Tiger-Staat - Anatolien im rasanten Aufschwung
01.11.2010 um 15:10Rasantes Wachstum macht Türkei zum "Tiger-Staat"
Das Land am Bosporus wird oft als rückständig gesehen. Experten sprechen dagegen schon vom "Anatolischen Tiger".
Von Boris Kálnoky
Wenn Deutsche sich die Türkei vorstellen, dann ergibt sich oft ein gemischtes Bild aus anatolischen Dörfern, Billigurlaub und einer einzigen relativ modernen Stadt, nämlich Istanbul. Wenn Ökonomen über die Türkei nachdenken, dann entsteht ein anderes Panorama: das eines neuen Wirtschaftsriesen am Scharnier zwischen Europa, Asien und Afrika.
Nur China wächst ähnlich rasant: 10,3 Prozent legte die Wirtschaft im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr zu, im ersten Quartal waren es gar 11,7 Prozent und saisonbereinigt 3,7 Prozent vom ersten zum zweiten Quartal – eine erstaunliche Zahl. Zugegeben, davor hatte die Krise auch die Türkei ins Schleudern gebracht, und erst jetzt hat die Industrieproduktion wieder den Stand von 2008 erreicht. Aber dies ohne Konjunkturpaket oder Hilfe vom Weltwährungsfonds.
Die offiziell 50.000 Dollar-Millionäre des Landes hat die Krise wenig berührt (Diplomaten meinen, dass es sehr viel mehr Millionäre geben muss, die sich aber der Steuerbehörde ungern zu erkennen geben). Türkische Unternehmen exportieren und investieren überall in der Welt, mit einer eindrucksvollen Dynamik im Geschäftsgebaren, die deutsche Wettbewerber zuweilen eher fußlahm erscheinen lässt. Die größten Architektur-Büros beispielsweise warten nicht, bis irgendwo ein Großprojekt zu vergeben ist. Sie selbst laden Regierungsdelegationen nach Istanbul, zeigen, was sie können, wie gut, schnell und preiswert sie sind, und geben damit selbst den Anstoß für Projekte, die ihnen dann zufallen.
Ausblick auf die Weltwirtschaft
Aber der türkische Wirtschaftsboom lebt nicht nur vom Export. Weit davon entfernt, die anatolischen Ziegenhirten zu sein, wie mancher Deutsche sie sieht, stellen die rund 70 Millionen Bürger des Landes einen rapide wachsenden Binnenmarkt dar. Sie haben Vertrauen in ihre finanzielle Zukunft und nehmen seit Januar Monat für Monat mehr Kredite auf.
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Paradoxerweise sind es genau die zentralanatolischen Türken – im Westen so oft als rückständig betrachtet –, die die Basis für einen Aufschwung schufen, der seit Jahren anhält. „Anatolische Tiger“ nennt man diese konservativen, frommen Geschäftsleute, die klein anfingen, oft in der Textil- oder Lebensmittelbranche, dann expandierten und heute große Holdings betreiben. Teilweise stecken religiöse Bewegungen wie Milli Görüs oder der Naksibendi-Orden dahinter, in Moscheen wird Geld von Klein-„Investoren“ kassiert: Mit diesem Geld expandieren die Unternehmen dann. Aber längst sind die größten von ihnen über diese Ursprünge hinausgewachsen.
Die neuen islamischen Wirtschaftseliten prägen auch die Politik, sie sind das Rückgrat der Regierungspartei AKP. Und die hat mit ihrer Öffnung nach Osten – visumfreiem Verkehr nach Nahost, Afrika und Russland – Märkte erschlossen, zusätzlich zur EU, die immer noch der wichtigste Handelspartner ist. Die Türkei ist aber längst nicht mehr ein wirtschaftliches Anhängsel Europas, sondern ein erwachender Riese.
Das Land am Bosporus wird oft als rückständig gesehen. Experten sprechen dagegen schon vom "Anatolischen Tiger".
Von Boris Kálnoky
Wenn Deutsche sich die Türkei vorstellen, dann ergibt sich oft ein gemischtes Bild aus anatolischen Dörfern, Billigurlaub und einer einzigen relativ modernen Stadt, nämlich Istanbul. Wenn Ökonomen über die Türkei nachdenken, dann entsteht ein anderes Panorama: das eines neuen Wirtschaftsriesen am Scharnier zwischen Europa, Asien und Afrika.
Nur China wächst ähnlich rasant: 10,3 Prozent legte die Wirtschaft im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr zu, im ersten Quartal waren es gar 11,7 Prozent und saisonbereinigt 3,7 Prozent vom ersten zum zweiten Quartal – eine erstaunliche Zahl. Zugegeben, davor hatte die Krise auch die Türkei ins Schleudern gebracht, und erst jetzt hat die Industrieproduktion wieder den Stand von 2008 erreicht. Aber dies ohne Konjunkturpaket oder Hilfe vom Weltwährungsfonds.
Die offiziell 50.000 Dollar-Millionäre des Landes hat die Krise wenig berührt (Diplomaten meinen, dass es sehr viel mehr Millionäre geben muss, die sich aber der Steuerbehörde ungern zu erkennen geben). Türkische Unternehmen exportieren und investieren überall in der Welt, mit einer eindrucksvollen Dynamik im Geschäftsgebaren, die deutsche Wettbewerber zuweilen eher fußlahm erscheinen lässt. Die größten Architektur-Büros beispielsweise warten nicht, bis irgendwo ein Großprojekt zu vergeben ist. Sie selbst laden Regierungsdelegationen nach Istanbul, zeigen, was sie können, wie gut, schnell und preiswert sie sind, und geben damit selbst den Anstoß für Projekte, die ihnen dann zufallen.
Ausblick auf die Weltwirtschaft
Um so viel Prozent soll die Wirtschaft in den kommenden Jahren wachsen...(Prognose der Weltbank)So geht es in allen Bereichen der Exportindustrie: Ein führender türkischer Hersteller von Heizkörpern ließ dieses Jahr Delegationen aus allen Ländern Ost- und Südosteuropas auf eigene Kosten einfliegen, um ihnen die Vorzüge seiner Produkte vor Augen zu führen, in Preis und Qualität. Das Wirtschaftswunder ist nur zur Hälfte ein Ergebnis billiger Arbeitskraft und gut gebildeter Fach- und Führungskräfte. Es ist auch ein Erfolg offensiver Geschäftsanbahnung, weit über herkömmliches Marketing hinaus.
Ganze Welt
2008: 1,7 Prozent
2009*: - 2,1 Prozent
2010**: 3,1 Prozent
2011**: 2,9 Prozent
2012**: 3,2 Prozent
OECD-Länder
2008: 0,3 Prozent
2009*: - 3,4 Prozent
2010**: 2,0 Prozent
2011**: 1,9 Prozent
2012**: 2,1 Prozent
Eurozone
2008: 0,4 Prozent
2009*: - 4,1 Prozent
2010**: 0,5 Prozent
2011**: 0,9 Prozent
2012**: 1,5 Prozent
Japan
2008: -1,2 Prozent
2009*: - 5,2 Prozent
2010**: 2,2 Prozent
2011**: 1,4 Prozent
2012**: 1,5 Prozent
USA
2008: 0,4 Prozent
2009*: - 2,4 Prozent
2010**: 3,0 Prozent
2011**: 2,3 Prozent
2012**: 2,5 Prozent
Nicht OECD-Länder
2008: 3,0 Prozent
2009*: - 1,7 Prozent
2010**: 4,1 Prozent
2011**: 4,4 Prozent
2012**: 4,4 Prozent
Ostasien und Pazifik
2008: 8,5 Prozent
2009*: 7,1 Prozent
2010**: 8,6 Prozent
2011**: 7,5 Prozent
2012**: 7,4 Prozent
Lateinamerika und Karibik
2008: 4,1 Prozent
2009*: - 2,3 Prozent
2010**: 4,4 Prozent
2011**: 3,9 Prozent
2012**: 4,0 Prozent
Mittler Osten und Nordafrika
2008: 4,2 Prozent
2009*: 3,2 Prozent
2010**: 4,0 Prozent
2011**: 4,2 Prozent
2012**: 4,4 Prozent
Quelle: Weltbank, * Schätzung, ** Prognose, Stand 06.2010
Aber der türkische Wirtschaftsboom lebt nicht nur vom Export. Weit davon entfernt, die anatolischen Ziegenhirten zu sein, wie mancher Deutsche sie sieht, stellen die rund 70 Millionen Bürger des Landes einen rapide wachsenden Binnenmarkt dar. Sie haben Vertrauen in ihre finanzielle Zukunft und nehmen seit Januar Monat für Monat mehr Kredite auf.
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Paradoxerweise sind es genau die zentralanatolischen Türken – im Westen so oft als rückständig betrachtet –, die die Basis für einen Aufschwung schufen, der seit Jahren anhält. „Anatolische Tiger“ nennt man diese konservativen, frommen Geschäftsleute, die klein anfingen, oft in der Textil- oder Lebensmittelbranche, dann expandierten und heute große Holdings betreiben. Teilweise stecken religiöse Bewegungen wie Milli Görüs oder der Naksibendi-Orden dahinter, in Moscheen wird Geld von Klein-„Investoren“ kassiert: Mit diesem Geld expandieren die Unternehmen dann. Aber längst sind die größten von ihnen über diese Ursprünge hinausgewachsen.
Die neuen islamischen Wirtschaftseliten prägen auch die Politik, sie sind das Rückgrat der Regierungspartei AKP. Und die hat mit ihrer Öffnung nach Osten – visumfreiem Verkehr nach Nahost, Afrika und Russland – Märkte erschlossen, zusätzlich zur EU, die immer noch der wichtigste Handelspartner ist. Die Türkei ist aber längst nicht mehr ein wirtschaftliches Anhängsel Europas, sondern ein erwachender Riese.