Mohamed Jusuf Ali hat keine schwarze Augenklappe und keinen Metallhaken, der aus einem Armstumpf ragt. Der 33-jährige Somalier schaut mit wachen, warmen Augen in die Welt und zeigt erst eine Spur von Zorn, als er auf das Thema angesprochen wird. „Wir haben es satt, dass uns alle Welt als Piraten beschimpft“, ärgert sich der Vater von vier Kindern: „Was sollen wir denn tun, wenn man uns alles nimmt, was wir zum Leben brauchen?“
Das gute Dutzend Fischer am Strand des nordsomalischen Städtchens Eyl macht keinen Hehl daraus, dass sie es waren, die vor Jahren die ersten Schiffe entführten: „Andere haben es später nachgemacht.“ Heute gelten die Gewässer vor der fast 3000 Kilometer langen Küste am Horn von Afrika als die gefährlichsten der Welt: Nachdem im vergangenen Jahr mehr als 40 Kutter und Frachter gekidnappt wurden, rief die Internationale Schifffahrts-Organisation (IMO) Reeder und Kapitäne auf, das Gebiet weiträumig zu umfahren.
Zum Leidwesen der Eyler Fischer hält sich kaum jemand an den Rat. „Nachts sieht das Meer aus wie die Skyline von Manhattan“, sagt Abdirahman Shuke vom Entwicklungs- und Forschungszentrum in der Provinzhauptstadt Garowe: Internationale Trawler dringen Nacht für Nacht in die somalischen Gewässer ein, um die einst reichen Fischgründe zu plündern. Sie seien mit riesigen Schleppnetzen ausgerüstet und trommelten mit schwerem Gerät auf die Korallenbänke ein, um die dort versteckten Hummer aufzuscheuchen: „Weil Somaliaweder über Polizei noch Marine verfügt, können wir den Eindringlingen nichts entgegensetzen“, sagt Shuke.
Vom Angriff auf ihre Lebensgrundlage und schwindenden Fängen aufgeschreckt, gingen die Fischer von Eyl in die Offensive. Sie legten sich Schnellfeuergewehre und Panzerfäuste zu, die im seit 15 Jahren von Bürgerkriegen geplagten Somalia billig zu haben sind, setzten sich in ihre Außenborder-getriebenen Fiberglasboote und machten Jagd auf die Fischtrawler, die vor allem aus Thailand, China oder Russland, aber wohl auch aus Spanien oder Italien kommen. Zunächst hatten die Eyler Piraten leichtes Spiel: Die überrumpelten Trawlerkapitäne ergaben sich, und die Schiffseigner zahlten bis zu 500.000 Dollar Lösegeld – schließlich konnten sie die Kaperungen während der illegalen Fangfahrten nicht an die große Glocke hängen.
Doch inzwischen haben die ausländischen Raubfischer aufgerüstet. Einige Kapitäne heuerten bewaffnete Milizionäre zu ihrem Schutz an, andere statteten sich mit Maschinengewehren oder gar Heißwasserkanonen aus. Für die Eyler Fischer würden die Streifzüge immer gefährlicher, berichtet Mohamed: Zwei seiner Freunde hätten sich schon schwere Verbrühungen zugezogen. „Ich weiß nicht, wie viele unserer Leute bei den Kämpfen auf offener See bereits ums Leben gekommen sind“, sagt Abdisalaam Said Issa, der in Garowe Meeresbiologie unterrichtet: „Immer wieder werden zerstörte Boote an Land geschwemmt, und einmal schnappten sie drei unserer Männer und nahmen sie mit nach Thailand.“
Einer der schlimmsten Feinde der Eyler Fischer ist ausgerechnet ihr Landsmann Hiif Ali Taar – ein reicher Geschäftsmann aus der Hafenstadt Bossaso, der über eine 200 Mann starke Privatarmee und zwei MG-bewehrte Küstenwachboote verfügt. Hiif nutzt das Machtvakuum in seinem Land aus und verkauft eigenmächtig Fanglizenzen an ausländische Fischereiflotten. Seine Schnellboote sorgen dann dafür, dass die Kunden nicht von den heimischen „Seeräubern“ angegriffen werden.
Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen im Chaos des Bürgerkriegs. Ghanim Alnajjar, UN-Experte für die Menschenrechtslage in Somalia, macht keinen Unterschied zwischen den „Warlords zur See“ auf beiden Seiten. Zwar prangert der Kuwaiter die Ausbeutung somalischer Gewässer durch ausländische Fischtrawler an. „Aber viele Somalis arbeiten weiter als Fischer. Wer Schiffe überfällt, wird zum Piraten. Da gibt es keine Entschuldigung.“
Tatsächlich verlegten sich die Männer aus Eyl in ihrer Verzweiflung auf immer weichere Ziele – und haben bereits einen südafrikanischen Stahlfrachter, einen Öltanker aus den Arabischen Emiraten und Getreidefrachter für das UN-Ernährungsprogramm in ihre Gewalt gebracht. Ende 2005 wurde sogar das Kreuzfahrtschiff „Seabourn Spirit“ attackiert, das die Angreifer jedoch mit einer Hightech-Schallkanone in die Flucht schlug. Selbst US-Kriegsschiffe, eigentlich zur Terroristen-Jagd am Horn von Afrika, beteiligen sich inzwischen am Kampf gegen die Piraten: Der Zerstörer „Winston Churchill“ griff zehn somalische Seeleute auf, die erst ins US-Gefangenenlager Guantanamo gebracht werden sollten, nun aber in Kenia auf einen Prozess warten – während ihre heimischen Gewässer weiter geplündert werden.
http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=2684 (Archiv-Version vom 25.12.2011)