Rudi Dutschke und die 68er
05.10.2008 um 18:18
Die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse der BRD schlicht und einfach als präfaschistische Restauration hinzustellen greift doch viel zu kurz. Dieser Eindruck speiste sich aus der reaktionären Ideologie von familiären Werten und christlichem Abendland, drückte sich aus in den Reden eines Innenminister Wuermeling, den Heimatfilmen und der Sontagspredigt. Diese Bigotterie war aber immer vollkommen durchsichtig und ist als Reaktionsbildung auf die tatsächlich stattfindenden Veränderungen in Nachkriegsdeutschland zu erklären.
Schuld daran ist der rasende Anstieg des sozialen und ökonomischen Entwicklungstempos (besser bekannt als: Vervierfachung), die Wachstumsgeschwindigkeit der industriellen Nettoproduktion verdoppelte sich ab 1950, gemessen an den Steigerungsraten der '30 Jahre. Um ein Beispiel zu nennen: 1950 lebte man in Frankreich auf dem Niveau von etwa 1900 mit einer Stromleistung von einem Ampere pro Wohnung. Schon 1965 besaß die breite Masse Kühlschrank, Radio und ein Auto (1953 besaßen dies nur acht Prozent der Lohnempfämger; 1967 bereits fünfzig). Das trifft auf das in viel stärkerem Ausmaß industrialisierte West-Deutschland umso mehr zu. (Zahlen nach: Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001, S. 71)
Das ist aber nicht alles: traditionelle ländliche wie städtische Milieus lösten sich im Zeitraffertempo auf, die Quote der Frauenarbeit und die Zahl der Angestellten ungefähr gleichen Schrittes. Die bemannte Raumfahrt begann, die Pille wurde eingeführt, das Fernseh- und Massentourismuszeitalter bildete sich heraus. Die veralteten Familienstrukturen befanden sich in rascher Auflösung, die Geschlechterbeziehungen und -definitionen erlebten den tiefgreifendsten Umbruch in der Neuzeit.
In den USA stand die Bürgerrechtsbewegung bereits 1962/63 auf ihrem Höhepunkt, ihre Großdemonstrationen in Washington wurden von Joan Baez und Bob Dylan musikalisch umrahmt. Ein Zeichen dafür, das sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch die völlig neumodische Popkultur aus den Fesseln einer bloßen Teenie-Musik löste. Das strahlte natürlich aus, vor allem nach Deutschland, aber auch nach Japan. Ende der '50er Jahre traten dort immer mehr proletarische "Halbstarke" als Pseudo-Intellektuelle mit progressiver Attitüde auf.
Es war also von Beginn an falsch von der "Restauration" oder der "restaurativen Adenauer-Republik" zu reden, um damit sinnvoll über das "Fortleben des Faschismus in der Demokratie " (Adorno) zu diskutieren. Es ging den selbsterkorenen Subversiven von Anfang an darum, sich gegenseitig das zu versichern, was eben .nicht der Fall war: das man nämlich immer an die (gescheiterten) Kämpfe und Konzepte der Weimarer Zeit und davor anknüpfen könne. Wenn nicht an die dann halt an die der Dritten Welt. Schließlich bedürfte es in beiderlei Fällen nur noch eine "bewußte Avantgarde", die man natürlich zuallererst in sich selbst erblickte, um die große "Manipulation" zu enthüllen, die die ja faktisch unleugbare Einbindung der Arbeiterklasse und der "fortschrittlichen Volkskräfte" (späteres ML-Jargon) gewährleistete.
Dabei hätte es ihnen selbst verdächtig wahnhaft vorkommen müssen, der "Manipulation" und der aus ihr folgenden "psychischen Verelendung" eine so allumfassende Erklärungsmacht zuzusprechen und daraus mit nur innerer Konsequenz zu folgern, dass die neuen amerikanischen Zerstreuungen ureigentliche Instrumente der "latent" mit dem "offenen Faschismus" anbandelnden alten Eliten wären. Eine verschobene Wahrnehmung, zu der auch sicherlich die besonderen wirtschaftlichen, sozialen und vor allem auch massenpsychologischen Bedingungen der Frontstadt Berlin, also dem Zentrum der "Antiautoritären", beitrugen. Diese Bedingungen - die ja bis heute fortleben - fasst einer, der dabei war, besser zusammen als jeder beschädigte Alt-Autonome, der mehr noch als die "Zaungäste der Revolte" (Reinhard Mohr), vom Gnadenbrot der "Revolution" zehrt. "Besonders die Frontstadt wurde zu einem Hochdruckkessel und Laboratorium aller Dissidenzen, soziologisch genährt vom Zustrom der 'Abhauer' aus Ost und West, die auf eine hysterisierte, überalterte, sozial-stationäre Population proletarisch-kleinbürgerlicher 'Dableiber' trafen." (Koenen) Daraus ergab sich jene besondere Ausgangslage für die 67/68 fast zur Raserei gesteigerten Abneigungskampagnen beider unvermittelter Lager. Erst in dieser Situation konnten die Zeitungsprodukte aus dem Hause Springer ihre unrühmliche Rolle spielen.
Man kann heute davon ausgehen das diese hysterische Atmosphäre Westberlins ihren Anteil an den beiden schwerwiegenden Geburtsfehlern der deutschen Marx-Renaissance hatte. An deren Anfang stehen nämlich zwei große Verwechslungen (neben dem Restaurationsgequatsche).
1. Die sich zu einer Jugend- und Poprebellion verdichtende rasende gesellschaftliche Veränderung, die einer sozusagen "sozialen Revolution" der Technik, der Umgangsformen, der Lebensweise (bezeichnenderweise hat der Oberrevoluzzer Dutschke diese Neuerungen nie gemocht; sie blieben ihm immer fremd) und der ästhetischen Empfindungen gleichkam, wurde mit einer "politischen" Revolution verwechselt: ob nun mit der eines vergangenen Zeitalters (wofür die Neuauflagen von Bolschewismus und Syndikalismus gelten), oder mit denen eines anderen Gesellschaftstyps, den antikolonialen Erhebungen der Dritten Welt, die nicht eben wenig und auch nicht klammheimlich mit dem Dritten Reich symphatisierten. Vielleicht mehr noch als Arafat oder Pol Pot wurde dann Idi Amin zur personifizierten Absage der schnöden Realität in den '70ern an die Drittweltromantik der '60er.
2. Die Bundesrepublik galt ihnen als ein demokratisch geschminktes, von den "imperialistischen USA" gepäppeltes 3. Reich, das sich im Verbund mit Israel und den USA nicht mehr gegen die Juden richte, sondern mitlerweile gegen die unterdrückten Völker der 3. Welt. Die schrille und überhysterisierte Sprache, die den in der Sache vollkommen berechtigten Vietnamprotest begleitete, verweist auf die trübe Melange aus noch unausgesprochenen deutschen Selbstmitleid, altbekannten Nazi-Projektionen auf die Amerikaner (im Dienste deutscher, ebenfalls unausgesprochener, Schuldabwehr) und veritablen Endkampf-, Volkssturms-, und Vernichtungsphantasien. (1) Mithilfe dieser Melange wurde gerade das als faschistisch denunziert was als einzigen einen Bruch im deutschen Sonderweg darstellt. Damit ist die forcierte Westanbindung Adenauers gemeint, die mit einer bis dato ungekannten öffentlichen Ächtung des Antisemitismus in Deutschland einherging - während man auf "progressiver", "anti-autoritärer" und "subversiver" Seite eben das hofierte, was deutsche Ideologie bis heute kontinuierlich verbürgt: völkischer Kulturdünkel, sinsitrer Verschwörungswahn, angstlüsterne Untergangsphantasien.
(1) Aus dem so legendären wie scheußlichen Flugblatt der Kommune 1, welches eine politische Reaktion auf Adornos Rede im Amerika-Haus darstellen sollte - aber zur Offenbarung wurde: "Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie nichts sagt, wie wir diese Scheiß-Uni anzünden und einige Amerika-Häuser dazu - für jeden Terror-Angriff auf Vietnam eines. Weil er keine 1000 Mark für den Vietcong stiftet - das wären ein Hubschrauber + 18 tote GI's + 10 mit ohne Füßen." Man legte also durchaus den fanantischen Feuereifer und die Leidenschaft für den Kampf an den Tag wie die Nazi-Generation. Nicht aus progressiven Gründen (etwa der Unterstützung des Kampfes des Vietcong für Verstädterung und Verbesserung der Subjektstellung der Frau) unterstützte man die Vietnamesen. Vielmehr fand man sich freudig in einem Stahlbad des Krieges wieder, dem man glücklicherweise selbst noch qua später Geburt entronnen war.