Wege in die DDR
16.06.2016 um 15:52Ursula Münch
Dresden - Hamburg und zurück
Mein frühes Zuhause ist das Dresden vom Anfang der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre, und ich würde meine Kindheit als glücklich bezeichnen, obwohl Vater bereits wenige Tage nach meinem fünften Geburtstag starb. Er wurde neununddreißig und sein Erwachsenenleben war - wie das der meisten Gleichaltrigen - vor allem von Fronteinsatz, Verwundung, Hunger und Inflation geprägt. Sonst weiß ich wenig über ihn. Und von seinen vor ihm verstorbenen Eltern und einer Schwester nur, daß sie wie unzählige einfacher Hungerleider im Hinterland der Fronten die letzten Monate des I. Weltkriegs nicht überstanden. Großvater war ein Arme-Leute-Schneider und - wie Frau und Tochter - einer von den geschichtlich Namenlosen, deren Leben und Sterben scheinbar keine Spuren hinterläßt. Sie selbst fügten sich wahrscheinlich noch in das vorgeblich Gottgewollte, aber ihr Geschick mündete im gemeinsamen Schicksal von Abermillionen und führte zu jenem Aufbegehren, das den einfachen Menschen erstmals die hoffnungsvolle Perspektive einer selbstbestimmten, friedlichen Zukunft eröffnen sollte.
Meinem Vater erschien die Berliner Novemberrevolution allerdings als Alptraum, in dem der „Mob“ die Straße beherrschte, den Chargen die Schulterstücke herunterriß und sie in die Gosse warf. Weshalb der sächsische Unteroffizier es vorzog, sie in einem Hausflur selbst abzunehmen und säuberlich zu verwahren. So jedenfalls wurde es den beiden Kindern später überliefert, die solchen Aufruhr nun ebenfalls verabscheuten. Bald danach gehörte Vater zur Schicht jener von Haus aus mittellosen Angestellten, die ehrgeizig an die Spitze und unter die Wohlhabenden drängten. Als er im Jahr 1919 eine Familie gründete, hatte er bereits die erste Sprosse einer Leiter erklommen, die ihn in den Dresdner Prokuristensessel der renommierten Deutsch-Böhmischen Elbschiffahrtsgesellschaft und unmittelbar vor eine Teilhaberschaft mit Direktorenposten in einer ähnlichen Firma führte - bevor ein heimtückisches Blutgerinnsel seinen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg beendete.
Ich behielt ihn als liebevoll, fürsorglich, geduldig und heiter in Erinnerung. Auch bei den Angestellten der Firma und den Flußschiffern sei er wegen seiner herzlichen Art sehr beliebt gewesen, berichtete Mutter. Ich habe ihn viele Jahre tief betrauert. Allerdings wäre ich ohne diesen Verlust vermutlich noch nachhaltiger von konservativen und nationalsozialistischen Ideen beeinflußt worden.
Denn meine frühesten Erinnerungen sehen mich in einem gepflegten Blasewitzer Villenviertel. Die Fünfzimmerwohnung mit Bad und Balkon war gutbürgerlich bis vornehm eingerichtet. Man leistete sich bereits ausgewählte Kleidung, etwas Meißner Porzellan sowie Schmuck, Haushaltshilfe, Urlaub und sogar den kleinen Opel, während „draußen“ die Arbeitslosigkeit Rekordstände erreichte und Hausierer mit ihrem ärmlichen Kram von einer Villa zur anderen schlichen. Für den Fall, daß einer zudringlich werden sollte, hing der „Totschläger“ mit schwerem Bleikopf neben unserer Tür.
Vor allem aber gehörte Vater wie alle früheren Mitglieder seiner Deutschnationalen Partei inzwischen der NSDAP an. Als er einmal mit anderen vor unserem Haus „in Linie antrat“, erlebte ich ihn auch in Uniform. Er hinterließ wenig später ein Paar glänzend braune Paradestiefel und hatte uns Kindern im Jahr zuvor aus dem höchsten Dresdner Bürogebäude den Anblick eines historischen Fackelzuges geboten, dessen eindrucksvolles Flammenmeer ich später nur vom Brand der Dresdner Synagoge und dem Feuersturm des 13. Februar 1945 übertroffen fand.
Als guter Familienvater hatte der Frühverblichene vorgesorgt. Immerhin reichte die an Mutter überwiesene Versicherungssumme zur Anzahlung für ein älteres Mietshaus im Striesener Arbeiterviertel. Dort wohnten in Vorder- und Hinterhaus vierzehn Familien. Wir wurden eine von ihnen, und Jahre später zogen auch Tante und Großmutter mütterlicherseits hier ein. Sie kamen ebenfalls aus einfachen Verhältnissen. Aber der kurz vor meiner Geburt verstorbene Großvater, ein Briefträger, hatte uns interessante Lexika, Atlanten, Stereofotos und Apparate hinterlassen, die seinen Drang nach Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnis bezeugten. Sie waren seinerzeit sicher nicht billig gewesen. Vielleicht hatte Großmutter auch dafür nachts Strohhüte nähen müssen? Der Drang ins Gutbürgerliche und womöglich weiter hinauf beherrschte diese Familie jedenfalls im gleichen Maße wie Millionen anderer deutscher Kleinbürger. Nachdem der hoffnungsvolle Stammhalter 1916 in den Karpaten gefallen war, erlebte Großvater vor seinem eigenen Tod noch die Genugtuung, seine Töchter „gut verheiratet“ zu sehen. Zum Glück blieb ihm die Zukunft verborgen, denn beide waren bereits nach wenigen Jahren Witwen mit zunehmenden Existenzsorgen.
Die mütterlichen Mieteinnahmen betrugen je Wohnung nur zwischen 15 und 25 Mark, und nach Abzug der fälligen Zinszahlung sowie Reparaturkosten blieben oft nur rote Zahlen. Deshalb arbeitete Mutter zur Aufbesserung ihrer schmalen Witwenrente meist halbtags im alten Beruf als Kontoristin. Dadurch ermöglichte sie meinem Bruder und mir den Besuch des Realgymnasiums bzw. der Mittelschule bis zum 16. Lebensjahr sowie gemeinsame Ausflüge, kleine Urlaubsreisen und manch herrlichen Theaterbesuch. Zu unserem Vormund hatte man den letzten männlichen Verwandten bestimmt: Vaters Bruder, der in Hamburg als Angestellter einer Mineralölgesellschaft arbeitete und in Wedel/Holstein wohnte. Wir sahen ihn in zehn Jahren dreimal.
Nach Kinderart hatten wir uns in der neuen Umgebung rasch zurechtgefunden, überließen allerlei Existenzsorgen der Mutter und freuten uns der unkomplizierten Spielkameraden. Wenn Mutter Zeit hatte, saßen wir im Winter gemeinsam bei Karten- oder anderen Spielen im anheimelnd warmen Wohnzimmer und hörten dazu Radio oder Grammophon. Während des Sommers schaute sie gern mit mir aus unserem Fenster im 1. Stock über ihre prächtigen, streng duftenden Geranien hinab auf die Straße. Dort war immer etwas los. Der Eismann schwang seine Glocke, oder unten zuckelte ein Pferdewagen entlang, dessen Kutscher „J-u-n-g-b-i-e-r“ ausrief. Auch Obst oder Gemüse wurde auf langsam vorüberrollenden Tafelwagen feilgeboten. Mindestens ebenso interessant war es, nahe oder entfernte Nachbarn zu beobachten. Da Mutter gutmütig war und außerdem auf Anstand achtete, hielt sich das Lästern in Grenzen. Dennoch lernte ich rasch mit ihren Augen sehen. Und sie blickte trotz unserer bescheidenen Lebensumstände in Kleinbürgermanier auf vermeintlich „noch weiter unten“ angesiedelte Menschen etwas herab. Besonders deutlich wurde das, wenn ein riesiger, rotgesichtiger Kohlenträger schleppenden Schrittes und in gebeugter Haltung nach Altstriesen schlurfte. Dort wohnte er in einer der alten Bauernkaten, die ringsum längst von vierstöckigen Wohnhäusern umgeben waren. Der Mensch hieß Bube. Und da er zum Schneuzen kein Taschentuch, sondern die bloßen Finger benutzte, nannten wir Kinder ihn forsch „Rotzbube“. Aus Mutters überaus nachsichtigem Protest schlossen wir, daß sie den Ausdruck ebenfalls treffend fand. Überdies besaß der Kohlenträger den Ruf, Kommunist gewesen zu sein. Das machte ihn nicht nur zum Schmutzfinken, sondern zu einem bedenklichen Subjekt. Vor Hitlers Machtübernahme hatte Striesen als „rote Hochburg“ gegolten, und die nahegelegene Eckkneipe war ein Kommunistentreff gewesen. Der Gedanke verursachte mir Gruseln, sooft ich dort zu ganz besonderen Anlässen eine Kanne Malzbier holen durfte. Zwei Häuser von uns entfernt wohnte ein weiterer ehemaliger Kommunist. Der kleine Mann war nun Nationalsozialist und wurde ebenfalls verachtet, am meisten wohl wegen seines Gesinnungswechsels. Sogar seine dicke Tochter Sonja bekam unsere Ungnade zu spüren.
Über die allgemeinen Verhaltensregeln hinausgehende Erziehungsinhalte wurden mir zunächst im Kindergottesdienst der evangelischen Kirche und später durch nationalsozialistisch bestimmte Einrichtungen wie Radio, Kino, Zeitung, Jungmädchenbund und Schule vermittelt. Die Nazipropaganda hatte mit unserer kleinen Familie ebenso leichtes Spiel wie mit Millionen anderer deutscher Kleinbürger, zu denen im Geiste auch die meisten Arbeiterfamilien unserer Umgebung gehörten. Denn selbst die sanften Augen meiner Mutter strahlten bei den diversen „Anschlüssen“ fremder Territorien an das herrliche Großdeutsche Reich sowie den späteren „Sondermeldungen“ über versenkte Bruttoregistertonnen und errungene Luftsiege. Wir Kinder befanden uns eigentlich bereits seit der Olympiade von 1936 ohnehin im wachsenden Siegestaumel. Waren wir vorher im sächsischen Elbsandsteingebirge gewandert, durfte man seit der „Befreiung Sudetendeutschlands“ auch die Grenze nach Böhmen passieren, Kren und Buchteln probieren oder bei Falk in Aussig feine Törtchen essen, während es solche Köstlichkeiten daheim schon längst nicht mehr gab. Als Mutter meinen Bruder mittels ärztlichen Attests vom Geländedienst des Jungvolks befreien ließ, war dafür nur die Sorge um seine Gesundheit ausschlaggebend. Man jagte die Pimpfe oft im Laufschritt die steile Plattleite von Loschwitz zum Weißen Hirsch hinauf.
Obwohl ich unsere JM-Führerinnen bewunderte und mir ihr Selbstbewußtsein wünschte, langweilten mich die Heimabende des Jungmädchenbundes sehr, und auch das Marschieren war eigentlich nicht meine Welt. Viel lieber trieb ich Sport im Guts-Muths-Turnverein, der sich irgendwann nicht mehr so nennen durfte. Hier konnte ich meine Schüchternheit vergessen, mich nach Herzenslust austoben und mir die nötige Selbstbestätigung holen. Aber meinen Lieblingsplatz hatte ich in den Zweigen eines herrlichen alten Fliederbaums, dessen schwere, dunkle Blütendolden unser kleines Landstück zwischen den hochragenden Häuserzeilen im Frühsommer in einen duftenden Feengarten verwandelte, über den die Mauersegler dahinjagten. Später entdeckte ich, wie zuvor bereits mein Bruder, die klassische Musik und vor allem das Dresdner Opernhaus für mich. Da der „Kulturring der Hitlerjugend“ unverkäufliche Billets für den Spottpreis von 1,05 Mark abgab - die Plätze waren allerdings danach - wurden manchmal mehrere Opern- oder Konzertabende wöchentlich möglich. Das versetzte mich zunehmend in eine Traumwelt, die ich am liebsten keine Minute verlassen hätte.
Denn allmählich waren die Rückwirkungen des so ruhmreich begonnen Krieges im Alltag spürbar. Wir begannen zu hungern, und auf die „Punktkarte“ für Textilien bekam man so gut wie nichts mehr. Schuhe waren schlimmste Mangelware, selbst die aus Stoff mit Holz drunter. Statt neuer Sohlen nagelte man kleine Gummiflecken drauf. In der Schule wurden Luftschutzübungen mit der ekligen Gasmaske durchgeführt, und auch zu Hause mußten die Dachböden wegen Brandgefahr geräumt und ein Luftschutzkeller eingerichtet werden. Die strenge Verdunkelung machte Flur wie Treppenhaus zu gespenstischen Orten. Und nach dem Verlöschen der Lichter über Elbe und Zwinger klangen meine Opernabende nicht mehr in festlich-heiterer Schönheit, sondern in gruseligem Dunkel aus. Zu Hause empfing mich dann die Mutter oft bereits mit sorgenvoller Miene, weil im Radio „der Wecker tickte“, was den Abend im Luftschutzkeller enden ließ. Immerhin waren auch auf Dresden bereits zwei oder drei Bomben gefallen, und es gab sogar einige Tote. Aber nach dem ersten Schreck machte sich jedesmal alles auf die Beine, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. An Großangriffe wie in Hamburg, Berlin und anderen Städten glaubte niemand. Denn unsere Kunstschätze waren bekanntermaßen unersetzlich, und außerdem behauptete ein Gerücht, daß Churchills Tante auf dem „Weißen Hirsch“ wohne. Unvergeßlich bleibt mir ein Winterkonzert, das mit der Meldung von der deutschen Niederlage vor Stalingrad abgebrochen wurde. Danach begleitete mich das nackte Grauen durch die verdunkelte Stadt. Einige Zeit später schlossen sämtliche Theater und Konzertsäle.
Inzwischen war mein Bruder zur Wehrmacht einberufen worden. Als ich ihn mit Mutter in Chemnitz und Glauchau besuchte, befiel mich unterwegs angesichts furchtbarer Bombenschäden und gefährlicher Luftalarme erneut blankes Entsetzen. Später wurde er zur Flak nach Brüx abkommandiert, und ich mußte während einer Klassenwanderung vom Erzgebirgskamm aus mit ansehen, wie diese in der jenseitigen Ebene liegende tschechische Stadt bombardiert wurde. Der Sohn einer uns bekannten Familie - ein schmucker Matrose und mein heimlich angehimmelter Brieffreund - war in Frankreich als vermißt gemeldet. Manche Klassenkameradin trauerte um Bruder oder Vater. Lehrer wurden zum Wehrdienst einberufen, doch auch die zunehmenden Tagesalarme ließen den Unterrichtsausfall ansteigen. In gleicher Proportion erhöhten sich die Anforderungen an das „Altstoffaufkommen“ der Klasse. Wir gingen von Haus zu Haus und sammelten Papier, Schrott, Spinnstoffe und besonders Knochen, vor denen ich mich ekelte. Denn die meisten stanken schon erbärmlich, oder Suppengrün, andere Speisereste und sogar Maden klebten daran. Da meine Mittelschule in Blasewitz lag, mußte ich an vielen Villentüren klingeln, wo noch immer griffbereite „Totschläger“ hingen und selbst harmlose Schulkinder ungnädig abgespeist wurden.
Trotz erheblichen Wissensdurstes bin ich nie gern zur Schule gegangen. Die ständige Angst, aufgerufen zu werden und antworten, an die Tafel oder gar wettrechnen zu müssen, verursachte mir nächtliche Alpträume. Insgesamt lagen meine Zensuren dennoch stets etwas über dem Klassendurchschnitt, so daß ich gute Aussicht auf eine eventuelle spätere Lehrstelle im Bankgewerbe - so wollte es zumindest Mutter - zu haben schien. Aber das stand in den Sternen, denn zunächst war ein „Pflichtjahr“ in Land- oder Hauswirtschaft für alle Mädchen obligatorisch, während die Jungen meist als Flakhelfer eingezogen wurden. Später warteten auf alle der Reichsarbeitsdienst oder andere Kriegsdienstverpflichtungen. Obwohl nach Lage der Dinge keine von uns wußte, ob wir jemals eine Fremdsprache brauchen würden, paukten wir Englisch nicht ungern. Das lag an unserem Lehrer und zeitweiligen Klassenleiter, dem gleichbleibend überaus wohlgenährt wirkenden Herrn G. Er wurde von der gesamten Mädchenklasse verehrt, weil er sich uns voll zuwandte und keine Langeweile aufkommen ließ. Seinen Umgangston fanden wir erfrischend und auch die Lehrmethoden angenehm unkonventionell. Allerdings geriet der Sprachunterricht bei Herrn G. zur Nebensache, da er uns als Experimentiermasse für sein Erziehungssystem mit nationalsozialistischen Inhalten betrachtete. Erklärtes Ziel war, aus uns arische „Herrinnen“ zu bilden. Dazu forderte er totale Unterordnung durch freiwillige Selbstdisziplin, hielt aber offenbar auch Scheinanleihen bei der parlamentarischen Demokratie für effektvoll. Denn er hatte einige Zeit in England gelebt und ließ uns gern Hydepark-Szenen gestalten, obwohl doch eigentlich auch die englischen „Plutokraten“ unsere Feinde waren. Darüber verlor Herr G. zu meiner stillen Verwunderung kein Wort. Im übrigen war er ein zackiger Nazi, der jederzeit strammes Verhalten wünschte und zu besonderen Anlässen in SA-Uniform erschien. In der NSDAP-Gauleitung hatte er die Funktion des Beauftragten für das Auslandsdeutschtum inne. Obwohl wir von anderen Lehrern in unterschiedlichen Graden ebenfalls mit dem Gift des Juden- und Bolschewistenhasses infiziert wurden, wirkte Herr G. darin führend. Er wurde nach Kriegsende verhaftet und verstarb in einem sowjetischen Lager. Heute gelten auch solche wie er als „unschuldige Opfer des Stalinismus“. Während eines Landheimaufenthaltes schickte er die Klasse auf eine Nachtwanderung und stattete sie mit Knüppeln aus, um eventuell im Wald versteckte Russen niederschlagen zu können. In der Aufregung bemerkten weder ich noch andere das Verschwinden einer Klassenkameradin und tappten beim Ungewissen Schimmer unserer Taschenlampen ängstlich im Gebüsch umher. Aber wir erschraken buchstäblich zu Tode, als die Freundin plötzlich „blutüberströmt“ - von Marmelade - vor einem Dickicht lag. Und wäre uns in dieser Nacht ein Russe oder Pole begegnet, hätte ihn unsere knüppelbewehrte Übermacht gewiß in panischem Entsetzen wie eine gefährliche Bestie erschlagen. Denn daran, daß es sich bei jedem „bolschewistischen Untermenschen“ um eine solche handelte, ließen weder Herr G. noch die allgegenwärtige Nazipropaganda den geringsten Zweifel.
Den gräßlichsten Eindruck behielt ich von einem Plakat zurück, das eine spitzbehelmte Fratze mit blutigem Messer im Mund zeigte. Sie war durch den unheimlichen Sowjetstern hinreichend gekennzeichnet, so daß es nicht des Textes bedurft hätte. Dieses Ungeheuer stand mir vor Augen, sooft ich einen Trupp sowjetischer Kriegsgefangener bemerkte. Von ferne glich er einer schmutzigbraunen Viehherde, und ich machte einen weiten Bogen um ihn.
Bereits Jahre zuvor hatten mich Menschen erschreckt, die den scheußlichen gelben Davidstern trugen und vor Deutschen mit gesenktem Blick beiseite traten. Später sah man keine Juden mehr, und ich vergaß sie - als hätte es sie nie gegeben. Man sagte, daß diese Leute aus Deutschland hinaus- und nach dem Osten gebracht worden seien, wo bei Polen und Russen noch genug Platz war. Ein Klassenbesuch des Veit-Harlan-Films „Jud Süß“ verursachte mir Übelkeit und verstärkte meinen Widerwillen gegen diese Rasse, obwohl - oder auch gerade weil - die Hinrichtungsszene so grauenvoll war. Danach stieß ich mich sogar an einigen abgenutzten Wäschestücken, die über entfernte Bekannte meiner Tante in Mutters Wäscheschrank gelangt waren. Die ausgewanderten Juden hatten solchen Armeleutekram natürlich zurückgelassen.
Nachzudenken begann ich erstmals nach dem Schock, den mir das Ergebnis der schulisch angeordneten Ahnenforschung versetzte. Denn diese förderte nicht nur eine sorbische Abstammung väterlicherseits zutage, sondern mütterlicherseits sogar einen Ahnen namens Moses. Er war offenbar sogar nach Art eines „Wucherjuden“ vermögend gewesen, allerdings im Widerspruch dazu auch christlicher Kirchenvorsteher. Da wir keinen „Deutschstämmigen“ namens Moses kannten, blieb zumindest ein „Verdacht“. Dieser Vorfahre hatte bereits im 18. Jahrhundert gelebt, und die Schule gab sich für den „Ariernachweis“ mit geringeren Zeiträumen zufrieden. So mußte ich die mosaische Kuriosität nicht öffentlich preisgeben. Aber sie führte mich doch zu gewissen Überlegungen.
Eigentlich dachte ich sonst eher zu viel als zu wenig über „Gott und die Welt“ nach - nur eben meist auf dem scheinbar für Ewigkeiten gegründeten Fundament der allgegenwärtigen Nazi-Ideologie. Von der Kirchenlehre - wenn auch noch nicht von Gott - hatte ich mich als Zwölfjährige eines Tages auf dem Heimweg von der Schule verabschiedet, während ich über die vom Religionslehrer behauptete „Schuld“ des Menschengeschlechts nachgrübelte. Mir schien dies auf einmal abwegig, da der Allmächtige uns schließlich mit allen Fehlern und Mängeln selbst erschaffen hatte, obwohl es ihm ein Leichtes sein mußte, seine Geschöpfe so zu bilden, wie es für ihn und uns gut war. Danach sah ich im Religionsunterricht nur noch eine mäßige Märchenstunde und beschloß, nicht an der Konfirmation teilzunehmen. Allerdings entzog meine Tante solchem Rebellentum erfolgreich den Boden, indem sie den Wegfall der ersehnten Geschenke androhte. Sie war es auch, die ihren Schimpfereien über meinen „Dickschädel“ durch Hinzufügung des Beiwortes „wendisch“ nun verletzende Schärfe verlieh und sich auch bei anderer Gelegenheit über die „altbekannte“ und von den Nazis besonders propagierte Faulheit und Heimtücke der Slawen ausließ.
Meine Grübeleien über diese Probleme verliefen zwiespältig und hielten bis Kriegsende an. Einerseits akzeptierte ich Tantes Urteil in Bezug auf meine Person nicht einmal annähernd, und für meinen vergötterten Vater traf sogar das ganze Gegenteil zu. Unsere gemeinsamen Ahnen konnten dann wohl auch nicht so schlecht gewesen sein. Aber die Wenden gehörten tatsächlich zu den Slawen und waren mit den Polen und Russen verwandt, bei denen es sich zweifellos um schmutzig-liederliche und noch dazu jüdisch-bolschewistisch verseuchte Völker handelte.
Andererseits - was hieß das schon: Pole? Im Haus wohnte Herr R. - ein ordentlicher, fleißiger, ruhiger Arbeiter. Mir schien er der sympathischste aller Mieter, und seine Kinder ähnelten ihm. Aber nach Mutters Auskunft war Herr R. Pole gewesen, bevor er Deutscher wurde. Und wieso gab es überhaupt Rassen und Nationen? Die Slawen waren immerhin weiß und wohl sogar irgendwie Arier. Gefährlicher für die Reinheit unserer Rasse schienen außer den Juden vor allem Schwarze, Gelbe und Rote - obwohl der Hauptheld meines Lieblingsschriftstellers eine „edle“ Rothaut war und selbst unter Weißen seinesgleichen suchte. Am Ende ergab sich die alte, nur abgewandelte Frage: Wenn Gott ein allgemeines Völkergemisch wollte, weshalb hatte er dann Rassen geschaffen? Nein, zweifellos sollte jeder Mensch in seinen rassisch-völkischen Grenzen bleiben.
Forts. s. u.
Dresden - Hamburg und zurück
Mein frühes Zuhause ist das Dresden vom Anfang der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre, und ich würde meine Kindheit als glücklich bezeichnen, obwohl Vater bereits wenige Tage nach meinem fünften Geburtstag starb. Er wurde neununddreißig und sein Erwachsenenleben war - wie das der meisten Gleichaltrigen - vor allem von Fronteinsatz, Verwundung, Hunger und Inflation geprägt. Sonst weiß ich wenig über ihn. Und von seinen vor ihm verstorbenen Eltern und einer Schwester nur, daß sie wie unzählige einfacher Hungerleider im Hinterland der Fronten die letzten Monate des I. Weltkriegs nicht überstanden. Großvater war ein Arme-Leute-Schneider und - wie Frau und Tochter - einer von den geschichtlich Namenlosen, deren Leben und Sterben scheinbar keine Spuren hinterläßt. Sie selbst fügten sich wahrscheinlich noch in das vorgeblich Gottgewollte, aber ihr Geschick mündete im gemeinsamen Schicksal von Abermillionen und führte zu jenem Aufbegehren, das den einfachen Menschen erstmals die hoffnungsvolle Perspektive einer selbstbestimmten, friedlichen Zukunft eröffnen sollte.
Meinem Vater erschien die Berliner Novemberrevolution allerdings als Alptraum, in dem der „Mob“ die Straße beherrschte, den Chargen die Schulterstücke herunterriß und sie in die Gosse warf. Weshalb der sächsische Unteroffizier es vorzog, sie in einem Hausflur selbst abzunehmen und säuberlich zu verwahren. So jedenfalls wurde es den beiden Kindern später überliefert, die solchen Aufruhr nun ebenfalls verabscheuten. Bald danach gehörte Vater zur Schicht jener von Haus aus mittellosen Angestellten, die ehrgeizig an die Spitze und unter die Wohlhabenden drängten. Als er im Jahr 1919 eine Familie gründete, hatte er bereits die erste Sprosse einer Leiter erklommen, die ihn in den Dresdner Prokuristensessel der renommierten Deutsch-Böhmischen Elbschiffahrtsgesellschaft und unmittelbar vor eine Teilhaberschaft mit Direktorenposten in einer ähnlichen Firma führte - bevor ein heimtückisches Blutgerinnsel seinen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg beendete.
Ich behielt ihn als liebevoll, fürsorglich, geduldig und heiter in Erinnerung. Auch bei den Angestellten der Firma und den Flußschiffern sei er wegen seiner herzlichen Art sehr beliebt gewesen, berichtete Mutter. Ich habe ihn viele Jahre tief betrauert. Allerdings wäre ich ohne diesen Verlust vermutlich noch nachhaltiger von konservativen und nationalsozialistischen Ideen beeinflußt worden.
Denn meine frühesten Erinnerungen sehen mich in einem gepflegten Blasewitzer Villenviertel. Die Fünfzimmerwohnung mit Bad und Balkon war gutbürgerlich bis vornehm eingerichtet. Man leistete sich bereits ausgewählte Kleidung, etwas Meißner Porzellan sowie Schmuck, Haushaltshilfe, Urlaub und sogar den kleinen Opel, während „draußen“ die Arbeitslosigkeit Rekordstände erreichte und Hausierer mit ihrem ärmlichen Kram von einer Villa zur anderen schlichen. Für den Fall, daß einer zudringlich werden sollte, hing der „Totschläger“ mit schwerem Bleikopf neben unserer Tür.
Vor allem aber gehörte Vater wie alle früheren Mitglieder seiner Deutschnationalen Partei inzwischen der NSDAP an. Als er einmal mit anderen vor unserem Haus „in Linie antrat“, erlebte ich ihn auch in Uniform. Er hinterließ wenig später ein Paar glänzend braune Paradestiefel und hatte uns Kindern im Jahr zuvor aus dem höchsten Dresdner Bürogebäude den Anblick eines historischen Fackelzuges geboten, dessen eindrucksvolles Flammenmeer ich später nur vom Brand der Dresdner Synagoge und dem Feuersturm des 13. Februar 1945 übertroffen fand.
Als guter Familienvater hatte der Frühverblichene vorgesorgt. Immerhin reichte die an Mutter überwiesene Versicherungssumme zur Anzahlung für ein älteres Mietshaus im Striesener Arbeiterviertel. Dort wohnten in Vorder- und Hinterhaus vierzehn Familien. Wir wurden eine von ihnen, und Jahre später zogen auch Tante und Großmutter mütterlicherseits hier ein. Sie kamen ebenfalls aus einfachen Verhältnissen. Aber der kurz vor meiner Geburt verstorbene Großvater, ein Briefträger, hatte uns interessante Lexika, Atlanten, Stereofotos und Apparate hinterlassen, die seinen Drang nach Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnis bezeugten. Sie waren seinerzeit sicher nicht billig gewesen. Vielleicht hatte Großmutter auch dafür nachts Strohhüte nähen müssen? Der Drang ins Gutbürgerliche und womöglich weiter hinauf beherrschte diese Familie jedenfalls im gleichen Maße wie Millionen anderer deutscher Kleinbürger. Nachdem der hoffnungsvolle Stammhalter 1916 in den Karpaten gefallen war, erlebte Großvater vor seinem eigenen Tod noch die Genugtuung, seine Töchter „gut verheiratet“ zu sehen. Zum Glück blieb ihm die Zukunft verborgen, denn beide waren bereits nach wenigen Jahren Witwen mit zunehmenden Existenzsorgen.
Die mütterlichen Mieteinnahmen betrugen je Wohnung nur zwischen 15 und 25 Mark, und nach Abzug der fälligen Zinszahlung sowie Reparaturkosten blieben oft nur rote Zahlen. Deshalb arbeitete Mutter zur Aufbesserung ihrer schmalen Witwenrente meist halbtags im alten Beruf als Kontoristin. Dadurch ermöglichte sie meinem Bruder und mir den Besuch des Realgymnasiums bzw. der Mittelschule bis zum 16. Lebensjahr sowie gemeinsame Ausflüge, kleine Urlaubsreisen und manch herrlichen Theaterbesuch. Zu unserem Vormund hatte man den letzten männlichen Verwandten bestimmt: Vaters Bruder, der in Hamburg als Angestellter einer Mineralölgesellschaft arbeitete und in Wedel/Holstein wohnte. Wir sahen ihn in zehn Jahren dreimal.
Nach Kinderart hatten wir uns in der neuen Umgebung rasch zurechtgefunden, überließen allerlei Existenzsorgen der Mutter und freuten uns der unkomplizierten Spielkameraden. Wenn Mutter Zeit hatte, saßen wir im Winter gemeinsam bei Karten- oder anderen Spielen im anheimelnd warmen Wohnzimmer und hörten dazu Radio oder Grammophon. Während des Sommers schaute sie gern mit mir aus unserem Fenster im 1. Stock über ihre prächtigen, streng duftenden Geranien hinab auf die Straße. Dort war immer etwas los. Der Eismann schwang seine Glocke, oder unten zuckelte ein Pferdewagen entlang, dessen Kutscher „J-u-n-g-b-i-e-r“ ausrief. Auch Obst oder Gemüse wurde auf langsam vorüberrollenden Tafelwagen feilgeboten. Mindestens ebenso interessant war es, nahe oder entfernte Nachbarn zu beobachten. Da Mutter gutmütig war und außerdem auf Anstand achtete, hielt sich das Lästern in Grenzen. Dennoch lernte ich rasch mit ihren Augen sehen. Und sie blickte trotz unserer bescheidenen Lebensumstände in Kleinbürgermanier auf vermeintlich „noch weiter unten“ angesiedelte Menschen etwas herab. Besonders deutlich wurde das, wenn ein riesiger, rotgesichtiger Kohlenträger schleppenden Schrittes und in gebeugter Haltung nach Altstriesen schlurfte. Dort wohnte er in einer der alten Bauernkaten, die ringsum längst von vierstöckigen Wohnhäusern umgeben waren. Der Mensch hieß Bube. Und da er zum Schneuzen kein Taschentuch, sondern die bloßen Finger benutzte, nannten wir Kinder ihn forsch „Rotzbube“. Aus Mutters überaus nachsichtigem Protest schlossen wir, daß sie den Ausdruck ebenfalls treffend fand. Überdies besaß der Kohlenträger den Ruf, Kommunist gewesen zu sein. Das machte ihn nicht nur zum Schmutzfinken, sondern zu einem bedenklichen Subjekt. Vor Hitlers Machtübernahme hatte Striesen als „rote Hochburg“ gegolten, und die nahegelegene Eckkneipe war ein Kommunistentreff gewesen. Der Gedanke verursachte mir Gruseln, sooft ich dort zu ganz besonderen Anlässen eine Kanne Malzbier holen durfte. Zwei Häuser von uns entfernt wohnte ein weiterer ehemaliger Kommunist. Der kleine Mann war nun Nationalsozialist und wurde ebenfalls verachtet, am meisten wohl wegen seines Gesinnungswechsels. Sogar seine dicke Tochter Sonja bekam unsere Ungnade zu spüren.
Über die allgemeinen Verhaltensregeln hinausgehende Erziehungsinhalte wurden mir zunächst im Kindergottesdienst der evangelischen Kirche und später durch nationalsozialistisch bestimmte Einrichtungen wie Radio, Kino, Zeitung, Jungmädchenbund und Schule vermittelt. Die Nazipropaganda hatte mit unserer kleinen Familie ebenso leichtes Spiel wie mit Millionen anderer deutscher Kleinbürger, zu denen im Geiste auch die meisten Arbeiterfamilien unserer Umgebung gehörten. Denn selbst die sanften Augen meiner Mutter strahlten bei den diversen „Anschlüssen“ fremder Territorien an das herrliche Großdeutsche Reich sowie den späteren „Sondermeldungen“ über versenkte Bruttoregistertonnen und errungene Luftsiege. Wir Kinder befanden uns eigentlich bereits seit der Olympiade von 1936 ohnehin im wachsenden Siegestaumel. Waren wir vorher im sächsischen Elbsandsteingebirge gewandert, durfte man seit der „Befreiung Sudetendeutschlands“ auch die Grenze nach Böhmen passieren, Kren und Buchteln probieren oder bei Falk in Aussig feine Törtchen essen, während es solche Köstlichkeiten daheim schon längst nicht mehr gab. Als Mutter meinen Bruder mittels ärztlichen Attests vom Geländedienst des Jungvolks befreien ließ, war dafür nur die Sorge um seine Gesundheit ausschlaggebend. Man jagte die Pimpfe oft im Laufschritt die steile Plattleite von Loschwitz zum Weißen Hirsch hinauf.
Obwohl ich unsere JM-Führerinnen bewunderte und mir ihr Selbstbewußtsein wünschte, langweilten mich die Heimabende des Jungmädchenbundes sehr, und auch das Marschieren war eigentlich nicht meine Welt. Viel lieber trieb ich Sport im Guts-Muths-Turnverein, der sich irgendwann nicht mehr so nennen durfte. Hier konnte ich meine Schüchternheit vergessen, mich nach Herzenslust austoben und mir die nötige Selbstbestätigung holen. Aber meinen Lieblingsplatz hatte ich in den Zweigen eines herrlichen alten Fliederbaums, dessen schwere, dunkle Blütendolden unser kleines Landstück zwischen den hochragenden Häuserzeilen im Frühsommer in einen duftenden Feengarten verwandelte, über den die Mauersegler dahinjagten. Später entdeckte ich, wie zuvor bereits mein Bruder, die klassische Musik und vor allem das Dresdner Opernhaus für mich. Da der „Kulturring der Hitlerjugend“ unverkäufliche Billets für den Spottpreis von 1,05 Mark abgab - die Plätze waren allerdings danach - wurden manchmal mehrere Opern- oder Konzertabende wöchentlich möglich. Das versetzte mich zunehmend in eine Traumwelt, die ich am liebsten keine Minute verlassen hätte.
Denn allmählich waren die Rückwirkungen des so ruhmreich begonnen Krieges im Alltag spürbar. Wir begannen zu hungern, und auf die „Punktkarte“ für Textilien bekam man so gut wie nichts mehr. Schuhe waren schlimmste Mangelware, selbst die aus Stoff mit Holz drunter. Statt neuer Sohlen nagelte man kleine Gummiflecken drauf. In der Schule wurden Luftschutzübungen mit der ekligen Gasmaske durchgeführt, und auch zu Hause mußten die Dachböden wegen Brandgefahr geräumt und ein Luftschutzkeller eingerichtet werden. Die strenge Verdunkelung machte Flur wie Treppenhaus zu gespenstischen Orten. Und nach dem Verlöschen der Lichter über Elbe und Zwinger klangen meine Opernabende nicht mehr in festlich-heiterer Schönheit, sondern in gruseligem Dunkel aus. Zu Hause empfing mich dann die Mutter oft bereits mit sorgenvoller Miene, weil im Radio „der Wecker tickte“, was den Abend im Luftschutzkeller enden ließ. Immerhin waren auch auf Dresden bereits zwei oder drei Bomben gefallen, und es gab sogar einige Tote. Aber nach dem ersten Schreck machte sich jedesmal alles auf die Beine, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. An Großangriffe wie in Hamburg, Berlin und anderen Städten glaubte niemand. Denn unsere Kunstschätze waren bekanntermaßen unersetzlich, und außerdem behauptete ein Gerücht, daß Churchills Tante auf dem „Weißen Hirsch“ wohne. Unvergeßlich bleibt mir ein Winterkonzert, das mit der Meldung von der deutschen Niederlage vor Stalingrad abgebrochen wurde. Danach begleitete mich das nackte Grauen durch die verdunkelte Stadt. Einige Zeit später schlossen sämtliche Theater und Konzertsäle.
Inzwischen war mein Bruder zur Wehrmacht einberufen worden. Als ich ihn mit Mutter in Chemnitz und Glauchau besuchte, befiel mich unterwegs angesichts furchtbarer Bombenschäden und gefährlicher Luftalarme erneut blankes Entsetzen. Später wurde er zur Flak nach Brüx abkommandiert, und ich mußte während einer Klassenwanderung vom Erzgebirgskamm aus mit ansehen, wie diese in der jenseitigen Ebene liegende tschechische Stadt bombardiert wurde. Der Sohn einer uns bekannten Familie - ein schmucker Matrose und mein heimlich angehimmelter Brieffreund - war in Frankreich als vermißt gemeldet. Manche Klassenkameradin trauerte um Bruder oder Vater. Lehrer wurden zum Wehrdienst einberufen, doch auch die zunehmenden Tagesalarme ließen den Unterrichtsausfall ansteigen. In gleicher Proportion erhöhten sich die Anforderungen an das „Altstoffaufkommen“ der Klasse. Wir gingen von Haus zu Haus und sammelten Papier, Schrott, Spinnstoffe und besonders Knochen, vor denen ich mich ekelte. Denn die meisten stanken schon erbärmlich, oder Suppengrün, andere Speisereste und sogar Maden klebten daran. Da meine Mittelschule in Blasewitz lag, mußte ich an vielen Villentüren klingeln, wo noch immer griffbereite „Totschläger“ hingen und selbst harmlose Schulkinder ungnädig abgespeist wurden.
Trotz erheblichen Wissensdurstes bin ich nie gern zur Schule gegangen. Die ständige Angst, aufgerufen zu werden und antworten, an die Tafel oder gar wettrechnen zu müssen, verursachte mir nächtliche Alpträume. Insgesamt lagen meine Zensuren dennoch stets etwas über dem Klassendurchschnitt, so daß ich gute Aussicht auf eine eventuelle spätere Lehrstelle im Bankgewerbe - so wollte es zumindest Mutter - zu haben schien. Aber das stand in den Sternen, denn zunächst war ein „Pflichtjahr“ in Land- oder Hauswirtschaft für alle Mädchen obligatorisch, während die Jungen meist als Flakhelfer eingezogen wurden. Später warteten auf alle der Reichsarbeitsdienst oder andere Kriegsdienstverpflichtungen. Obwohl nach Lage der Dinge keine von uns wußte, ob wir jemals eine Fremdsprache brauchen würden, paukten wir Englisch nicht ungern. Das lag an unserem Lehrer und zeitweiligen Klassenleiter, dem gleichbleibend überaus wohlgenährt wirkenden Herrn G. Er wurde von der gesamten Mädchenklasse verehrt, weil er sich uns voll zuwandte und keine Langeweile aufkommen ließ. Seinen Umgangston fanden wir erfrischend und auch die Lehrmethoden angenehm unkonventionell. Allerdings geriet der Sprachunterricht bei Herrn G. zur Nebensache, da er uns als Experimentiermasse für sein Erziehungssystem mit nationalsozialistischen Inhalten betrachtete. Erklärtes Ziel war, aus uns arische „Herrinnen“ zu bilden. Dazu forderte er totale Unterordnung durch freiwillige Selbstdisziplin, hielt aber offenbar auch Scheinanleihen bei der parlamentarischen Demokratie für effektvoll. Denn er hatte einige Zeit in England gelebt und ließ uns gern Hydepark-Szenen gestalten, obwohl doch eigentlich auch die englischen „Plutokraten“ unsere Feinde waren. Darüber verlor Herr G. zu meiner stillen Verwunderung kein Wort. Im übrigen war er ein zackiger Nazi, der jederzeit strammes Verhalten wünschte und zu besonderen Anlässen in SA-Uniform erschien. In der NSDAP-Gauleitung hatte er die Funktion des Beauftragten für das Auslandsdeutschtum inne. Obwohl wir von anderen Lehrern in unterschiedlichen Graden ebenfalls mit dem Gift des Juden- und Bolschewistenhasses infiziert wurden, wirkte Herr G. darin führend. Er wurde nach Kriegsende verhaftet und verstarb in einem sowjetischen Lager. Heute gelten auch solche wie er als „unschuldige Opfer des Stalinismus“. Während eines Landheimaufenthaltes schickte er die Klasse auf eine Nachtwanderung und stattete sie mit Knüppeln aus, um eventuell im Wald versteckte Russen niederschlagen zu können. In der Aufregung bemerkten weder ich noch andere das Verschwinden einer Klassenkameradin und tappten beim Ungewissen Schimmer unserer Taschenlampen ängstlich im Gebüsch umher. Aber wir erschraken buchstäblich zu Tode, als die Freundin plötzlich „blutüberströmt“ - von Marmelade - vor einem Dickicht lag. Und wäre uns in dieser Nacht ein Russe oder Pole begegnet, hätte ihn unsere knüppelbewehrte Übermacht gewiß in panischem Entsetzen wie eine gefährliche Bestie erschlagen. Denn daran, daß es sich bei jedem „bolschewistischen Untermenschen“ um eine solche handelte, ließen weder Herr G. noch die allgegenwärtige Nazipropaganda den geringsten Zweifel.
Den gräßlichsten Eindruck behielt ich von einem Plakat zurück, das eine spitzbehelmte Fratze mit blutigem Messer im Mund zeigte. Sie war durch den unheimlichen Sowjetstern hinreichend gekennzeichnet, so daß es nicht des Textes bedurft hätte. Dieses Ungeheuer stand mir vor Augen, sooft ich einen Trupp sowjetischer Kriegsgefangener bemerkte. Von ferne glich er einer schmutzigbraunen Viehherde, und ich machte einen weiten Bogen um ihn.
Bereits Jahre zuvor hatten mich Menschen erschreckt, die den scheußlichen gelben Davidstern trugen und vor Deutschen mit gesenktem Blick beiseite traten. Später sah man keine Juden mehr, und ich vergaß sie - als hätte es sie nie gegeben. Man sagte, daß diese Leute aus Deutschland hinaus- und nach dem Osten gebracht worden seien, wo bei Polen und Russen noch genug Platz war. Ein Klassenbesuch des Veit-Harlan-Films „Jud Süß“ verursachte mir Übelkeit und verstärkte meinen Widerwillen gegen diese Rasse, obwohl - oder auch gerade weil - die Hinrichtungsszene so grauenvoll war. Danach stieß ich mich sogar an einigen abgenutzten Wäschestücken, die über entfernte Bekannte meiner Tante in Mutters Wäscheschrank gelangt waren. Die ausgewanderten Juden hatten solchen Armeleutekram natürlich zurückgelassen.
Nachzudenken begann ich erstmals nach dem Schock, den mir das Ergebnis der schulisch angeordneten Ahnenforschung versetzte. Denn diese förderte nicht nur eine sorbische Abstammung väterlicherseits zutage, sondern mütterlicherseits sogar einen Ahnen namens Moses. Er war offenbar sogar nach Art eines „Wucherjuden“ vermögend gewesen, allerdings im Widerspruch dazu auch christlicher Kirchenvorsteher. Da wir keinen „Deutschstämmigen“ namens Moses kannten, blieb zumindest ein „Verdacht“. Dieser Vorfahre hatte bereits im 18. Jahrhundert gelebt, und die Schule gab sich für den „Ariernachweis“ mit geringeren Zeiträumen zufrieden. So mußte ich die mosaische Kuriosität nicht öffentlich preisgeben. Aber sie führte mich doch zu gewissen Überlegungen.
Eigentlich dachte ich sonst eher zu viel als zu wenig über „Gott und die Welt“ nach - nur eben meist auf dem scheinbar für Ewigkeiten gegründeten Fundament der allgegenwärtigen Nazi-Ideologie. Von der Kirchenlehre - wenn auch noch nicht von Gott - hatte ich mich als Zwölfjährige eines Tages auf dem Heimweg von der Schule verabschiedet, während ich über die vom Religionslehrer behauptete „Schuld“ des Menschengeschlechts nachgrübelte. Mir schien dies auf einmal abwegig, da der Allmächtige uns schließlich mit allen Fehlern und Mängeln selbst erschaffen hatte, obwohl es ihm ein Leichtes sein mußte, seine Geschöpfe so zu bilden, wie es für ihn und uns gut war. Danach sah ich im Religionsunterricht nur noch eine mäßige Märchenstunde und beschloß, nicht an der Konfirmation teilzunehmen. Allerdings entzog meine Tante solchem Rebellentum erfolgreich den Boden, indem sie den Wegfall der ersehnten Geschenke androhte. Sie war es auch, die ihren Schimpfereien über meinen „Dickschädel“ durch Hinzufügung des Beiwortes „wendisch“ nun verletzende Schärfe verlieh und sich auch bei anderer Gelegenheit über die „altbekannte“ und von den Nazis besonders propagierte Faulheit und Heimtücke der Slawen ausließ.
Meine Grübeleien über diese Probleme verliefen zwiespältig und hielten bis Kriegsende an. Einerseits akzeptierte ich Tantes Urteil in Bezug auf meine Person nicht einmal annähernd, und für meinen vergötterten Vater traf sogar das ganze Gegenteil zu. Unsere gemeinsamen Ahnen konnten dann wohl auch nicht so schlecht gewesen sein. Aber die Wenden gehörten tatsächlich zu den Slawen und waren mit den Polen und Russen verwandt, bei denen es sich zweifellos um schmutzig-liederliche und noch dazu jüdisch-bolschewistisch verseuchte Völker handelte.
Andererseits - was hieß das schon: Pole? Im Haus wohnte Herr R. - ein ordentlicher, fleißiger, ruhiger Arbeiter. Mir schien er der sympathischste aller Mieter, und seine Kinder ähnelten ihm. Aber nach Mutters Auskunft war Herr R. Pole gewesen, bevor er Deutscher wurde. Und wieso gab es überhaupt Rassen und Nationen? Die Slawen waren immerhin weiß und wohl sogar irgendwie Arier. Gefährlicher für die Reinheit unserer Rasse schienen außer den Juden vor allem Schwarze, Gelbe und Rote - obwohl der Hauptheld meines Lieblingsschriftstellers eine „edle“ Rothaut war und selbst unter Weißen seinesgleichen suchte. Am Ende ergab sich die alte, nur abgewandelte Frage: Wenn Gott ein allgemeines Völkergemisch wollte, weshalb hatte er dann Rassen geschaffen? Nein, zweifellos sollte jeder Mensch in seinen rassisch-völkischen Grenzen bleiben.
Forts. s. u.