Es war mehr als die Empörung eines treuglaubenden Kunden, das war echte Verzweiflung, und jeder wusste, was er meinte. Hier sprach kein Fluglotse, kein Gehirnchirurg und keiner, der sekündlich die Milliarden bewegt, sondern ein eher gemütlich aussehender Angestellter, ein gestandener Mann, von dem man sagen würde, dass er mitten im Leben steht. Aber diese Mitte wird an den Rand gedrängt, so schnell dreht sich die Welt, und es gibt keine Pause und kein Pardon. Und oft genug nicht mal eine Erklärung: Man versteht ihn nicht, und er versteht die Welt nicht mehr. Bald entspannen sich um ihn herum viele Gespräche, alle kreisten um das große Kreisen des Geldes, die Krise und, wie man früher sagte, das System: die geringen Renten, Krankenhäuser, die Clochards abweisen, die Griechen, die HRE, Ackermann, was sind eigentlich Schulden, die geringen Renten. Wessen Schulden zahlen wir? Warum vermag unser Geld so wenig? Bahnfahrer auf der Suche nach der falsch gestellten Weiche.
Das späte neunzehnte Jahrhundert war das Zeitalter der Neurasthenie, und wir leben in Zeiten des Burnout. Egal ob man von der medizinischen Korrektheit des Begriffs überzeugt ist oder nicht, ob man also die vielfältige und diffuse Symptomatik als spezifische Krankheit anerkennen möchte oder nicht, der Begriff aus der vormodernen Kerzenzeit bezeichnet eine Phänomenologie, die jedem intuitiv verständlich ist. Er gehört zu jenen Geräten unseres Welterklärungswerkzeugkastens, die uns heuristisch weiterhelfen, auch wenn wir gar nicht genau verstehen, wie sie en détail funktionieren. Es vergeht kein Tag, in dem nicht ein Artikel über Burnout in Zeitungen und Magazinen erscheint.
Immer mehr Mühen erwarten
Dabei wird er immer als ein privates Problem besprochen, werden gute Ratschläge zu seiner Vermeidung oder Linderung gegeben, die alle auf der Ebene der persönlichen Lebensgestaltung liegen. Zauberformeln werden offenbart: Work Life Balance und Entschleunigung, digitale Abstinenz und Fokussierung auf das Wesentliche. Als wäre das so einfach. Burnout wird einerseits in all seinen dramatischen und zerstörerischen Konsequenzen beschrieben, als eine Krankheit die lebensbedrohlich ist, die „Kassen Milliarden kostet“ und unbedingt ernst zu nehmen ist, die Mittel dagegen aber sind immer rein privat. Als würde man den Arbeitern einer Asbestfabrik empfehlen, zu Hause besser Staub zu wischen, um ihre Lungen vor Krebs zu schützen.
Das Syndrom, das wir mit dem Bild vom Ausgebranntsein beschreiben, also das Empfinden, müde zu sein, ohne auf Erholung hoffen zu können, und für die Mühen statt eines angemessenen Lohns nur noch mehr Mühen erwarten zu dürfen, das ist keine Privatsache, sondern ein gesellschaftliches, ein ökonomisches, ideologisches, kurz: ein politisches Problem. Es ist das Resultat gut zu identifizierender Entscheidungen und einer seit Jahrzehnten propagierten Ideologie. Diese Müdigkeit ist ein politisches Gefühl.
Wenn genug übrig bleibt
Sie befällt oft jene, die von einem Lohn oder einem Gehalt leben, die ihre Familie hier haben und nicht einfach wegziehen können, die gemeldet und vielfach registriert sind, deren Einkommen stets transparent ist und deren Steuern und Abgaben direkt einbehalten werden. Es ist dabei gar nicht mal so entscheidend, wie hoch das Gehalt ist, es ist diese Art des Einkommens, die überproportional belastet wird, sowohl systematisch wie historisch. Bis es kaum noch etwas vermag. Wer sich an die siebziger und achtziger Jahre erinnert, kann ermessen, wie stark der Wandel ist: In der alten Bundesrepublik waren beispielsweise Universitätsprofessoren sehr gut situiert bis wohlhabend, auch ohne Drittmittel einsammeln zu müssen wie die Eichhörnchen im November ihre Nüsse.
Eigenheim, studierende Kinder, sogar noch eine kleine Kunstsammlung oder seltene Bücher - das alles wurde im Wesentlichen von einem guten Professorengehalt getragen. Und wer wusste schon, was ein Politiker verdient? Schon die Diäten reichten, um ein gutbürgerliches Leben zu führen. Löhne und Gehälter konnten einfach mehr. Taxifahrer erzählen oft davon: Eine Rentnerin mit einer monatlichen Rente von 2000 D-Mark war gutsituiert und konnte Taxi fahren. Heute kommt sie mit tausend Euro nur dann über die Runden, wenn die Mieten, Nebenkosten und Krankenkassenbeiträge genug übrig lassen.
Der Staat verarmt
Der Wert des Eigentums an Wertpapieren, Immobilien, Edelmetallen, auch Kunstwerken, Weinkellern ist in derselben Zeit sehr stark gewachsen. Vermögen hat sich schneller vermehrt als Löhne und Gehälter, kein Vergleich. Besonders deutlich ist das in den Vereinigten Staaten: Im Jahr 1992 besaßen die oberen zehn Prozent etwa zwanzigmal so viel wie die ganzen unteren fünfzig Prozent. Im Jahr 2010 war es fünfundsechzigmal so viel. Das Vermögen wuchs, obwohl in der Zeit zwei Kriege zu bezahlen waren. Sie wurden durch Schulden finanziert, der Staat verarmt. Die Entwicklung ist überall ähnlich.
Vermögen leistet nur einen unverhältnismäßig geringen Beitrag zur Finanzierung der gemeinsamen Lasten. Das hat System, ein Versuch es anders zu machen, scheiterte derzeit schon an ganz praktischen Belangen: Welches Finanzamt hat schon die Möglichkeit, die Angaben von Sportlern, Showstars, Künstlern, Unternehmern oder Erben zu prüfen? Unser System hat die Arbeit belastet, um Gesundheit, Alterssicherung und sozialen Zusammenhalt zu bezahlen. Sie wurde auch immer dann herangezogen, wenn es galt, historische Umwälzungen zu bewältigen.
Einheit und Agenda
Kein Ereignis hat unser Land in unserer Zeit stärker und zum Guten geprägt als die deutsche Einheit. Doch deren stolze Kosten - ohne Ironie, wir können stolz darauf sein, das bezahlt zu haben - wurden nicht von Kapital und Arbeit gleichermaßen getragen, sondern in überwiegendem Maße von jenen, die Beiträge in die Rentenkassen und die Arbeitsagenturen (damals Arbeitsämter) zahlen. Diese Zeitung bilanzierte: „Arbeitnehmer mit einem sozialversicherungspflichtigen Einkommen zwischen 3500 und 6000 Euro waren die Hauptfinanciers der Einheit.“ Auf die Einheit folgte, nachdem die Sozialsysteme mit Vorruhestandsplänen, Umschulungen und AB-Maßnahmen ihre historische Funktion erfüllt hatten, nämlich zu verhindern, dass auf den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft auch ein sozialer Absturz folgte, die Notwendigkeit der Reform dieser Systeme. Heute wird Deutschland wegen der Maßnahmen der Agenda 2010 bewundert.
Die Arbeitslosigkeit, Geißel sämtlicher Debatten meiner Jugendjahre und aller, die ein geisteswissenschaftliches Studium wählten, hat ihren Schrecken verloren. Doch diese historische Umstellung wurde abermals nicht vom Besitz der Deutschen bezahlt, sondern von jenen, die auf Ansprüche auf Statussicherung etwa in der Arbeitslosenhilfe, die nach dem letzten Gehalt berechnet wurde, verzichteten und sich in den Dschungel der prekären, befristeten und mies bezahlten Beschäftigungsverhältnisse begaben. Dass sie davon nicht begeistert waren, steht auf einem anderen Blatt.
Einheit und Agenda, die beiden großen historischen Leistungen, die das heutige Deutschland gestaltet haben und es in der Krise schützen, wurden von Menschen wie dem entnervten Bahnfahrer bezahlt.
Man hatte Hobbys
Und die Bedingungen, unter denen all das Geld erwirtschaftet werden muss, haben sich empfindlich verändert. In den Zeiten, in denen noch wirklich Wirtschaftswachstum erarbeitet und der Ruhm der deutschen Nachkriegsindustrie begründet wurden, war es selten, dass der Chef nach Feierabend noch anrief. Es gab einen Programmschluss im Fernsehen, und selbst die Börsen funktionierten wie Behörden, interessierten auch nicht weiter. In der Satirezeitschrift MAD wurden unendliche Witze über Ärzte gemacht, die mit dem „Pieper“ auf den Golfplatz gingen, um sich durch die Zurschaustellung des seltenen Geräts irgendeinen albernen Vorteil zu verschaffen. Der Arbeitsplatz war eine Art soziokulturelles Habitat, in dem man sich einrichten und leben konnte, und keine Hölle der permanenten Optimierung. Das Recht der Firma war nicht absolut, sondern wurde gegen eigene Interessen abgewogen. Die Leute hatten Hobbys, verlangten Arbeitszeitverkürzung, und wer auch mal halblang machte, galt als schlau, nicht als Verräter am Bruttosozialprodukt, das unter solchen Gegebenheiten übrigens florierte.
Heute machen selbst und gerade die Betreiber von systemgastronomischen Kaffeehausketten oder Franchisenehmer von T-Shirt-Herstellern aus dem Commitment zum Unternehmen eine Privatreligion. Mehr als der ganze Mensch ist gefragt am kundenorientierten Arbeitsplatz, digitale Erreichbarkeit rund um die Uhr wird schon bei mittleren Lohnstufen erwartet und natürlich eine lebenslange frenetische Selbstoptimierung. So muss der oder die Angestellte stets mehr geben als die Arbeitskraft in der Arbeitszeit, sie müssen Jünger der Firmenmission werden und Propheten der Produkte. Die, während man sie hysterisch feiert, nicht unbedingt besser werden.
Jeder zahlt woanders
Und warum soll die dritte historische Herausforderung unserer Zeit, die Euro-Krise, anders gelöst werden als die beiden schon erwähnten? Die nun schon vier Jahre währende Krisenbewältigung ermüdet uns besonders, weil sie keinen Fortschritt erkennen lässt, nur längere Monologe zumutet. Es gibt Beispiele für frischere, mutige Wege: In Island wurden die Pleitebanken verstaatlicht, aber nicht deren Schulden. Die Gläubiger mussten sie abschreiben, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte blieb vom Wahnsinn der Banker unbehelligt. Dennoch hat sich Island schneller erholt als andere Länder, die unter der Doppelbelastung von Schuldendienst und Sparprogrammen noch Jahrzehnte leiden werden. Die Märkte kaufen mit Vergnügen isländische Anleihen, denn die Insel ist ja ihre kranken Banken losgeworden, nun kann sich die Wirtschaft erholen, auch solch forsches Handeln imponiert Anlegern. Märkte sind zwar sensibel, aber nicht sentimental.
Europa ist kein verarmender Erdteil, sondern, wenn man das Pro-Kopf-Vermögen betrachtet, einer der reichsten der Welt. Bloß steht dieses Vermögen zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben nicht zur Verfügung, es ist nicht einmal zu lokalisieren, denn fiskalisch ist Europa eine Kulisse mit Tapetentüren: Das Industrieunternehmen Arcelor-Mittal, welches in Lothringen Stahlwerke betreibt, zahlt seine Steuern in Luxemburg. Gérard Depardieu und andere reiche Franzosen entdecken, kaum dass die dortige Regierung die Vermögen besteuern will, ihre innere „Belgitude“ und ziehen in ein Dorf hinter der Grenze. Jede deutsche Krankenschwester wird für die Griechen zahlen, aber das größte griechische Unternehmen verlegt mitten in der Krise seinen Sitz nach London. Jeder kann überallhin, aber wer europäische Standards genießt - den Rechtsfrieden, die gut ausgebildeten Arbeitnehmer, die sicheren Straßen, die guten Krankenhäuser, die kulturellen Einrichtungen -, der soll nicht Steuern zahlen wie in einer öden Oligarchie.
Der Beginn der Erholung
Die europäischen Spielregeln sind zu unseren Ungunsten manipuliert worden. Unterdessen ist die europäische Staatsschuldenkrise für viele ein einträgliches Geschäft. Ein Schuldenausstieg nach isländischem Vorbild wäre für die handelnden Politiker ein zu großes Risiko. Wie viel wir genau für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise zahlen müssen, kann niemand wissen. Irgendwie ahne ich aber schon, wer nicht zahlen wird. Doch auch hier inspiriert der Name einer legendären Bremer Kneipe: Alles könnte anders sein. Selbst kommunistischer Umtriebe unverdächtige Organe wie die Boston Consulting Group empfehlen eine maßvolle Abgabe vom Besitz der reichsten Europäer zur Bewältigung der Schuldenkrise.
Wenn man jetzt, am Ende des Jahres, das komische Gefühl hat, Wasser aus einem Boot schöpfen zu müssen, in das andere immer wieder Lecks hauen wie ein delirierender Kapitän Haddock, dann trifft das ziemlich genau die Lage. Und so etwas macht wahnsinnig müde. Doch in einem Punkt trügt der epochale Begriff: Menschen brennen nicht aus, sie sind ja keine Teelichter. Das Eingeständnis der Müdigkeit ist der Beginn rascher Erholung. Der Kampf um faire Spielregeln, um Gerechtigkeit entfesselt bei Kindern und selbst bei ermatteten Bahnreisenden die schönste, lauteste Energie, und man staunt, wie schnell Kräfte wachsen.
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