Beschneidung ist Körperverletzung
09.07.2012 um 22:43
"Aufs Diesseits fixierte Weltsicht"
Navid Kermani ist Schriftsteller und Orientalist. Er war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz.
Foto: Stefan Worring
Die Zustimmung zum Kölner Beschneidungsurteil geht über die Vorbehalte gegen das Judentum und den Islam hinaus, sagt der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani.
Herr Kermani, trotz des Protests von Juden und Muslimen unterstützen die Deutschen mit großer Mehrheit ein Verbot der Beschneidung. Überrascht Sie das?
Nein. Hier brechen Muster auf, die sich über Jahrhunderte tief ins kulturelle Bewusstsein eingelagert haben. Man darf ja nicht vergessen, dass sich die europäische Kultur historisch auch durch die Abgrenzung vom Judentum und durch den Antisemitismus konstituiert hat. Und dabei waren die Vorbehalte gegen die Beschneidung als „barbarischer Akt“ eines der zentralen Motive von Anfang an. Natürlich sage ich nicht, dass jeder, der die Beschneidung verbieten will, Anti-Semit sei. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass bestimmten gesellschaftlichen Reaktionen – aber auch den Wahrnehmungen dieser Reaktionen - tiefliegende, durchaus auch unbewusste kulturelle Muster zugrunde liegen.
Welche Muster?
Dieses Ausmalen, was die Juden und Mohammedaner denn da Ungehöriges treiben, gehört seit jeher zum Kernbestand des europäischen Ressentiments. In Amerika, wo sich die Tradition des Antisemitismus nicht auf die gleiche Weise in der Kultur abgelagert hat, verbindet man dementsprechend auch nicht diese Gewalt mit der Beschneidung, sonst wäre dort nicht auch die Mehrheit der christlichen Männer beschnitten. Dort gilt die Beschneidung als ein gesundheits- oder hygieneförderlicher Minimaleingriff. Oder es ist dort ganz einfach eine Sache des Geschmacks.
Vielleicht ist es für den nachaufgeklärt-postmodernen Menschen einfach irritierend, dass Babys am Penis mit dem Skalpell traktiert werden?
Auch in dieser Frage schwingt schon das Ressentiment mit. Ein Jude oder Muslim, der als Baby beschnitten wurde, fühlt sich dadurch nicht traumatisiert, zumal der Eingriff leichter zu sein scheint, je früher er vorgenommen wird, also auch körperlich.
Was heißt das zum Beispiel für die türkische Tradition, in der die Jungen bei der Beschneidung etwas älter?
Der psychologische Vorgang ist hier gewiss einschneidender, doch mag das Bewusstsein des Schmerzes durch alle möglichen Begleitumstände und das Fest kompensiert werden, in dessen Mittelpunkt der Junge steht. Aber um solche Differenzierungen geht es in der Debatte ja ohnehin nicht.
"Gestus des pädagogischen Wohlmeinens"
Sondern?
Es geht um die Beschneidung als solche, es geht um die offenkundige, auch gewollte physische Manifestation einer Andersartigkeit, die problematisiert werden muss, um sie im Gestus des pädagogischen Wohlmeinens bekämpfen zu können. Es kommt mir vor, als bewegten wir uns im Expresszug zurück ins 19. Jahrhundert mit seinem „aufgeklärten“ Vorbehalt gegen die Juden, als es exakt die gleichen Argumente gegen die archaische Andersartigkeit gab. Die Mehrheitsgesellschaft will Juden und Muslimen einreden, sie seien alle – mehr oder weniger – krank, sie hätten sozusagen einen Schuss weg und würden es nur nicht merken. Das ist auch völlig in Ordnung, wenn sie das denken – solange das Recht neutral bleibt.
Ist das jetzt eine Diktatur des Säkularismus?
Säkularismus, wie er gerade auch in Deutschland verstanden wurde, ist nicht religionsfeindlich. Nur ein „Menschenverstand“, der sich selbst absolut setzt, verlangt die totale Unterwerfung religiöser Normen unter seine eigenen Ansprüche. Deshalb geht dieses Urteil und geht mehr noch die gesellschaftliche Zustimmung zu diesem Urteil über die Vorbehalte gegen das Judentum und den Islam hinaus – es bestreitet insgesamt die Akzeptanz einer religiösen Weltanschauung. Das spüren die Kirchen ja auch, deshalb kommt von dort ebenfalls Protest.
Gegen das, was Sie mit Ihrem Begriff „Vulgär-Rationalismus“ gemeint haben?
Ja, es ist der Fundamentalismus einer aufs „Diesseits“ fixierten Weltsicht, die nichts gelten lässt, was außerhalb ihres eigenen beschränkten Blickfelds liegt. Es ist die völlige Unfähigkeit, die eigene Sicht zu relativieren. Wenn die Religion ihr in die Quere kommt, wird sie mit Schaum vor dem Mund bekämpft, mit einer Aggressivität, die sonst als typisches Merkmal religiöser Fundamentalisten gilt. Ich sehe ja auch, dass der Jurist, dessen Bewertung die Kölner Richter zur Grundlage ihres Urteils genommen haben, jetzt offenbar beschimpft und bedroht wird. Das ist schrecklich und nicht hinnehmbar. Aber ich sehe auch die wütenden, zum Teil bedrohlichen Reaktionen, denen jene ausgesetzt sind, die das Urteil kritisiert haben. Sie müssen nur einmal bei den jüdischen und muslimischen Verbänden nachfragen, was dort an Post eingeht, aber ich bekomme es auch selbst zu spüren. Das ist ein aggressiv selbstgewisser Ton, den ich sehr gut aus Ägypten oder aus Iran kenne.
Beide Fundamentalismen – der religiös wie der anti-religiös motivierte – sind unvereinbar mit einem Wesensmerkmal der westlichen Demokratie, dass nämlich die Mehrheit eine Minderheit nicht in allen Fragen einfach überstimmen und dominieren darf, dass es bestimmte Bereiche gibt, die von Mehrheitsentscheidungen ausgenommen sind.
Muss die Verständigung auf universelle Werte nicht als ein unmögliches Unterfangen gelten, wenn die Religionen Rücksicht auf ihre jeweiligen Partikularnormen verlangen?
Das ist eine Frage der Abwägung. Wenn unter Berufung auf die Religion Gewalt gerechtfertigt wird, muss man sich diesem Anspruch verweigern. Das gilt zum Beispiel auch für die Genitalverstümmelung von Mädchen. Aber bei der Beschneidung liegt der Fall anders. Das Problem, das hier beim Blick in fremder Männer Hose konstruiert wird, existiert vor allem als Projektion derer, die selbst nicht beschnitten sind.
"Eingriff bei der Taufe ist viel größer"
Es geht dem Landgericht Köln aber gar nicht um Männer, sondern um kleine Kinder, die nicht danach gefragt werden können, ob sie einer Beschneidung zustimmen.
Hier trifft das Gleiche zu. Es ist eine Abwägungsfrage. Ich halte die Beschneidung nicht für eine Körperverletzung im strafrechtlichen Sinn. Und der Eingriff in die Autonomie des Kinds ist, worauf gerade der Theologe Klaus Berger hingewiesen hat, bei der Taufe viel größer, wenn man einmal zu Ende denkt, was die Taufe symbolisiert, nämlich ihrer Substanz nach ein Mitgekreuzigtwerden; heute würde man es als „Schein-Hinrichtung“ bezeichnen.
Sie beziehen sich auf Paulus oder auch auf Luther, bei denen das Untertauchen des Täuflings explizit für ein „Ersäufen“ steht, bevor er zu „neuem Leben in Christus“ wiedergeboren und der Gemeinschaft der Kirche inkorporiert wird.
Ich kritisiere das gar nicht, ebenso wenig leugne ich, dass der Beschneidung ein archaischer Ursprung zugrunde liegt. Solche Rituale sind die Überführung, man kann sogar sagen: Humanisierung eines mythischen Vorgangs, wobei in beiden Fällen ein physischer Restbestand der ursprünglichen Handlung bleibt. Gewiss kann man sich davon abkapseln und sagen, „das ist alles Barbarei, die Menschen brauchen das nicht“. Ich habe allen Respekt vor inner-jüdischen oder inner-muslimischen Kritikern der Beschneidung. Aber es ist etwas völlig anderes, wenn diese Kritik von Außenstehenden jenen oktroyiert wird, die an diesem Rückbezug auf die vorgeschichtlichen Anfänge ihres Glaubens und ihrer Kultur festhalten möchten. Es kann keine Sache eines deutschen Landgerichts sein, mal eben 4000 Jahre Religionsgeschichte auszustreichen.
Man darf diese Geschichte aber doch für kritikwürdig halten.
Wenn die Praxis einer Religion verändert werden soll, dann muss der Impuls von innen kommen. Aber dass Menschen von außen sagen: „So etwas wie die Beschneidung darf es aber nicht geben bei euch!“ und damit Juden wie Muslimen ein Kernritual ihres Glaubens wegnehmen wollen, das kann zumal mit der Blick auf die antisemitische Vorgeschichte dieses Vorbehalts nur Unheil stiften, Abwehr, Angst und Desintegration. Schon unter den römischen Kaisern lebten Juden mit der Furcht, ihr Geschlecht herzeigen zu müssen und wegen ihrer Beschneidung als dem Kennzeichen ihrer Gemeinschaft verfolgt zu werden. Und ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass keine 70 Jahre nach der Schoah traditionelles jüdisches Leben in Deutschland wieder kriminalisiert und damit letztlich in die Illegalität getrieben wird. Das empört mich als deutscher Staatsbürger beinahe noch mehr, als es mich als Muslim erschreckt.
Sie weisen die Einspruchsmöglichkeit des Staats als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurück?
Es kann nicht Aufgabe des Staats sein, unmittelbar und tief in religiöse Lehren und daraus folgende Praktiken einzugreifen, wenn diese nicht offensichtlich gegen Menschenrechte verstoßen. Die katholische Kirche zum Beispiel hält den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt für gottgegeben. Nun mag es aus emanzipatorischer Sicht wünschenswert sein, dass es katholische Priesterinnen gibt. Und gesellschaftspolitisch gesehen, ist der Ausschluss der Frauen von weitaus größerer Tragweite als die Beschneidung kleiner Jungen. Ich kann das auch als meine Meinung formulieren und meinetwegen Bücher darüber schreiben. Trotzdem steht es mir als Außenstehendem nicht zu, hier Veränderungen rechtlich durchzusetzen. Das müssen die Katholiken schon selbst tun.
Ist der Punkt erreicht, wo sich Juden und Muslime in Deutschland unwohl fühlen müssen?
Grund für ein Unbehagen gibt es nicht erst jetzt. Wenn der Reihe nach Ausländer umgebracht werden, ohne dass der Verfassungsschutz die offenkundig völkisch-nationalen Motive erkennt, dann ist das bedenklich genug. Aber es stimmt: Das Kölner Urteil bedeutet eine neue Qualität. Bis jetzt bewegten wir uns im Raum der Meinungen und Ansichten. Da steht es jedem frei, zu denken, was er will, und gerade die muslimische Welt bot und bietet ja auch immer wieder Anlass, den Islam skeptisch zu sehen. Aber das Recht blieb in Deutschland und weiten Teilen Europas das Bollwerk gegen einen Absolutismus der Mehrheit. Darum müssen Minderheiten in dem Augenblick nervös werden, in dem sie vom Recht nicht mehr gegen die Urteile und Vorurteile der Mehrheit geschützt werden. Das ist jetzt Deutschlands Minarettverbot – allerdings mit viel weitreichenderen praktischen und symbolischen Folgen, falls das Urteil Bestand haben sollte.
Quelle: frankfurter rundschau