Auch nach der Freilassung prominenter Reporter sind noch
über hundert Journalisten in Haft, mehr als in China oder Iran. Regierungskritiker geraten schnell unter Terrorismusverdacht.
Er hat Dinge getan in den vergangenen 375 Tagen, die ihm bis dahin fremd waren: Er hat Hanteln aus Wasserrohrstücken gebaut, er hat zu viel ferngesehen, und dann hat er irgendwann die Sonnenblumenkerne entdeckt. Das war, als er spürte, dass er im Gefängnis zu viel Gewicht verlor.
"Wie ein Besessener habe ich diese verdammten Sonnenblumenkerne gekaut", berichtet Ahmet Şik.
Der Journalist sitzt in seinem Wohnzimmer in Istanbul, neben ihm seine Frau Yonca, seine Tochter, die engsten Freunde. Es gibt Rotwein und Schokoladenkuchen, und Şik, ein jugendlich gebliebener 42-Jähriger mit dünnem Vollbart, kann es noch nicht fassen, wieder ein freier Mann zu sein.
Es ist Dienstagabend, der 13. März, der Tag nach Şiks Entlassung aus dem Silivri-Hochsicherheitsgefängnis für mutmaßliche Terroristen und Terrorhelfer. Ein Jahr und zehn Tage saß er in Untersuchungshaft, weil er als "Mitglied einer terroristischen Vereinigung" galt.
Ahmet Şik ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten und Buchautoren der Türkei. Sein Kollege Nedim Şener, auch er ein mehrfach ausgezeichneter Enthüllungsreporter, hatte die Hintergründe der Ermordung des Journalisten Hrant Dink 2007 recherchiert. Beide waren vor einem Jahr, am Morgen des 3. März 2011, von einer Sondereinheit der türkischen Polizei verhaftet worden.
Die Journalisten, so lautet der Vorwurf, gehörten einem ultranationalistischen Geheimbund namens "Ergenekon" an.
Belege dafür gab es keine. Jenes berüchtigte Netzwerk soll, so behaupten türkische Staatsanwälte, vor Jahren einen Putschplan gegen die Erdogan-Regierung ausgeheckt haben. Seit 2007 sind Polizei-Sondereinheiten damit beschäftigt, der "Ergenekon"-Gruppe das Handwerk zu legen. Deren Existenz ist allerdings bis heute nicht bewiesen.
Schon lange hatten Nichtregierungsorganisationen wie "Reporter ohne Grenzen" und "Human Rights Watch" Repressionen gegen Journalisten in der Türkei angeprangert, mit Şiks und Şeners Verhaftung aber wurde endgültig eine Grenze überschritten. Denn ausgerechnet diese beiden hatten mit ihrer Arbeit überhaupt erst dazu beigetragen, die jahrzehntealte Verflechtung von Politik, Justiz und organisiertem Verbrechen in der Türkei aufzudecken.
Wollte also die AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit Şik und Şener zwei Männer mundtot machen, die ihr anfangs nutzten, aber dann unbequem wurden? Schließlich hatten die beiden Reporter nicht nur im Umfeld der alten Staatselite, sondern auch bei den Islamisten recherchiert, sich an die neuen Machthaber und deren Netzwerke herangewagt.
Şik arbeitete kurz vor seiner Verhaftung an einem Buch über den einflussreichen Islamprediger Fethullah Gülen. Laut Şiks Recherchen soll es Gülen gelungen sein, seine Bewegung zu einer der mächtigsten Institutionen der Türkei ausgebaut zu haben. Vor allem der Polizeiapparat, so schrieb der Journalist, sei systematisch von Gülen-Anhängern unterwandert. Die Bewegung gebe sich nach außen karitativ und unpolitisch, strebe aber langfristig nach der absoluten Macht.
Dem im amerikanischen Exil lebenden Gülen dürfte das nicht gefallen haben. Die Veröffentlichungen sollten wohl verhindert werden. Zumindest das gelang nicht: Şiks Buch mit dem Titel "Die Armee des Imam" war schon kurze Zeit nach seiner Festnahme im Internet zu finden. Seit einigen Monaten steht es auf der Bestsellerliste.
In Europa und den USA wurde der türkische Umgang mit Regierungsgegnern massiv kritisiert. Der US-Schriftsteller Paul Auster weigerte sich noch vor wenigen Wochen, die Türkei zu besuchen. Er reise nicht in ein Land, in dem so viele Journalisten im Gefängnis säßen, so Auster.
Auf der von der Organisation "Reporter ohne Grenzen" veröffentlichten Liste der Pressefreiheit rutschte die Türkei in den vergangenen Jahren dramatisch ab, sie steht mittlerweile auf Platz 148 von 179 Ländern.Über Monate spielte die Regierung die Vorwürfe herunter: "Kein einziger Journalist", so sagte Europaminister Egemen Bagis der BBC, werde wegen seines Berufs in Haft gehalten, höchstens "Leute mit Presseausweis", die sich einer Vergewaltigung oder eines Bankraubes schuldig gemacht hätten.
Am vergangenen Montag dann erfolgte die Kehrtwende, wohl auch aufgrund des internationalen Drucks: Neben Şik und Şener wurden zwei weitere Reporter vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Freigelassen, nicht freigesprochen.
Diese Entlassung sei eben ganz wie ein Gnadenakt zu Zeiten des Sultans, sagt ein Mitglied der türkischen Journalistengewerkschaft: "Der Sultan vergibt, aber er entschuldigt sich nicht bei jenen, die zu Unrecht im Gefängnis saßen."
Über hundert Journalisten warten noch immer in türkischen Gefängnissen auf ihren Prozess, das sind mehr als in China oder Iran. Zudem hat die AKP-Regierung 2006 die "Gesetze zur Terrorismusbekämpfung" weiter verschärft.Die Willkürgesetze werden auf linke wie rechte Regierungskritiker angewendet. Besonders betroffen aber sind kurdische Journalisten, die unter Verdacht stehen, Sympathisanten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. In einem Großeinsatz von Polizei, Geheimdiensten und Justiz versucht die Regierung seit Monaten, das Kurdenproblem auf ihre Weise lösen: Neben 68 kurdischen Reportern sitzen derzeit über 6000 kurdische Bürgermeister, Politiker und Aktivisten in türkischen Gefängnissen.
Oft besteht deren Vergehen lediglich darin, Tabubegriffe wie "Kurdistan" ausgesprochen zu haben. Oft wissen die Beschuldigten nicht einmal, was ihnen überhaupt vorgeworfen wird. Von einem "Klima der Angst" sprechen die Anwälte der Festgenommenen: Was geschrieben und gedacht werden darf, was der AKP-Regierung gefällt und was ihr missfällt, sei nicht mehr durchschaubar."Der Ministerpräsident definiert, wer Journalist ist und wer Terrorist, das ist unser größtes Problem", sagt Şik.
Der Reporter will bald wieder arbeiten, er will sich nicht einschüchtern lassen, auch wenn er weiß, dass das Gefühl von Freiheit trügerisch sein kann: "Wen die Regierung kriegen will, den kriegt sie."
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-84430215.htmlDa fragt man sich allen Ernstes ob und inwieweit die Türkei überhaupt noch als zivilisiertes Land durchgehen kann.
Unliebsame Meinungsäusserungen zu verbieten und zu verfolgen gehört zu den ersten Taten der Machthungrigen um Ansprüche durchzusetzen.