Was sagt Ihr zu Günter Grass und seinem Gedicht?
06.04.2012 um 16:58
und Fleischhauer vom Spiegel:
So macht man das also. Man schreibt sich mal alles von der Seele, was man schon immer gegen Israel sagen wollte, aber nach eigenem Bekenntnis bislang nicht zu sagen wagte. Dann nennt man das ganze Gedicht und schickt es in die Welt hinaus. Für den Dichter gilt bekanntlich eine Unschuldsvermutung, die der Pamphletist nicht für sich beanspruchen kann. Was im Mantel der Kunst daherkommt, genießt Kritikschutz; wer trotzdem etwas dagegen sagt, ist ein Banause oder, schlimmer noch, ein Intellektuellenfeind.
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Das Spiel mit der Kulturkapuze betreibt Günter Grass schon seit 50 Jahren. Wo immer er die Gelegenheit sah, sich mit erhobenem Zeigefinger politisch in Szene zu setzen, war er dabei - gegen das Böse (Strauß, die Treuhand, den Kapitalismus) und für alles Gute und Wahre (die SPD, den Freiheitskampf in Nicaragua, den SC Freiburg). Dabei brachte es Grass zu einer wahren Meisterschaft in der Kunst, mit großem Aplomb Türen aufzustoßen, die längst sperrangelweit offenstanden.
Das ist jetzt nicht anders. Wer die ersten Reaktionen auf seinen Ausfall gegen Israel liest, könnte meinen, diesmal habe er sich ins Abseits geschrieben. Aber man soll sich nicht täuschen: In der Welt, in der Grass ein Großer ist, gilt nicht die Abrechnung mit dem Judenstaat als anstößig, sondern das Bekenntnis zu ihm, jedenfalls dann, wenn außer Worten auch Waffen folgen sollen. Nur sagt man es nicht so deutlich wie der Mann aus Lübeck. Das ist, wenn man so will, die Tabuverletzung, die ihm jetzt so viel indigniertes Kopfschütteln in den Medien einträgt (und deutliche Zustimmung in den Leserforen).
Worum geht es dem Nobelpreisträger mit seinem als Gedicht getarnten Pamphlet? Grass sagt, ihn treibe die Sorge um den Weltfrieden, die Stimme zu erheben. Klar, was auch sonst: Die brennende Sorge um Frieden und Gerechtigkeit gehört zur Etikette der politisch bewegten Intelligenz, darunter macht es der engagierte Künstler nicht. Aber diese Begründung ist Mummenschanz. Mit dem Weltfrieden hat der Schriftsteller etwa so viel am Hut wie der Aktivist mit der Lyrik.
Grass besetzt die Täterrolle neu
Grass will "mit letzter Tinte" noch einmal Recht behalten, aus ganz persönlichen Gründen. Er gehört zu einer Generation von Männern, die es nie verwunden haben, dass sie am Beginn ihrer Karriere auf der falschen Seite standen. Man kann das verstehen: Ein Engagement bei der Waffen-SS ist normalerweise kein guter Anfang, um sich anschließend eine Existenz als wandelndes Weltgewissen aufzubauen. Wenn ich mich als 15-Jähriger freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hätte, wäre ich anschließend vermutlich ein bisschen gehemmt, den Überlebenden von damals heute wieder den Marsch zu blasen. Aber das ist genau das Problem: Selbstbescheidung war noch nie Grass' Sache, seine Königsdisziplin ist die Rechthaberei.
Auf der Rechten hat man versucht, ins moralische Plus zu kommen, indem man die eigenen Verbrechen verkleinerte. Auf der Linken ist man den umgekehrten Weg gegangen. Statt die eigenen Untaten zu leugnen, hat man sie ausgestellt und sich so eine Unbedenklichkeitsbescheinigung in eigener Sache besorgt. Man kann es auch anders sagen: Wir Deutsche haben unsere Lektion aus dem Holocaust gelernt, wird Zeit, dass die Juden das auch tun.
Schritt zwei bei dieser Umschuldungsaktion ist die Neubesetzung der Täterrolle. Es braucht ziemlich viel Phantasie, um Iran zum Opfer israelischer Vernichtungspläne zu machen, aber diese Verdrehungen gehorchen einer vertrackten Logik. Wenn die Juden die eigentlichen Aggressoren sind, dann wiegt die eigene Schuld nicht mehr so groß. Erst diese Moralverschiebung erlaubt es, wieder mit gutem Gewissen durch die Welt zu wackeln und andere Mores zu lehren.
Mit zunehmendem Alter wächst nicht nur der Starrsinn, sondern auch der Hang zur Schuldverrechnung. Es ist noch nicht lange her, dass sich Grass zu einem merkwürdigen Holocaust-Vergleich verstieg, indem er den sechs Millionen ermordeten Juden sechs Millionen tote Landser zur Seite stellte. Jetzt wissen wir, dass dieses Rechenexempel kein Versehen war, sondern wohl eher das, was man einen Lapsus des Unbewussten nennt. Es rumort in dem alten Mann, da geht es ihm wie Martin Walser, dem anderen selbstgekrönten Tabuverletzter unter den deutschen Großliteraten.
Was kommt als Nächstes?
Der Unterschied zwischen beiden ist (außer der schriftstellerischen Qualität): Mit Walser ist die feuilletonistische Öffentlichkeit immer scharf ins Gericht gegangen, bei Grass hingegen erstarrte sie noch vor dem größten Unsinn in huldvoller Verneigung. Die "Süddeutsche", die das Gedicht des greisen Autoren in Deutschland präsentierte, kündigte den Ausfall auf der ersten Seite mit einem großen Foto an, so als sei ein Stück Weltweisheit vom Himmel gefallen. Kein Kommentar der Chefredaktion, kein einordnender Text, das wurde erst heute nachgeholt. "La Repubblica", die andere Veröffentlichungsplattform, war da nicht so vornehm: Die Italiener stellten zu dem Text einen Kasten, in dem sie mit Kritik nicht sparten.
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Nun wird man wieder das Argument hören, dass man ja wohl noch Israel kritisieren dürfe. Aber das ist nicht der Punkt. Nicht die Kritik gibt zum Nachdenken über die Gemütslage der Kritiker Anlass, sondern die obsessive Beschäftigung mit diesem Teil der Welt, diese besondere Erregungsbereitschaft, mit der alle Überlegungen vorgetragen werden. Es gibt viele Gefährdungen des Weltfriedens. Kaum ein Konflikt ist nach Einschätzung westlicher Geheimdienste für die Weltgemeinschaft so bedrohlich wie der zwischen Pakistan und Indien, doch in der öffentlichen Wahrnehmung spielt der religiös angefachte Hass zwischen den beiden Atommächten kaum eine Rolle.
Man darf gespannt sein, was als Nächstes kommt. Naheliegend wäre jetzt eine Ballade über das Leiden des palästinensischen Volkes. Oder eine Ode an Ahmadinedschad, den missverstandenen "Maulhelden" aus Teheran. Der Autor könnte sich auch der Frage widmen, wie Henryk Broder vorzeitig von der Sache Wind bekommen hat, das wäre dann ein Beitrag zum Kapitel jüdische Weltverschwörung. Das nächste Mal reimt sich das abgelieferte Gedicht vielleicht auch, dann kann man es besser als Lyrik erkennen.
Ein Anfang ist leicht gemacht: "Ich spazierte durch den Gaza-Streifen / und sah so viele brennende Autoreifen." Grass wird sicher noch etwas einfallen. Wer ihn kennt, kann sich nicht vorstellen, dass dies sein letztes Wort gewesen sein sollte