@schmitz schmitz schrieb: Dann sagen wir es so, ohne cosmopolitischen Denken, funktioniert eine multikulturelle Gesellschaft nicht!
(
Das deutsche Volk selbst geht an sich kaputt. (Seite 10) )
Würde denn eine multikulturelle Gesellschaft überhaupt funktionieren? Und ich bitte jetzt nicht das üblich geprägte sozialromantische Bild von vielen, friedlich miteinander lebenden Menschen verschiedener Kulturen im Kopf zu haben, sondern möchte auf die Probleme aufmerksam machen, die bei einer Gesellschaftsform des
Multikulturalismusauftreten. Prämisse ist also die soziologisch beschriebene Form des Multikulturalismus und dies ist nämlich exakt die Gesellschaftsform, die von politischen Befürwortern befürwortet wird, ohne dabei die Widersprüchlichkeiten des multikulturellen Denkens zu erwähnen, denn dies ist eigentlich auch nicht mehr als die Fortsetzung des Kulturrelativismus (nur diesmal mit anderen Mitteln).
Jahrelang war die Vorstellung der Idee einer multikulturellen Gesellschaft so tonangebend, dass es schon fast als selbstverständlich galt, diese Form des Zusammenlebens befürworten zu müssen. Abweichler wurden geradezu wie Ketzer gejagt und politisch demontiert. Doch zum Glück ist mittlerweile eine Änderung der Denkrichtung feststellbar und nach mehr als 10 Jahren diktierter Debatte entfernt man sich in der westlichen Welt wieder von diesen Lehransätzen. Die in Gang gekommene Bewegung betont nun wieder die geteilte Staatsbürgerschaft.
Wenn mit Multikulturalismus suggeriert werden soll, dass die Gesellschaft durch den Ein¬fluss der weltweiten Migration bunter wird, dann lässt sich dagegen ersteinmal nicht viel sagen. Es scheint allgemein akzeptiert zu sein, dass eine solche Gesellschaft Raum schaffen muss, indem sie zum Beispiel die Vorschriften über das Bestattungswesen anpasst oder Gebetsräume eröffnet, um etwa die religiösen Rituale von Hindus oder Muslimen zu ermöglichen. Auch die Anerkennung religiöser Feiertage kann als ein Entgegenkommen betrachtet werden.
Doch auch jenseits der Betonung des Pluralismus, der im Prin¬zip jede offene Gesellschaft kennzeichnet, und jenseits der prakti¬schen Anpassungen, die neuen Religionen und Lebensstilen Raum geben wollen, hat sich ein weiterführender Gedanke entwickelt. Es geht um die Vorstellung, dass eine Gesellschaft aus mehr oder weniger selbstständigen kulturellen Gemeinschaften gebildet wird, die in vielerlei Bereichen wie Rechtsprechung, Bildungswesen und Arbeitsmarkt unabhängig voneinander behandelt werden sollten.
Ein Einwand gegen diese Herangehensweise ist zunächst die Art, wie Menschen im Namen des kulturellen Pluralismus in ethnische Kategorien gedrängt werden. Auf Basis der Vorstellung einer „
Inte¬gration unter Beibehaltung der eigenen Identität “ wurde eine Form des Respekts praktiziert, die die Menschen in ihrer Freiheit, ihrem Leben selbst einen Rahmen zu geben, beeinträchtigt hat. Letztend¬lich führte dies dazu, dass ein Brauch wie Ehrenmord jahrelang ignoriert wurde, obwohl es zahlreiche Opfern gegeben hat. Dem Konservatismus von Gruppenkulturen muss die Idee einer offenen Gesellschaft entgegengesetzt werden, in der
alle Traditionen kritisch hinterfragt werden. In diesem Sinne ist der Multikulturalismus vor allem eine „
Philosophie der ersten Generation“; ein Denkmuster, das zur Vermeidung gehört und das jetzt für eine Phase in der Immi¬grationsgeschichte Platz macht, bei der der Konflikt im Vordergrund steht und wir nach einer neuen
Akkomodation suchen.
Hier können wir auch gerne eine schöne Redensart Gandhis zitieren, mit welcher er sich schon sehr früh gegen das gewehrt hatte, was er als
die Vivisektion einer Nation
bezeichnet hat; das heißt, die Einteilung einer Gesellschaft in kultu¬relle und religiöse Einheiten. Er fragt sich, woher die Idee kommen mag, dass das Nebeneinander verschiedener Kulturen einen fried¬lichen Charakter haben soll. Wo die gemeinschaftliche Grundlage fehlt, da gibt es auch keinen friedlichen Austausch, sondern man verwickelt sich in permanente Missverständnisse oder Schlimmeres. Verschiedenheit gehört grundsätzlich zu einer offenen Gesellschaft, aber ohne ein gemeinsames Minimum kann eine solche Gesellschaft nicht produktiv sein, weder in wirtschaftlicher noch in demokrati¬scher Hinsicht.
Ein weiteres Problem des Multikulturalismus ist, dass die Moder¬nität als gemeinsamer Erfahrungshorizont unterschätzt wird. Es ist nicht etwa so, dass alle kulturellen Äußerungen in eine postindus¬trielle Gemeinschaft passen. Insbesondere in einer Dienstleistungsge¬sellschaft sind kognitive und soziale Fähigkeiten von großer Wichtig¬keit, und es wird stärker nach sozial-kulturellem Kapital ausgewählt.
Eine moderne Gesellschaft braucht mobile, gut ausgebildete Arbeitskräfte mit Sprachkenntnissen, einem standardisierten Unterricht in einer gemeinsamen Sprache und noch viel mehr. Um eine modernere Wirtschaft zu ermöglichen, benötigt die Gesellschaft einen gewissen kulturellen Zusammenhalt.
Auch die Umverteilung, die einige Sozialsysteme vornehmen, ist ohne eine gewisse Verbundenheit nicht möglich. „
Die Solidarität, die vom Wohlfahrtsstaat gefordert wird, braucht Bürger mit einem starken Bewusstsein der gemein¬schaftlichen Identität“. In manchen Kreisen werden na¬tionale Grenzen oft als Mittel des Ausschlusses angesehen, doch ihre produktive Seite wird selten hervorgehoben: Die Geschichte des li¬beralen Nationalstaates ist zugleich eine Geschichte der Sozialrechte und der kulturellen Emanzipation.
Die Geschichte der Migration zeigt, dass Überlebensstrategien in dem einen Umfeld funktionieren, dies aber in einem anderen Umfeld nicht mehr tun. Wir brauchen uns zum Beispiel nur das Modell der Großfamilie anzusehen, die in einem System ohne soziale Sicherheit unentbehrlich ist. In einer solchen Umgebung sind viele Kinder die einzige Garantie für eine Versorgung im Alter. Aber in der moder¬nen Gesellschaft sind Familien, in denen drei Generationen zusam¬menwohnen, ein aussterbendes Modell. Zudem sind die Familien der zweiten Generation im Durchschnitt viel kleiner als die ihrer Eltern und unterscheiden sich in der Größe nicht mehr stark von einheimischen Familien. Dadurch ergibt sich eine veränderte Fami¬lienstruktur. Wir sehen, dass der Multikulturalismus nicht nur in normativer Hinsicht ziemliche Schwächen aufweist, sondern auch keine gute Beschreibung von Integrationsprozessen über die Gene¬rationen hinweg liefert.
Ein anderer Einwand betrifft die vielleicht merkwürdigste Seite des Multikulturalismus, nämlich die, dass der Kultur kein Erklärungs¬wert zuerkannt wird. Da alle Kulturen gleichwertig sind, können sie folglich keine Unterschiede in sozial-ökonomischer Hinsicht oder bei der Verbrechensrate zwischen den ethnischen Gruppen er¬klären. Analysen, bei denen von Klassenunterschieden die Rede ist, sind hingegen sehr populär.
Der Multikulturalismus zelebriert geradezu den kulturellen Unterschied und tabuisiert gleichzeitig die Auseinandersetzung mit diesem Unterschied. Es gibt noch weitere Beispiele für kulturelle Präferenzen, die nicht zu Klassenunterschieden heruntergespielt werden können und die durchaus Einfluss auf die Rückständigkeit von Menschen haben. Schließlich steht jedem frei, was er oder sie von einem kulturellen Erbe übernehmen will und was nicht, aber es ist deutlich, dass die Migranten durch die Gewohnheiten und Bräuche ihres Herkunfts¬landes geprägt sind. Sie verändern sich in der neuen Umgebung, auch wenn dies oft langsam geschieht, doch ihre Traditionen haben zum Beispiel Einfluss auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten ih¬rer Töchter.
Ein weiterer Einwand ist, dass der Multikulturalismus Gesell¬schaften von ihrer Geschichte abschneidet. Aus der Perspektive der Neuankömmlinge ist diese Denkweise wie gesagt - sie werden schließlich dazu angehalten, ihre Traditionen zu pflegen -, als kon¬servativ zu bewerten, doch aus der Sicht der Etablierten bringt er eine einschneidende Veränderung mit sich, denn von ihnen wird schließlich erwartet, dass sie gängige Bräuche ablegen. Der Multi¬kulturalismus formuliert keinerlei Verpflichtung gegenüber dem, was über viele Generationen hinweg mit großer Anstrengung zu¬stande gebracht wurde. Er nimmt dieses Erbe nicht nur stillschwei¬gend in Empfang, sondern zugleich verwirft diese Denkrichtung jegliche Vorstellung von historischer Kontinuität, weil sie darin eine Methode sieht, Migranten und ihre Kinder auszuschließen. Diese seien nämlich kein Teil dieser Geschichte und könnten sich deshalb auch nicht damit identifizieren.
Damit würden wir dann auch zu dem Problem kommen, dass viele (und diese können hier durchaus explizit genannt werden) türkische Eltern der Ansicht „
Warum müssen unsere türkischen Kinder in der Schule etwas über die deutsche Besatzungs- und Kriegszeit erfahren?“ sind. Doch weshalb sollten wir Kindern, deren Eltern in einem anatolischen Dorf geboren wurden nicht die Möglichkeit geben, dieses wichtige Kapitel unserer Geschichte ken¬nenzulernen, und ihnen damit auch zu ermöglichen, Einfluss darauf zu nehmen, wie die Erinnerung gelebt wird? Noch einen Schritt wei¬ter, und wir sehen, wie das Abstreiten einer kollektiven Erinnerung, von der auch Einwanderer Teil werden können, mit dem Widerwil¬len orthodoxer Muslime zusammengeht, die der Meinung sind, dass man ihre Kinder in der Schule nicht mit Unterricht über die Juden¬verfolgung belästigen solle.
Es fängt also mit der aufgeklärten Form des Multikulturalismus an und endet mit einer Form der Selbstzensur.Ein weiterer Einwand lautet, dass der Multikulturalismus zu ei¬nem nicht wünschenswerten Rechtspluralismus führt. Davon ist die Rede, falls auf Basis der Anerkennung der Gleichwertigkeit der Kulturen „
distinkten“ Gemeinschaften als solchen das Recht ein¬geräumt wird, aus eigener Gewalt und nach eigenem Gesetz zu leben, wenn ihre Rechtsauffassung vom herrschenden Rechtsden¬ken abweicht. Diese Betrachtungsweise ist alles andere als unpro¬blematisch: Was ist eigentlich eine „
distinkte“ Gemeinschaft, welche Ansprüche werden an sie gestellt, sind die Gruppenrechte bindend für diejenigen, von denen man annimmt, dass sie zu dieser Gruppe zählen oder darf jeder für sich selbst entscheiden, ob er oder sie zu dieser Gruppe gezählt wird?
An dieser Stelle sollte man den Versuch erwähnen, die Scharia-Gesetzgebung in das kanadische Rechtssystem mit aufzunehmen.
Das ist eine konsequente Anwendung des Multikulturalismus : Denn weshalb sollten Muslime Probleme wie Ehescheidung nicht durch Vermittlung im eigenen Kreis lösen können? Diese Idee hatte man in Ontario, mit allen entsprechenden problematischen Folgen, denn wer beschützt dann noch die Position der Frau innerhalb der islami¬schen Gemeinschaft? Und wer garantiert, dass die betroffenen Ehe¬paare freiwillig einem solchen Verfahren zustimmen?
Und auch hierzulande beobachten wir vergleichbare Kontroversen. So sorgte ein Gerichtsurteil für heftige Diskussionen. Mit dem Argu¬ment, im „
marokkanischen Kulturkreis“ sei eheliche Gewalt nichts Besonderes, lehnte eine Frankfurter Richterin eine vorzeitige Scheidung ab, die von einer Deutschen marokkanischer Herkunft bean¬tragt worden war, die von ihrem marokkanischen Ehemann miss¬handelt worden war. Die Richterin berief sich bei ihrer Entscheidung auf die Sure 4,43 des Koran und meinte, sie gebe islamischen Män¬nern das Recht, ihre ungehorsamen Frauen zu schlagen. Neda Kelek kommentierte, die Richterin übernehme exakt die Argumentation der traditionellen Muslime, die sagten, es gebe ein Innen und ein Außen, der Innenbereich, das Private, das Verhältnis zur Frau sei et¬was, in das sich der deutsche Staat nicht einmischen dürfe, wo nach islamischem Recht gelebt werde. Und solche Beispiele lassen sich mittlerweile zahllos weiterführen, denn immer mehr, immer direkter und zuweilen auch mit aggressiver Polemik wird versucht, hier die eingeführten kulturellen Bräuche anwenden zu können, auch wenn dies gegen die mehrheitliche Werte- und Rechtsauffassung verstößt.
Inzwischen haben sich die Ver¬hältnisse geändert, und man reagiert weniger nachsichtig auf solche Plädoyers für eine „
marokkanischen Kulturkreis“.
Zusammengefasst liegt die größte Schwäche der Idee einer multi¬kulturellen Gesellschaft darin, dass sie eine konservative Idee ist, was bereits an der Formulierung „
Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität“ ablesbar ist. Es ist vielsagend, dass diese For¬mulierung einmal im Hinblick auf eine Rückkehr der Migranten ein¬geführt wurde. Unterricht in der eigenen Sprache und Kultur hielt man für sinnvoll, um dafür zu sorgen, dass die Kinder sich nicht von ihrem Herkunftsland lösten und dann bei einer Rückkehr gro¬ßen Anpassungsproblemen ausgesetzt wären. Die Migranten blie¬ben, aber die Vorstellung der „
Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität“ auch. So werden Migranten zu einer Diaspora gemacht, die sich über Jahre hinweg an dem orientiert, was sie zu¬rückgelassen hat.
Diese Betrachtungsweise unterschätzt nicht nur die Veränderung, die durch den Wechsel von der einen Gesellschaft zur anderen hervorgerufen wird, sondern sie versagt auch in normativer Hinsicht, weil sie nicht wahrnimmt, dass gemeinsame Normen in einer modernen Wirtschaft und Demokratie gebraucht werden, um auf produktive Weise konkurrieren und Konflikte lösen zu können.
Wenn es keine gemeinsamen gesetzlichen Normen gibt, keine gemeinsamen Feiertage, keine allgemeinen Normen für den Schulerfolg, keine Chancengleichheit bei Bewerbungen und keine gemeinsame Geschichte, dann schrumpft der Raum für sinnvolle Meinungsverschiedenheiten, und es wächst der Raum für Missverständnisse.