@hi all
Es geht um japanische schüler und der druck der auf ihnen lastet.
Dazu eine kleine geschichte.
Versagen verboten
Seit fünf Jahren lebe ich in Tokio. Einer meiner Nachbarn ist ein 80-jähriger Bonsai-Gärtner. So manches Mal haben wir ein Bier geteilt und über seine Minibäumchen und den Gang der Welt geplaudert. Jetzt steht der alte Mann zwischen seinen Bonsais und blickt hinüber zum Kindergarten. Dort geht es zu wie einst bei der kaiserlichen Armee: Befehle ertönen, aus dem Knäuel der Dreijährigen stürzen Kinderfüße den Kommandanten entgegen, formieren sich sekundenschnell in Hab-Acht-Stellung. Die Kindergärtnerinnen inspizieren die Truppe und verkünden den Tagesbefehl: Spielend gehorchen!
"Ja, ja ... " - sagt der 80-jährige Bonsai-Gärtner: "... so ist es richtig: Natur will geformt werden. Dann erst entfaltet sie ihre ganze Schönheit".
Und während Herr Kato, den die Kinder "Bonsai-Opa" nennen, seine Bäumchen bearbeitet, ihre Wurzeln manipuliert und ihre Zweige mit Draht in die gewünschte Form zwingt, erklärt er mir, warum diese kleinen Japaner dort drüben anders als die Kinder in anderen Länder sind.
Die Karriere beginnt bereits im Mutterleib
"Weil ihre gesamte Kindheit sie lehrt, dass das Wichtigste im Leben die Fähigkeit zur Unterordnung ist! Insofern sind Kinder wie Bonsais: Sie müssen so früh wie möglich von den Wurzeln her zurechtgestutzt und in die richtige Form gebracht werden ..."
Diese Bonsai-Theorie bringt Professor Hideo Obara in Rage. Er, der in Amerika studiert und deshalb den kritischeren Blick "von draußen" gelernt hat, vergleicht die Ausbildung von Nippons Söhnen und Töchtern gern mit der Dressur eines Schoßhündchens: "Japanische Kinder können mit zwei Jahren Klavier spielen, aber mit sechs keine Banane schälen", meint der Verhaltensforscher: "Die Entwicklung von selbstständigem und kreativem Handeln bleibt in japanischen Kindergärten auf der Strecke. Statt dessen züchten wir menschliche Roboter heran!"
Der Blick über den Zaun meines Nachbarn und Bonsai-Gärtners scheint dem Professor Recht zu geben: Zumindest als Ausländer spürt man, dass der Ernst des Lebens in jenem Kindergarten bereits im Windelalter beginnt, denn nicht Spielen und Lachen steht auf dem Stundenplan, sondern hartes Lernen und höchste Leistung.
Die japanische Zwangsjackengesellscha
Der Psychologieprofessor Masao Miyamoto sieht in diesem Bildungsboom mit seiner Technikhörigkeit einen gefährlichen Trend, den er im Titels eines bekanntesten Buches auf den Punkt gebracht hat: "Die japanische Zwangsjackengesellschaft".
"Sehen Sie" - sagt Miyamoto, als wir uns zum Interview treffen, "wie jeder Japaner verbeuge ich mich vor Ihnen. Das steckt in uns drin. Wir machen uns klein, damit der andere sich größer fühlen kann. Und das nennen wir dann Respekt! Das Bild vom Bonsai lebt leider immer noch fort", sagt der 51-jährige Professor, den einige Medien hierzulande zum bestgehassten Mann Japans erklärt haben. "Das Ziel des Bonsai-Erziehungssystems ist die psychologische Kastrierung des Einzelnen. Entscheidungsstarke und konfliktfreudige Menschen sind in Japan unerwünscht. Sie wären mit dem Streben nach totaler Harmonie unvereinbar."
"Eine Folge davon ist, dass Japaner große Probleme damit haben, deutlich Ja oder Nein zu sagen. Sie vermeiden in der Regel jede klare Meinungsäußerung, was Ausländern den Umgang mit ihnen so schwierig macht. Wer aber seine ganze Energie darauf konzentriert, in einer Gesellschaft den Status Quo zu erhalten, der ist ungeeignet für jede Art von Wandel und Fortschritt."
"Schließlich haben Bonsais weder Augen noch Ohren ..."
Miyamoto selbst ist ein Opfer dieses Systems. Auch er hat die Prüfungshölle durchlaufen, auch er war ein "gehorsames Schaf, das der Herde folgt, wohin auch immer der Weg geht." Erst spät, nach vielen Auslandsaufenthalten und einer langen Suche nach den psychologischen Wurzeln japanischen Verhaltens, hat er begriffen, wie sehr er ein Leben lang unter seiner geraubten Kindheit gelitten hat - so sehr, dass er jetzt beschloss, seiner Heimat ganz den Rücken zu kehren und in Amerika zu leben.
"Das ist mein Protest", sagt er zum Abschied: "Doch ich befürchte, kaum jemand in Japan wird ihn verstehen - schließlich haben Bonsais weder Augen noch Ohren ..."