Das säkulare Establishment verdächtigt die Regierung Erdogan, langfristig einenGottesstaat errichten zu wollen. Jedoch hat der Islamismus in der Türkei keine Chance.Von Michael Thumann
Er ist ein Kämpfer. Tayyip Erdogan, aus kleinenVerhältnissen aufgestiegen bis zum Premierminister der Türkei, musste schon manche Krisein seinem Leben meistern. Diese ist eine seiner härtesten.
Eine politischeIntervention des türkischen Militärs am vorigen Wochenende und ein Spruch desVerfassungsgerichts vom Dienstag hindern ihn daran, seinen Kandidaten für den Posten desPräsidenten mit der Mehrheit des Parlaments wählen zu lassen. Die Wahl seinesAKP-Parteikollegen und derzeitigen Außenministers Abdullah Gül ist trotz der erdrückendenStärke der AKP gescheitert. Erdogan folgt daher der Verfassung: Er lässt vorgezogeneNeuwahlen für diesen Sommer ausschreiben.
Das sieht aus wie eine politischeNiederlage für den Kämpfer, aber ist vielleicht am Ende doch ein Sieg. Denn nach allenUmfragen liegt die konservativ-muslimische Volkspartei AKP weit vor denOppositionsparteien. Die wissen um ihre Schwäche und feilen für den heraufziehendenWahlkampf an zwei Parolen: „Es lebe die Türkei!“ – damit meinen sie sich selbst. Und„Nieder mit den Islamisten!“ - damit meinen sie die Regierung Erdogan. Was ist dran andieser Charakterisierung?
Tayyip Erdogan stammt ohne Zweifel aus demislamistischen Lager der Türkei. Er war früher Aktivist in verschiedenen Bewegungen despolitischen Islams. Er reklamiert für sich, dass das Vergangenheit sei, so wie inDeutschland Joschka Fischer als Außenminister darauf Wert legte, kein FrankfurterSteinewerfer mehr zu sein. Heute führt Erdogan eine Partei, die selbst jede religiöseZuordnung ablehnt und sich einfach und deutlich als konservative Volkspartei bezeichnet.Darf man ihm das glauben?
Legt man sein politisches Handeln als Maßstab an, dannallemal. Erdogan hat in den vergangenen vier Jahren nicht eine klassisch islamistischeForderung in ein Gesetz gegossen. Er hat nicht das laizistische Kopftuchverbot aufhebenlassen. Er hat nicht den Alkohol verbieten lassen. Er hat nicht den Freitag zum Feiertaggemacht. Er hat nicht den laizistischen Charakter der Türkei infragegestellt.
Seine Reformpolitik zielte in andere Richtung, nach Europa. Erdogan hat,anders als die säkularen und linken Regierungen vor ihm, Beitrittsverhandlungen mitEuropa erreicht. Seine Regierung drückte gegen den bisweilen hysterischen Widerstand dersäkularen Opposition viele EU-konforme Gesetze durchs Parlament. Die AKP hat, soweit dasnational-kemalistische Establishment es zuließ, den Kurden im Osten kleine Freiheitenermöglicht, so das Recht, kurdische Namen zu tragen, und Rundfunksendungen auf Kurdischauszustrahlen. Erdogan erfüllt die Auflagen des Internationalen Währungsfonds, erunterwirft sich den EU-Inspektionen zum Test auf Euro-Tauglichkeit. Das sind dieTatsachen.
Es ist schwer, gegen Mutmaßungen zu argumentieren. Aber man kann demsäkularen Establishment der Türkei getrost Gelassenheit empfehlen. Die Ereignisse dervergangenen Woche zeigen, wie groß die Macht der Armee und der laizistischen Justiz trotzder AKP-Parlamentsmehrheit nach wie vor ist. Die Volkspartei AKP wurde innerhalb wenigerTage um ihr verfassungsgemäßes Recht gebracht, mit ihrer Mehrheit einen Präsidenten ihrerWahl zu bestimmen. Das war nicht weniger als ein kalter Putsch. Erdogan kann diekommenden Wahlen ruhig gewinnen. Sein Spielraum wird weiterhin eng bleiben. DerIslamismus in der Türkei, auch wenn er nur in den Albträumen von Richtern und Generälenexistiert, hat keine Chance.
© ZEIT online 3.5.2007 - 07:56 Uhr
Quelle:
http://www.zeit.de/online/2007/18/tu...ismus?page=all--------------------------------------------------------------------------------