Blickwinkelabhängig
Deutsche Politiker fordern Freilassung von Marco W.
Wiedie Medien am Montag berichteten, überbieten sich derzeit zahlreiche deutsche Politikerin ihren Forderungen und offenen Drohungen gegenüber der Türkei, um so die Freilassungdes dort seit über zwei Monaten inhaftierten deutschen Schülers Marco W. zu erreichen.Marco W. war auf Anzeige der Mutter eines 13 Jahre alten britischen Mädchens hin unterdem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs des Mädchens verhaftet worden.
So hatte derdeutsche Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, am Dienstag die Freilassung des17-Jährigen gefordert, was allerdings prompt durch den türkischen Außenminister AbdullahGül als auch den türkischen Verhandlungsführer bei den Beitrittsgesprächen der Türkei zurEuropäischen Union zurückgewiesen wurde. Man könne und wolle nicht in die Entscheidungender Justiz eingreifen, hieß es.
Der niedersächsische Ministerpräsident ChristianWulff - Marco W. stammt aus Uelzen - schrieb in einem Brief an den türkischenPremierminister Recep Tayyip Erdogan, daß "der Junge zu seinen Eltern nach Hause undnicht ins Gefängnis gehört."
Sehr deutlich war der Vorsitzende der Unionsfraktionim Deutschen Bundestag, Volker Kauder geworden. Seine Aussage "Ich kann der türkischenRegierung nur zurufen: Wenn ihr den jungen Mann nicht freilaßt, dann ist der Weg derTürkei nach Europa noch meilenweit" ist nicht nur eine offene Drohung, erschwerend kommtnoch hinzu, daß es in diplomatischen Kreisen kaum als üblich bezeichnet werden kann, dieGegenseite zu duzen. Da kannes kaum verwundern, daß Oktay Eksi, ein Kolumnist destürkischen Hürriyet, Deutschland in einem Kommentar "Kolonialmentalität"vorwarf.
Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, bezeichneteseinerseits den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs als "absurd". In einem "normalenRechtsstaat" müsse ein solches Verfahren mit einem Freispruch enden, sagte er. "Es istüberhaupt nicht zu erklären, dass der Junge nicht einmal während der Verhandlungszeit aufKaution freikommt", so Beck weiter. Tatsächlich berichtete allerdings die Bild, ihr lägeein ärztliches Gutachten vor, demzufolge am Unterleib des Mädchens Spermaspuren gefundenworden seien. Nach Darstellung der türkischen Behörden war Marco W. auf einem Hotelzimmergegenüber dem Mädchen "zudringlich" geworden, bis dieses um Hilfe gerufen habe, woraufhindie Mutter des Mädchens die Polizei gerufen habe. Marco W. wiederum sagte gegenüber derBild - die den "Fall" auffällig intensiv und eingehend behandelt, während anderen MedienInterviews konsequent verweigert werden - das Mädchen habe ihn "geküßt, angefaßt, da binich zu früh gekommen. Sie hatte mir die Unterhose runtergezogen. Ich habe ihre Vagina garnicht berührt. Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich mit ihr geschlafen. Sie wollte dasauch.“ Außerdem habe sie ihm gesagt, sie sei 15 Jahre alt.
Insbesondere die letzteBehauptung könnte durchaus überzeugend sein, wie ein Blick in eine durchschnittlichedeutsche Disco eindrucksvoll belegt - Schätzungen hinsichtlich des Alters ihrerBesucherinnen dürften insbesondere vor 24:00 Uhr, der Sperrstunde gemäßJugendschutzgesetz, häufig zu hoch ausfallen. Hieraus läßt sich aber keinesfalls KaudersSchluß eines zwingenden Freispruchs ableiten. Tatsächlich spricht das deutscheStrafgesetz hier eine unmißverständliche Sprache.
Paragraph 176, Absatz 1 desdeutschen StGB lautet: "Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren(Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe vonsechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft."
Zweifellos entsprechen dieHaftbedingungen in der Türkei im allgemeinen bei weitem nicht den in Deutschland üblichenStandards und ebenso zweifellos mag über die tatsächliche "Schuld" Marco W.'s diskutiertwerden - bisher ist keine Aussage der 13-Jährigen an die Öffentlichkeitgedrungen.
Was aber auffällt, ist die praktisch bedingungslose Verteidigung des17-Jährigen. Was grundsätzlich zwar als "im Zweifel für den Angeklagten" zu begrüßenwäre, hat denn doch mehr als nur ein bißchen "Gschmäckle".
Was wäre denn, wenn essich um ein 13 Jahre altes deutsches Mädchen handeln würde, dem sich in einem britischenUrlaubsort ein türkischer 17-Jähriger "genähert" hätte? Von vorgeblichen Spermaspuren undHilfeschreien gar nicht zu reden. Der Aufschrei in der Presse angesichts des"Kinderschänders" wäre nur zu vorhersehbar.
Die Frage nach dentatsächlichen Zielen der "Berichterstattung" stellt sich kaum - erst recht nicht, da sieerst kurz vor den Gespräche über den EU-Beitritt der Türkei begann. Die Antwort isteinfach zu naheliegend.
http://www.freace.de/artikel/200706/260607a.html