Ein recht umfangreicher Bericht zum Prozess von der FAZ
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/prozess-gegen-jackson-arzt-das-schweigen-des-fisches-im-dreckigen-teich-11518713.htmlProzess gegen Jackson-Arzt Das Schweigen des Fisches im dreckigen Teich
Wie viel Schuld trägt der Arzt? Im Prozess um den Tod von Michael Jackson haben die Geschworenen, die jetzt urteilen müssen, es ziemlich schwer.
Von Christiane Heil, Los Angeles
05.11.2011
Als vor sechs Wochen der Prozess gegen Michael Jacksons Hausarzt Conrad Murray vor dem Obersten Bezirksgericht von Los Angeles begann, schien die Lösung des Rätsels um den Tod des „King of Pop“ nur noch eine Frage der Zeit. „Die Wissenschaft wird zeigen, dass Propofol zur Verfügung gestellt und von Michael Jackson genommen wurde, als Murray das Zimmer schon verlassen hatte“, versprach Ed Chernoff, der Verteidiger des wegen fahrlässiger Tötung angeklagten Kardiologen.
Auch Staatsanwalt David Walgren offenbarte den zwölf Geschworenen, sich einzig auf „die Wissenschaft, die reine Wissenschaft“ verlassen zu wollen. „Die Beweise in diesem Fall werden zeigen, dass Michael Jackson sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes in Conrad Murrays Hände legte“, verkündete Walgren während der Eröffnungsrede Ende September. „Dieses in Conrad Murrays Händen schlecht aufgehobene Vertrauen hat Michael Jackson schließlich mit dem Leben bezahlt.“ Dem Obduktionsbericht zufolge starb der „Thriller“-Sänger an einer Überdosis des als besonders stark bekannten Narkotikums Propofol, das Murray ihm wochenlang als Einschlafhilfe verabreichte. Dass der umtriebige Arzt seinem berühmten Patienten auch die Propofol-Ration verabreichte, die den Fünfzigjährigen vor zweieinhalb Jahren tötete, schien auf der Hand zu liegen.
„Michael Jackson könnte es erklären, aber er ist tot“
Wie Walgren nun am Donnerstag in seinem Schlussplädoyer zugeben musste, ließ sich aber auch durch wissenschaftliche Experimente und monatelange Ermittlungen nicht klären, was am Vormittag des 25. Juni 2009 am Carolwood Drive im noblen Stadtteil Holmby Hills geschah. „Die Staatsanwaltschaft kann nicht genau nachweisen, was hinter den geschlossenen Türen passierte. Michael Jackson könnte es erklären, aber er ist tot“, resümierte der Jurist nach der Auswertung von mehr als 300 Beweisstücken und fast 50 Zeugenaussagen ungewöhnlich kleinlaut.
Um Jacksons Tod für die Jury dennoch ins für ihn rechte Licht zu rücken, präsentierte er eine emotionale Fotoreise zwischen Glamour und Elend. Als Walgren eine Aufnahme von der letzten Bühnenprobe des Sängers auf die Leinwand projizierte, bevor er das Bild von Jacksons Kindern Prince, Paris und Blanket bei der Trauerfeier einblendete, kämpfte nicht nur Jacksons Mutter Katherine im vollbesetzten Gerichtssaal mit den Tränen. „Da sie ihren Vater verloren haben, geht der Fall für Michael Jacksons Kinder weiter“, sinnierte Walgren vor den Geschworenen.
17 „ungeheuerliche“ Verstöße
Bei seinen Versuchen, die sieben Männern und fünf Frauen von Murrays Schuld zu überzeugen, war der Staatsanwalt meist wegen seiner bis an Langeweile grenzenden Trockenheit aufgefallen. Um die hohe Konzentration von Propofol in Jacksons Leiche zu erklären, hatte er beispielsweise den amerikanischen Experten Steven Shafer tagelang zu technischen Details wie der Installation eines Tropfs, der Regulierung seiner Fließgeschwindigkeit und Verpackungen von Medikamenten befragt. Während Murray gegenüber der Polizei zugegeben hatte, Jackson 25 Milligramm Propofol verabreicht zu haben, vermutete der Professor der New Yorker Columbia University eine 1000-Milligramm-Dosis. Außerdem hatte der Anästhesist Jacksons Arzt verbal attackiert: „Dr. Murray hat Dr. Murray an erste Stelle gesetzt, nicht Michael Jackson“, griff Shafer dem Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft schon in der dritten Prozesswoche vor.
Murray habe weder konstant die Atmung des Sängers kontrolliert noch sofort den Notarzt alarmiert, als er ihn bewusstlos im Schlafzimmer seiner gemieteten Villa fand. Wie Staatsanwalt Walgren zudem aus Shafers detailverliebten Schilderungen destillierte, soll Murray insgesamt 17 „ungeheuerliche“ Verstöße gegen medizinische Regeln begangen haben, als er Jackson das Propofol in seinem Schlafzimmer und nicht wie üblich in einem Krankenhaus verabreichte. „Vor Michael Jackson wurde noch nie jemand auf diese Weise behandelt. Hier liegt grobe Fahrlässigkeit vor, die der Grund für Michael Jacksons Tod ist“, klagte Walgren. Obwohl auch Murrays Anwälte an den 22 Prozesstagen immer wieder Versäumnisse ihres Mandanten zugegeben hatten, machten sie Jackson selbst für das tödliche Propofol verantwortlich.
Der durch die Proben für die anstehende „This Is It“-Tour ausgelaugte Sänger habe sich das von ihm „Milch“ genannte Narkosemittel eigenhändig gespritzt, als Murray sich kurz von Jacksons Bett entfernte. „Schon in der Eröffnungsrede habe ich gesagt, dass wir uns nicht gegen den Vorwurf der Fahrlässigkeit wehren. Wir haben nie behauptet, dass Dr. Murray keine Fehler begangen hat“, fasste Chernoff am Donnerstag zusammen.
Opfer des Celebrity-Kults
Unter anderem hatten Gesprächsnachweise gezeigt, dass der Arzt mehr als 40 Minuten von Jacksons letzter Stunde am Telefon verbracht hatte. „Aber dies ist keine Anhörung vor der Ärztekammer oder ein Zivilprozess. Hier geht es auch nicht um Geld, sondern um Freiheit“, ermahnte der Anwalt aus dem texanischen Houston die Geschworenen. „Und um ein Verbrechen nachzuweisen, muss belegt werden, dass Dr. Murray Michael Jackson wirklich getötet hat.“
Während die Ankläger versuchten, Jackson nicht als Weltstar, sondern als Familienvater zu präsentieren, stilisierte Chernoff seinen Mandanten während des Schlussplädoyers zum Opfer des Celebrity-Kults. Seinem Verteidiger zufolge hat der achtundfünfzig Jahre alte Arzt die Anklage wegen fahrlässiger Tötung allein der Prominenz seines Patienten zu verdanken. „Die Geschworenen sollen dazu gebracht werden, Dr. Murray für etwas zu verurteilen, was Michael Jackson getan hat. Aber das hier ist keine Realityshow, sondern die Realität“, verkündete Chernoff, während Murray wie üblich mit unbewegter Miene neben ihm saß. „Er ist nur ein kleiner Fisch in einem großen, dreckigen Teich“, meinte der Texaner in Anspielung auf die zahlreichen Verschwörungstheorien um Jacksons Konzertveranstalter AEG und die Spekulationen, dass die Popikone für die geplanten 50 Auftritte in London nach jahrzehntelangem Medikamentenmissbrauch längst zu schwach war.
Verschwörungstheorien per Twitter
Für die Jury scheint das Szenario mit Zügen aus Stevensons Doppelgängernovelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ daher schwerer zu bewerten als bei Prozessbeginn angenommen. Nachdem sich in den vergangenen sechs Wochen vor dem Gericht an der Temple Street neben den Fans des „King of Pop“ auch täglich Murray-Anhänger versammelten, um den umstrittenen Arzt als Wohltäter zu beschreiben, der mittellose Patienten auch ohne Honorar behandelte, ist Murrays Negativ-Image ins Wanken geraten. An die Stelle des verantwortungslosen Mediziners, der Jackson gegen ein Monatshonorar von 150.000 Dollar „gesundspritzte“, rückte Murray als Freund eines einsamen Stars. Wie die Geschworenen zudem in Telefonmitschnitten hörten, schüttete Jackson ihm regelmäßig das Herz aus und beweinte den Verlust der eigenen Kindheit zugunsten des Weltruhms.
Während viele amerikanische Medien nach den Schlussplädoyers schon für Freitag ein Urteil prophezeiten, scheinen sich die zwölf Jury-Mitglieder daher auf längere Beratungen einzustellen. Nur zwei Stunden nachdem sie sich am Freitagmorgen zum ersten Mal an der Temple Street zusammengesetzt hatten, sollen sie mehrere Akten und Beweisstücke angefordert haben. Jacksons Eltern Katherine und Joe zogen derweil aus dem Vorort Calabasas in ein Hotel in der Innenstadt, um die frühestens für Montag erwartete Urteilsverkündung auf keinen Fall zu verpassen. „Mir zittern die Knie. Murray muss seine gerechte Strafe erhalten, damit wir auch die anderen Beteiligten zur Rechenschaft ziehen können“, heizte Michael Jacksons Schwester La Toya unterdessen die Verschwörungstheorien per Twitter an.
Murray, für den ein Schuldspruch vier Jahre Haft und die Aberkennung der Approbation bedeuten könnte, sitzt die Beratungen der Jury dagegen mit scheinbar unerschütterlicher Ruhe aus. Wie er den Reportern bei einem Spaziergang durch den Küstenort Santa Monica zurief, sei er „optimistisch“, die kalifornische Sonne auch künftig als freier Mann zu genießen.