Voller Abscheu betrachtete Natalie den Ring im Boden. Natürlich hatte sie danach gesucht, sie wollte ja schließlich Beweise für ihre Unschuld liefern. Dennoch verursachte der ersehnte Fund einen Stich in ihrem Herzen.
Original anzeigen (1,4 MB) Nun, wo sie endlich ein weiteres dieser Dinger gefunden hatte, wollte sich aber irgendwie kein Triumph einstellen. Stattdessen fühlte sie nur ohnmächtige Wut und Trauer. Alles erinnerte sie mit einem Mal wieder an jenen verhängnisvollen Tag. Selbst die Flecken und Rinnsale, die von vergossenem Blut kündeten. Dies ließ sie kurz innehalten. Was, wenn das hier doch nicht so alt war? Wenn Nathaniel nicht das einzige Opfer war? Mit neuer Emsigkeit begann Nat die nähere Umgebung auszuleuchten und zu untersuchen. Es war immer noch ziemlich dunkel hier, außer ihrer Lampe gab es keine andere Lichtquelle. Was sie sich an die zahlreichen Kerzenreste in den Felsnischen erinnern ließ. Sie wühlte erneut in ihrem Rucksack, bis sie die kleine, wasserdichte Dose mit den Sturmstreichhölzern fand. „Na da wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht etwas Festbeleuchtung bekommen.“ Murmelte sie zu sich selbst und stieg von dem befleckten Opferstein herab. Die meisten der Kerzen und Fackeln waren schon längst runter gebrannt, doch einige Stummeln fanden sich noch, die wenigstens für eine Weile Licht spenden würden. Eifrig riss Nat ein Hölzchen über die Reibefläche das es zischend entflammte, entfachte damit die erste Kerze, nutzte einen weiteren Fackelrest als Anzündhilfe um Streichhölzer zu sparen und schon bald wurde die Kammer in ein schummeriges, flackerndes Leuchten getaucht.
Original anzeigen (0,2 MB) „Immerhin, besser als nur die Lampe.“ Befand sie zufrieden. Ein erneutes Piepsen erinnerte sie an ihr Handy, das dringend geladen werden musste. Photos konnte sie damit im Moment nicht machen, aber dann kam ihr eine Idee. Sie stellte Rucksack und Tasche ab, dann holte sie das Netbook heraus und schaltete es ein. Mit dem Verbindungskabel konnte sie das Mobiltelefon anschließen und somit laden. Zufrieden mit sich selbst und ihrer genialen Idee lächelte sie. Dann richtete sie die Webcam des kleinen Computers auf den Steinring und den Altar aus und schaltete die Record-Funktion ein. So hatte sie wenigsten für den Anfang etwas und sie konnte frei heraus diktieren. Nat griff nochmals in die Tasche und den Rucksack und entnahm ihnen kleine Probenbeutelchen und ein Notizbuch. Die Schreibkladde sah aus wie ein antikes, in Leder gebundenes Büchlein und hatte ihr schon oft gute Dienste geleistet. Dann begann sie mit lauter Stimme alles zu beschreiben, damit es das Netbook aufnehmen konnte. Gleichzeitig fertigte sie grobe Skizzen an und zeichnete diese in das Büchlein, so originalgetreu ihr dies möglich war. Auch versah sie die Bilder mit Notizen. Als sie den Steinring näher untersuchte, fielen ihr mehrere Sachen auf. Der Ring schien eher aus einer Art Metall zu sein und nicht aus Stein. Und er war von diversen Rinnen und Rillen umgeben. Die geradewegs zu dem Altar führten als eine Art Kanal. Auch hier fand sich die Substanz, die an Blut erinnerte. Nat wunderte sich wozu das genutzt werden sollte, dokumentierte aber alles weiter. Dann zückte sie ihr Taschenmesser, schabte einiges ab und verstaute dies vorsichtig in den Probenbeutelchen, die sie auch sogleich nummerierte und beschriftete. Vielleicht konnte Eric ja was arrangieren und das in einem Labor untersuchen lassen, so hoffte sie. Auch hier fanden sich wieder die seltsamen, unbekannten Schriftzeichen. Sowohl an dem Ring, als auch am Altar. Bevor sie diese weiter ansehen konnte, fiel ihr wieder ein leichtes Glitzern auf, diesmal aber hinter dem steinernen Tisch, nicht davor. Neugierig geworden, stand sie auf und lief hin. Es sah irgendwie…schön aus, auch wenn es völlig asymmetrisch zu sein schien. Sie hob die Taschenlampe hoch um mehr sehen zu können. Das ganze hatte die Optik eines Spinnennetzes, auch wenn es irgendwie wie eine Karte aussah und war in die Wand gemeißelt worden. Obwohl es ebenso funkelte wie das Portal, war nichts Metallenes zu erkennen. Nat ging noch näher ran, dann erkannte sie auch hier die seltsamen Schriftzeichen, nur viel kleiner als die anderen. Das ganze erinnerte sie an eine Art U-Bahnnetz, die Linien liefen überall hin und waren an Knotenpunkten verbunden, die von einem Kreis hervorgehoben wurden und ebenso beschriftet waren. Nun verstand sie gar nichts mehr. Das ergab einfach keinen Sinn. So etwas wie eine Bahn gab es hier nicht. Bevor sie sich noch weiter über ihr Unwissen ärgern konnte, holte sie Stift und Buch aus hervor und begann das ganze abzuzeichnen. Später würde sie es noch fotografieren, wenn das Handy wieder aufgeladen war. Was ihr noch auffiel war, das einer der Punktkreise etwas größer war als die anderen. Stellte er etwas Besonderes dar? Sie überlegte. In einer modernen Karte wäre damit der Standort dargestellt worden. Aber auf diesem alten Relief? Immerhin hatte sie ja jetzt den Beweis, dass es mehr als nur einen Steinring gab. Wie viele andere gab es dann noch? War es etwa doch so etwas wie eine Karte? Immer noch nachdenkend, zeichnete sie weiter, aufpassend, dass ihr auch kein Detail des seltsamen Gebildes entging.
Natalie war gerade fertig mit ihrer Aufzeichnung, als sie die Schritte hörte. Sie hatte sich so konzentriert auf das Abmalen des Reliefs, das sie sie gar nicht bemerkt hatte. Erschrocken und angespannt blickte sie auf. Wer konnte das sein? Und vor allem: Warum? Keine Zeit darüber jetzt nachzudenken! Rasch verstaute sie das Notizbuch im Rucksack, dann hob sie die Lampe auf, die auf dem Altar lag und die Szenerie ausleuchtete. Ihre Gedanken rasten und ihr Herz trommelte. Wohin… Wohin! Es gab nur diesen einen Eingang. Schon sah sie Schatten die sich durch den Tunnel näherten, hörte das rhythmische Stapfen schwerer Stiefel und tiefe, männliche Stimmen. Sie konnte nicht raus ohne denen in die Arme zu laufen und irgendetwas sagte ihr, das sie jede Begegnung vermeiden sollte. Hektisch blickte sie sich um. Vielleicht, wenn eine der Nischen groß genug war… Sie saß in der Falle und sie wusste das. Fragte sich nur, wann die anderen sie finden würden.
Die beiden Männer betraten die Kammer. Sie waren nicht zum ersten Mal hier. Allerdings waren sie nur gekommen um etwas abzuliefern. So wie immer. Das war ihr Job. Manchmal taten sie auch andere Sachen, je nachdem was gefordert war. Obwohl sie sich deshalb zweifellos für tolle Hechte hielten, waren sie nichts weiter als Fußvolk. Einfach. Billig. Entbehrlich. Und für die Schmutzarbeit zuständig. Aber das störte sie nicht. Ihr Weltbild war klein, aber dafür sehr übersichtlich… Die Tritte ihrer schweren Stiefel, die unter den Kutten hervor lugten, schallten donnernd durch den Raum. Sorgen machten sie sich nicht deswegen. Niemand anderes kannte diesen Ort hier. Leises Scheppern kam dazu, als sie sich zum Altar begaben und der eine kurz strauchelte und etwas stolperte, sich aber wieder fangen konnte ohne hinzustürzen. Der andere knurrte ihn daraufhin an. „Pass bloß auf, nicht das was kaputt geht. Sonst kriegen wir noch Ärger! Es war schon schwer genug, an das hier ran zu kommen!“ Sein Kumpan glotzte ihn nur an und nuschelte zurück. „Jaja, mach ich ja schon. Alles ok.“ Mit diesen Worten bugsierte er seine Fracht auf den Altar und stellte sie ebenso scheppernd wieder ab, was den anderen, scheinbar etwas cleveren, wieder zu einem aufstöhnen bewegte. „Was denn? Ist doch alles ok, siehste?“ versicherte er ihm. „Pass einfach auf und halt die Klappe“ ließ der nur vernehmen. „Jaja…“ Dann wurde eine zweite Ladung abgestellt, diesmal aber viel leiser und behutsamer. „Siehste, alles passt doch, also mecker nicht.“
Original anzeigen (0,4 MB)Zur Antwort bekam er ein Schnauben. „Du sollst einfach vorsichtiger sein, das ist alles. Ich will keinen Ärger mit denen haben. Das nächste Mal stellst du das Zeugs vorher ab, bevor du die Kerzen anmachst, kapiert?“ Brubbelnder Protest war zu hören. „Welche Kerzen?“ Der etwas größere schüttelte den Kopf. „Na die, die hier leuchten? Die du angemacht hast?“ Man konnte hören, wie sich der erste am Kopf kratzte. „Bist du blöde? Welche Kerzen? Ich habe keine Kerzen angemacht du Idiot.“ Ein Zischen war zu hören. „Du bist der Idiot. Du warst zuerst drin. Und als ich reinkam waren die Kerzen an, also musst du sie wohl angemacht haben!“ Wieder ein Kratzen. „War ich aber nicht, die waren schon an…“ Während es die Intelligenzbestie weder interessierte noch beunruhigte, bewies der zweite mehr Grips. „Verdammt, dann muss jemand anders hier gewesen sein! Ob die schon da waren?“ Nervös sah er auf seine Armbanduhr. Nein, sie waren noch in der Zeit, waren sogar um einiges zu früh da. Trotzdem könnte es sein, das ihre Auftraggeber schon anwesend waren und alles vorbereiteten. Das könnte auch erklären, warum der Tunnel schon offen war… Gewiss war es so, wer sonst sollte sich hierher verirren? Seinen Kumpel schien das nicht zu stören. „Weist doch, wie pingelig die sind. Wird schon passen. So wie immer.“ Er beruhigte sich langsam wieder. „Wirst schon Recht haben, die haben es immer eilig“ Allerdings wollte er auch wieder schnell weg hier. Es war ihm, wie meistens, etwas unheimlich hier unten. Lieber zurück an die Oberfläche, auch wenn da jetzt Nacht war. Er wollte gerade etwas sagen, als er unterbrochen wurde. „He, was’n das hier?“ Sein Spannemann deutete auf das Geländer der Steintreppe, wo in einer der Nische das aufgeklappte Netbook mit dem angeschlossenen Handy stand, davor lag immer noch die Tasche. Mit dem Elan einer Schlaftablette ging er hin und sah es sich an. „Gugg mal, das muss wer vergessen haben. Seit wann schleppen die sowas mit rum?“ Ihre Auftraggeber waren sicherlich alles Mögliche, aber mit Technik schienen sie nicht allzu viel am Hut zu haben. Jedenfalls war außer Kutten bis jetzt nichts anderes zu sehen gewesen. „Du Vollidiot! Jemand anderes ist hier!“ Mit diesen Worten zog er eine Machete unter seiner Kutte hervor und sah sich um…
Natalie hatte keine Zeit gehabt sich groß zu verstecken, wo auch. Also hatte sie sich rasch hinter dem Altar kleingemacht, in der Hoffnung dass niemand dort nachsah. Bis jetzt hatte sie erstaunlicherweise Glück gehabt… Sie hatte die Ankunft der beiden Männer belauscht, wie auch deren Gespräch. Sonderlich helle waren beide wohl nicht, eher der Schlägertyp fürs Grobe. Scheinbar wollten sie nur etwas deponieren und dann wieder verschwinden, was ihr die Möglichkeit gab, fliehen zu können. Sie wusste nicht, wer sie waren oder was sie eigentlich überhaupt wollten, aber das war Nat im Augenblick auch ziemlich egal. Sie wollte nur noch raus hier. Als sie schon am Gehen waren, blickte Natalie vorsichtig über den Rand des Steinklotzes, hinter dem sie sich verbarg. Vor ihr standen Gläser, mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt. Daneben lagen auch noch einige Plastikbeutel. Blutkonserven, wie sie in Krankenhäusern benutzt wurden. Was auch am Inhalt der Gläser keinen Zweifel mehr ließ. Sie hielt sich die Hand vor den Mund um einen leichten Würgereiz zu unterdrücken. Etwas übel war ihr schon, aber gleich wäre es vorbei und die beiden weg. Dann fand einer der beiden ihr Netbook… Still verfluchte sie sich selber für ihre Unvorsichtigkeit. Sie hatte nicht mehr daran gedacht und das Gerät einfach stehen lassen. Mit etwas Glück vielleicht… Dann sprach einer der beiden, der etwas klügere. „Du Vollidiot! Jemand anders ist hier!“ Nein, Glück war aus im Moment für sie. Erneut fluchte sie in Gedanken, dann hörte sie ein metallenes Schaben, wie als wenn ein Messer gezogen würde. Panik brandete ihn ihr hoch! Dem langen, schleifenden Geräusch nach musste es eine große Klinge sein… Einen Moment dachte sie an ihr eigenes Victorinox, wusste aber sofort, dass das Klappmesser den beiden nur ein müdes Lächeln entlocken würde. Oder ein dröhnendes Lachen. Je nachdem. Die Schritte näherten sich, sie kamen zum Nachsehen… Fast wie in Trance überlegte sie, dann, buchstäblich im letzten Moment, fiel ihr der Rucksack wieder ein. Genaugenommen das eine, besondere Fach des Rucksackes…
Natalie hatte nie viel von Waffen gehalten. Sie mochte sie nicht und brauchte sie noch weniger. Nathaniel dachte eigentlich genauso. Aber andererseits wollte er auch eine gewisse Sicherheit für Notfälle. Gerade bei ihren langen Reisen abseits der Zivilisation. Also hatte er sich damals die Pistole geholt. Seitdem hatte er sie bei jeder Reise dabei, als „Lebensversicherung“, wie er scherzhaft meinte. Als an jenem verhängnisvollen Tag Natalie die Sachen holen wollte, während er am Steintor wartete, lag die Waffe direkt neben den Instrumenten, die sie auspackte.
Als Nat schuldig gesprochen wurde, sie aber fliehen konnte, war es Eric, der an ihre und Nathaniels Sachen herankam. Obwohl sich ihre Einstellung nicht geändert hatte, wollte sie auf einmal die Pistole haben. Eric machte sich die Entscheidung nicht leicht, aber letzten Endes gab er nach. Er war es auch, der Natalie dann das Schießen beibrachte.
Später hatte sie sich oft gefragt, ob es damals genützt hätte, wenn sie in der Lage gewesen wäre die Pistole zu benutzen und sie damit vielleicht die Möglichkeit gehabt hätte, Nathaniel vor seinem unbekannten Angreifer zu retten… Ein Teil von ihr wusste, dass dies nur Selbstvorwürfe ohne jede Substanz waren, doch ab und zu drängte sich diese Frage immer noch in ihr Bewusstsein.
Vorsichtig und behutsam näherte sich der Mann, die Machete locker in der Hand, aber trotzdem bereit, sofort zu zuschlagen. „Komm raus, wir wissen dass du da bist…“ Seinem Begleiter entlockte dies ein hämisches Lachen, das schlechte Zähne zur Schau stellte. „Wir tun dir auch nichts…“
Natalies Hände glitten in den Rucksack, öffneten leise das Innenfach und tasteten, bis sie das Griffstück fanden und umschlossen. Mit dem Daumen öffnete sie so leise wie möglich die Sicherungslasche des Holsters, dann zog sie sie heraus. Die Pistole war groß und schwarz. Eine Beretta Modell Ninety Two mit 17 9mm Patronen im Magazin. Vorsichtig legte sie den Sicherungshebel um, dann holte sie tief Luft und stand mit einem Ruck auf, während sie mit einem lauten KLACKLAAACK den Schlitten zurückriss, ihn nach vorne schnellen ließ und damit die Pistole feuerbereit lud. Nun hieß es, alles oder nichts!
Alle blickten sich verdutzt an. Die beiden Männer hatten nicht mit solch einer Entschlossenheit gerechnet und auch nicht, das der unbekannte Eindringling, der sich jetzt als Frau herausstellte, bewaffnet war. Mehr jedoch wog der Schock des Erkennens. Ausgerechnet die Dumpfbacke war es, die herausplatzte. „He, das isse doch! Was macht die den hier?“ Nat fuhr der Schreck durch alle Glieder, als sie die beiden als die Mönche vom Hotel wieder erkannte, die hinter ihr her gewesen waren. Sie war genauso verwirrt, versuchte aber sich nichts anmerken zu lassen. Stattdessen wollte sie die Oberhand behalten und trat entsprechend herrisch auf, um sie einzuschüchtern. „Was wollt ihr beiden von mir? Warum seid ihr hinter mir her?“ wollte sie wissen, während sie die Pistole weiterhin auf den, der ihr am nächsten war, gerichtet hielt. Statt einer Antwort erhielt sie selber einer Frage. „Was tust du hier? Woher kennst du diesen Ort? Warum weißt du von dem Portal?“ Der Typ mit der Machete sprach sie an, ohne die schwere Klinge zu senken oder abzulegen, von ihrer Waffe scheinbar unbeeindruckt. „Ob die uns gefolgt ist?“ ließ sich der Depp vernehmen, was den Machetenhalter zu einem Augenrollen veranlasste. „Wenn sie uns gefolgt wäre, wäre sie nach uns hier angekommen, nicht vor uns, du Knalltüte…“ Der andere überlegte. „Da haste Recht…“ Erneutes Augenrollen. Die Situation wäre vielleicht sogar komisch gewesen, hätten sich nicht alle gegenseitig bedroht und belauert. Nat hob die Beretta eine Winzigkeit höher.
„Ich habe zuerst gefragt. Und ich habe die Knarre hier. Also überleg dir gut was du sagst oder tust.“ Die unverhohlene Drohung schien aber nicht die Wirkung zu erzielen, die sie damit beabsichtigt hatte. Der Einstein mit der Machete schien zu überlegen, legte sie aber immer noch nicht weg. „Wir sollten dich abholen. Mehr nicht… Jemand wollte dir nur ein paar Fragen stellen“ Sie sah ihn scharf an. „Und warum seid ihr dann hier? Niemand ist mir gefolgt…“ Voller Sorge dachte sie an Juan. Und auch an Professor Mendez. Nicht das diese Möchtegernmönche einen oder beide in die Finger bekommen hatten und Antworten aus ihnen heraus geprügelt hatten. Dabei musste sie an den Nachtportier in ihrem Hotel denken, gegen den der gröbere auch handgreiflich geworden war. Der Schlauberger wurde etwas nervös. „Keine Ahnung. Du warst abgehauen. Und dann hatten wir was anderes zu tun, deshalb sind wir hier. Von dir wissen wir nichts…“ Er schien das Gespräch auch in die Länge ziehen zu wollen, den Eindruck hatte Nat jetzt jedenfalls. Hatten die beiden vorhin nicht was gesagt, das sie jemanden erwarteten? Sie musste zusehen, dass sie wegkam, so schnell wie möglich! Langsam tastete sie nach unten, griff sich ihren Rucksack. Immer noch mit der Waffe auf den ersten zielend, begann sie den großen Steinquader zu umrunden. „Wer hat euch geschickt? Für wen arbeitet ihr?“ Nur Schweigen antwortete ihr. Einer Eingebung folgend, bluffte sie. „Die Gilde hat euch beauftragt, nicht wahr?“ Der Machetenkerl sagte gar nichts, aber die Reaktion seiner Pupillen bei der Erwähnung der seltsamen Sekte war beredter als 1000 Worte. Ausgerechnet sein stumpfsinniger Begleiter verpatzte es. „Du kennst die Gilde? Aber wo…“ Weiter kam er nicht, dann zischte ihn der andere zu. „Halts Maul du Idiot, die trickst uns nur aus!“ Natalie war fast um den Altar herum. „Naja, egal wenn ihr nichts zu sagen habt. Ich gehe jetzt, war schön mit euch zu plaudern… Und kommt bloß nicht auf die Idee mir zu folgen!“ Bei diesen Worten schwankte die Pistole zwischen beiden hin und her, als eindeutige Warnung.
Bevor Nat weitergehen konnte, erhielt sie mit einem Mal einen heftigen Zug, der sie etwas zurückriss. Erschrocken wich sie zurück, nur um zu bemerken, dass sich der Riemen des Rucksackes an der Steinkante verhakt hatte. Sie sah kurz nach rechts, wollte den Gurt lösen, als der mit der Machete den Moment und die Gunst nutzte. Mit einem Schrei, der sie hochschrecken ließ, sprang er in einem Satz auf sie zu und holte weit aus. Geistesgegenwärtig ließ Nat den Rucksack einfach los und brachte sich mit einer Sprung zur Seite schnell in Sicherheit, während die massive Klinge kurz vor ihrem Gesicht vorbeiwischte und sich dann klirrend und funkensprühend in den Ring des Portals fraß. Sie rollte sich ab, kam auf die Knie und stand schnell wieder auf, die Lage taxierend. Das hier lief gar nicht gut… Der Kerl versuchte keuchend und fluchend seine Machete wieder heraus zuziehen, aber es gelang ihm nicht. Er sprang hoch, sah sie wütend an und zog ein weiteres Messer aus seinem Stiefelschaft, bevor er knurrend und wütend auf sie zulief. „Bleib stehen! Verdammt noch mal, ich schieße sonst!“ Angespannt zielte Nat weiter mit der Pistole auf ihn um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen, aber es schien ihn nicht zu beeindrucken.
Andererseits, sie konnten die beiden auch nicht so einfach abknallen, als wären es räudige Hunde… Als er näher kam, zögerte sie kurz, dann schwenkte sie die Beretta etwas zur Seite und drückte ab! Der Schuss hallte laut und donnernd durch die kleine Kammer und schmerzte in ihren Ohren, hatte aber den erwünschten Erfolg. Erschrocken zuckte der Machetenmann zusammen und sah dann in die Richtung, in die Nat den Warnschuss gefeuert hatte. Der Knall war so laut gewesen, dass das Bersten von Glas erst von keinem war genommen wurde. Dann erblickte er die zerstörten Behälter, die er vorher selbst auf den Altar gestellt hatte. Und wie sich ihr Inhalt über eben jenen sowie die Wand und den Boden dahinter verteilt hatten. Einige gebannte Momente starrten alle stumm dorthin und sahen zu, wie sich die dunkelrote Flüssigkeit in Rillen zu sammeln schien, dann lief sie über einen größeren Kanal vom Altar zum Steinring und füllte dort langsam ebenfalls das feine Netzwerk. Er drehte sich um und schrie sie wütend an. „Was hast du nur getan du dummes Stück! Weißt du, was das für einen Ärger geben wird?!“ Der zweite hatte sich im Hintergrund gehalten und schien auch jetzt nicht eingreifen zu wollen. Verschüchtert und erschrocken stand er nur offenen Mundes da. „Ich mach dich alle!“ Mit diesen Worten riss er erneut das Messer hoch und wollte sich auf sie stürzen, als ein weiterer Schuss ohrenbetäubend losdonnerte. Nat hatte die Waffe ein paar Zentimeter gesenkt und erneut abgedrückt. Breitbeinig stand sie da, hielt immer noch die Pistole auf den Kerl gerichtet, der nun schreiend und wimmernd vor Schmerzen zusammenbrach und dabei sein Knie umklammerte.
Jammernd und winselnd kroch der Mann zu dem Altar, wo er versuchte, sich hochzuziehen. Ein unablässiger Schwall an Beleidigungen kam aus seinem Mund, nur ab und an unterbrochen von Schmerzensschreien. Doch sobald er sein Bein wieder belasten wollte, sackte er erneut zusammen. Heulend brüllte er sie an. „Du Miststück hast mir mein Knie kaputt geschossen… Ich mach dich fertig… Du elende…“ Verzweifelt griff er wieder nach oben, rutschte aber ab und bekam nur den Rucksack zufassen, der sich jetzt endlich löste. Voller Wut warf er diesen nach ihr, aber in seinen Armen war kaum noch Kraft. Kurz vor Natalies Füßen landete dieser, etwas außerhalb des Ringes. Die Rillen verliehen dem Portal mittlerweile einen halbmondförmigen, metallischen dunklen Hauch von Rot. Grund hierfür war die Flüssigkeit aus den Gläsern, als auch das Blut aus dem zerschossenen Bein des Ganoven. Eine dunkle, schlierige Spur zog sich bis zum Altar, wo er schluchzend kauerte. Eine Minute vorher war er noch der große Macker, jetzt ist nur noch ein Häufchen Elend übrig dachte sich Nat. Im letzten Moment verkniff sie sich Bedauern und Mitgefühl, in dem Wissen, das er dies auch nicht für sie aufgebracht hätte. Er hätte sie einfach aufgeschlitzt und fertig. So gesehen, war er noch mehr als glimpflich davon gekommen, befand sie nun mit grimmiger Genugtuung.
Während ihr Angreifer immer noch wehleidig jammernd am Boden lag, versuchte der andere sein Glück in der Flucht. Nat bekam die Bewegung aus den Augenwinkeln mit, als er schon an ihr vorbei war. Sie drehte sich um, bereit sich auch ihm zu stellen, doch der präsentierte nur seinen Rücken während er panisch weglief. Ihm einfach hinterher schießen wollte sie aber auch nicht. Egal, wenn er weg war und keinen Ärger weiter machte, würde auch ihr Weg frei sein! Sie wollte loslaufen, sich noch schnell den Rucksack und dann die Tasche mit dem Netbook und Handy schnappen und ebenfalls Fersengeld geben, als plötzlich ein krampfartiges Stöhnen erklang, so als wenn jemand aus vollem Lauf gegen eine Wand donnert und ihm alle Luft aus den Lungen gepresst wird…
Natalies Blicke huschten hin und her, konnten jedoch zuerst nichts entdecken. Der verwundete Möchtegerngangster lag immer noch blutend und greinend am Boden, während sein flüchtender Kumpan plötzlich stehen geblieben war. Irgendwas war seltsam daran… Dann fiel Nat der silberglänzende Stachel auch, der aus seinem Rücken austrat. Sie riss die Augen auf, verstand jedoch nicht was sie sah. Der Angeschossene schien noch gar nichts mitbekommen zu haben und war ohnehin mit sich und seinem zertrümmerten Knie beschäftigt. Irgendwie zog sich der Moment in die Länge… Dann, langsam, wie in Zeitlupe, lief der Mann einige Schritte stockend rückwärts. Der Silberstachel, er schien gebogen zu sein, verschwand und hinterließ nur einen kleinen, roten Fleck auf seiner Kutte. Mit einem rasselnden Seufzer drehte er sich um, große Augen machend und sich an die Brust greifend. Mit wackeligen Schritten stolperte er auf sie zu, streckte die Arme aus als bräuchte er Hilfe. Nat bemerkte das Blut an seinen Händen und einen dunklen Fleck auf seiner Brust.
Während er röchelnd und rasselnd ein und ausatmete, lief ihm auch ein Rinnsal des Lebenssaftes aus dem Mundwinkel und verschmierte seine Lippen zu einer grässlichen Fratze. Entsetzt blickte Natalie ihn an und wich furchtsam etwas zurück, wobei sie den Arm mit der Pistole senkte. Hinter dem Mann war jetzt eine Bewegung zu erahnen, nur ein Schemen. Bevor Nat eine Warnung rufen konnte, zuckte dieser krampfartig zusammen, dann schaute er benommen auf seine Brust, aus der wieder der silberne Stachel gewachsen war. Er versuchte sich zu bewegen, spuckte aber nur Blut und zappelte etwas, als er wie aufgespießt da stand. Dann, mit einem Male, ächzte er und es schien, als ob er zu schweben begann… Einige Zentimeter über dem Boden pendelte er sich, dann verschwand mit einem lauten, nassen flutschen der Silberstachel. Während der Mönch krächzend und blutend weiterhin in der Luft hing, erschien wieder das silbrige etwas, aber diesmal neben ihm, auf Kopfhöhe. Für einen Augenblick kam Nat der Gedanke an einen Krummdolch oder ähnliches, dann fuhr das Ding wie ein gleißender Blitz über den Hals des Mannes und sorgte für eine Blutfontäne! In großen, pulsierenden Schüben spritzte die rote Flüssigkeit über den Steinboden und auf das Portal, während Natalie mit einem Entsetzensschrei nach hinten sprang, außer Reichweite. Voller Grauen sah sie zu, wie der Körper nur noch unkontrolliert zuckte und die Reste seines Atems gurgelnd und zischend aus seiner durchschnittenen Kehle zischten. Es waren nur wenige Augenblicke, aber für sie war es wie eine Ewigkeit bis der Körper endlich erschlaffte und Frieden fand.
Als der Mann zusammenbrach und den damit den Weg und Blick nach hinten, zum Ausgang freimachte, erblickte Nat die Gestalt. Gehüllt in eine Art Mantel mit Kapuze stand sie da. Genau wie damals, in den Anden...
Nat hatte sie wieder erkannt. Nathaniels Mörder stand vor ihr!