@derDULoriginal25.11.96
Aus FOCUS Nr. 48 (1996)
Folter im Kinderheim?
In zwei katholischen St.-Josefs-Stiften sollen Behinderte und Kinder mißhandelt worden sein
Von FOCUS-Redakteurin Katrin Sachse
Ich habe Angst. Wenn ich den Mund aufmache, bekommt es mein Kind zu spüren.“ Die Frau ist verzweifelt: Sie glaubt, daß ihre Tochter im St. Josefs-Stift in Eisingen mißhandelt wurde, will aber nichts erzählen, weil ihr Kind „dann wieder gequält wird“.
Den Mund macht ein Vater auf: Bernd Ullrich berichtet von brutalen Erziehungsmethoden, die die Behinderten der Gruppe 132 ertragen mußten. Sie seien geschlagen und getreten worden, mit Bügeleisen verbrannt, auf den Lattenrost gefesselt, wurden eiskalt oder brühendheiß geduscht oder in den fensterlosen „Kerker“ gesperrt. All das sollen einige der katholischen Erzieher getan haben, um Widerspenstige gefügig, Langsame schneller und Temperamentvolle ruhiger zu machen.
Die schaurigen Geschichten entstammen nicht den Phantasien pubertierender Jugendlicher. Im St.-Josefs-Stift existierten sogenannte Gruppennormen, die diese „Mittel“ empfahlen. Und als Beweis ihrer Grausamkeiten notierten die Erzieher in einem Buch, wer gerade von trockenem Brot oder Zwieback leben mußte und wer nichts zu trinken bekam.
„Ohrfeigen kommen vor“, entschuldigte sich Sprecherin Claudia Beck im Pro-Sieben-Magazin „Taff“. Aber die Erwachsenen begnügten sich nicht damit, Behinderte zu ohrfeigen: Es wird berichtet, daß sich eine Mitarbeiterin des Stifts in einem Fachgeschäft erkundigt haben soll, wo man ein Elektroschockgerät kaufen könne.
Und die Heimleitung? In den vergangenen Wochen änderten die Verantwortlichen ihre Taktik so oft wie der Wind seine Richtung. Obwohl sogar ein Gutachten der Kölner Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich davon ausgeht, daß die Heimleitung von den Mißhandlungen gewußt haben muß, schimpft Geschäftsführer Niko R. Anfang Oktober: „kriminelle Machenschaften“ und „Kampagnen“. Trotzdem trennt sich das Haus von Diakon Bernd I. und drei Erziehern.
Den besorgten Eltern versicherte die Leitung aber weiterhin, ihren Kindern sei „nichts geschehen“. In einem Brief an Bernd Ullrich vom 15. November „bedauert“ Heimleiter Werner F. dann „zutiefst“, daß auch Till „kein Essen mehr bekommen hat“. Auf Nachfrage von FOCUS will Roth „nichts mehr sagen“, weil alles „sehr schwierig“ sei.
Schwierig ist es auch für die Eltern: Bernd Ullrich, dessen autistischer Sohn neun Jahre im Stift gelebt hat und bei 1,82 Metern Größe gerade noch 55 Kilogramm wog, an Neurodermitis litt und „nicht mehr lachte“, hat für den 22jährigen nun eine andere Einrichtung gefunden. Und er hat gegen vier Betreuer und gegen die Verantwortlichen Anzeige erstattet.
Die Staatsanwaltschaft in Würzburg ermittelt nicht zum erstenmal gegen das Eisinger Stift. Ein ehemaliger Bademeister wurde wegen sexuellen Mißbrauchs zu einer Haftstrafe von acht Monaten auf Bewährung verurteilt, außerdem liegen sechs rechtskräftige Strafbefehle vor.
Eisingen ist kein Einzelfall. Auch in Darmstadt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ein katholisches Kinderheim, das St. Josefshaus in Groß-Zimmern. Und auch hier berichten Eltern, Jugendliche und der Buchautor Alexander Markus Homes von Erziehungsmethoden, die nichts mit christlicher Nächstenliebe zu tun haben.
„Schlimmer als im Zuchthaus“ sei es dort gewesen, erzählt Beate Monaco, deren beide Söhne im Alter von sieben und acht Jahren in einer externen Familiengruppe gelebt haben. Christopher und Sacha seien oft mit blauen Flecken, Blutergüssen, aufgeplatzten Lippen, dicken Knien und kahlen Stellen am Kopf nach Hause gekommen. Und der schlimmste Vorwurf: Das Erzieher-Ehepaar V., das unter den Kindern besonders gefürchtet war, habe die Jungen sexuell mißbraucht.
„Christopher und Sacha sind verändert, sie sind keine Kinder mehr“, sagt die 31jährige Mutter. Sie fühle sich „betrogen und belogen“ und wünsche sich, daß die Verantwortlichen „endlich zur Rechenschaft gezogen werden“.
Den Stein ins Rollen gebracht haben vier Mitarbeiterinnen, die diese Zustände „nicht mehr ausgehalten haben“. Sie wendeten sich zuerst an die Heimleitung und dann an Günter Emig, Domkapitular im Bistum Mainz – es geschah nichts, bis sich zwei Jahre später das Landesjugendamt und schließlich die Staatsanwaltschaft einschalteten.
Der katholische Träger versuchte, den Ärger geräuschlos aus der Welt zu schaffen. Die Beschuldigten wurden abgelöst – und gut versorgt: Heimleiter Eckhard K. soll an einem wissenschaftlichen Institut der Kirche arbeiten, sein Stellvertreter Peter A. hat vom Bistum einen neuen Vertrag erhalten und baut einen Betreuungsverein im Odenwaldkreis für den Caritasverband auf, und das Ehepaar V. lebt in Montabaur.
„Wie schön alles ist und wie gut die Jugendlichen leben“ – nur darüber möchte Domkapitular Günter Emig heute noch sprechen, denn der Stift kämpft zum zweitenmal gegen negative Schlagzeilen: Bereits 1977 war der damalige Heimleiter Heinrich P. angeklagt worden: wegen Körperverletzung.