Natürlich gibt es auch Geistererscheinungen Lebender. In der Tat heißt einer der bekanntesten Klassiker der frühen Parapsychologie (oder „
psychical research“, wie man damals sagte) „
Phantasms of the Living“, also so viel wie „Erscheinungen Lebender“.
Das zweibändige Werk wurde 1886 von der SPR (Society of Psychical Research) herausgegeben und ist im Hauptteil von Edmund Gurney verfasst worden. Darin werden über 702 Berichte von Personen zitiert und analysiert, die angaben, Erscheinungen und Visionen von Sterbenden (engl. „
crisis apparitions“) oder kürzlich Verstorbenen gehabt zu haben. Bei der Materialsammlung, die Gurney und einige Mitarbeiter persönlich vornahmen, wofür sie im ganzen Königreich hin und her reisen mussten, wurden etliche Qualitätsstandards berücksichtigt. So wurden etwa nur Berichte aus erster Hand aufgenommen (also nichts vom „Hörensagen“ oder vom „Freund einer Freundin“), und zusätzlich Zeugen befragt und/oder unabhängige Zeugnisse des berichteten Geschehens und seines zeitlichen Ablaufs – etwa Sterbeurkunden, Gerichtsakten oder Zeitungsberichte – zu finden, Es war also ein ziemlicher Rechercheaufwand.
In dem Buch geht es, wie gesagt, vor allem um sogenannte „
Crisis apparitions“ („Krisenerscheinungen“), also Erscheinungen entfernter Personen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie von anderen gesehen werden, in einer lebensbedrohlichen Krise sind, bzw. gerade sterben. Gurney ging davon aus, dass in solchen Fällen ein Zusammenspiel von Telepathie und Eidetik stattfindet, also von „Gedankenübertragung“ und der Fähigkeit ein mentales Bild quasi wie real zu „sehen“. Der Sterbende sendet sozusagen ein telepathisches „Signal“ - und zwar während er noch lebt - daher „Phantasms of the Living“ -, das im Unterbewusstsein des „Empfängers“ ankommt und dort eine Halluzination des „Senders“ erzeugt. (Ganz verkürzt ausgedrückt.)
Das ganze Buch mit seinen zwei Bänden und den über 700 Einzelberichten kann man online lesen!:
https://www.esalen.org/ctr-archive/book-phantasms.html (Archiv-Version vom 19.08.2017)Auch bei Außerkörperlichen Erfahrungen (Out of Body Experiences oder OBE) soll es gelegentlich vorkommen, dass derjenige, der eine „außerkörperliche Reise“ macht, dabei von einem anderen gesehen oder gespürt wird. Das wirft aber ähnliche Fragen auf, wie die, warum Geister Kleider tragen. Wenn Geister Kleider anhaben – haben dann Kleider eine Seele? Wenn – wie manche glauben – bei einer OBE „die Seele“ oder irgendein substantieller „Seelenanteil“, ein „Astralkörper“ oder was auch immer sich vom Körper löst und „auf Reisen geht“ – wie kommt es dann, dass der OBE-Reisende – wie es der Fall zu sein scheint – mit Kleidern gesehen wird?
Stephen Braude diskutiert diese Frage und ihre Implikationen in der „Psi Encyclopedia“ der SPR (dort auch weitere Literaturangaben):
https://psi-encyclopedia.spr.ac.uk/articles/why-do-ghosts-wear-clothes (Archiv-Version vom 16.09.2016)Auch bei jenen besonderen Individuen, die von der katholischen Kirche – beim Vorhandensein bestimmter formaler Voraussetzungen – „Heilige“ oder „Selige“ genannt werden, wird gelegentlich über Bilokationen berichtet (etwa beim hier bereits genannten Padre Pio oder bei Josef von Copertino, der zudem für seine von zahlreichen Zeugen gesehenen Levitationen berühmt ist). Die Augenzeugenberichte über die Bilokationsphänomene sind dann in den entsprechenden Kanonisationsakten zitiert.
Aber die schönste, angeblich wahre Geschichte über den Geist eines Lebenden, die ich kenne, wird von Ernesto Bozzano in seinem Buch „Les phénomenes de bilocation“ (1937), S. 96, berichtet (das wäre dann eine solche Sammlung von Bilokationsberichten, nach der
@Tajna gefragt hat). Ich kenne das Buch von Bozzano aber nicht, sondern habe die Geschichte nur aus zweiter, bzw. dritter Hand von Hilary Evans):
Eine Mrs. Boulton hatte jahrelang einen immer wiederkehrenden Traum, in dem sie durch ein ihr unbekanntes Haus ging. So oft hatte sie davon geträumt, dass sie es detailliert beschreiben konnte.
Im Jahr 1883 beschlossen sie und ihr Gatte, einen Sommer in Schottland zu verbringen und dafür ein Haus zu mieten. Lady Beresford hatte ein passendes Haus zu vermieten,und Mr. Boulton fuhr als erster nach Schottland, um den Vertrag zu unterschreiben und alles vorzubereiten. Lady Beresford hielt es allerdings für angebracht, Mr. Boulton davon zu unterrichten, dass es in dem Schlafzimmer des Hauses spuke: Der Geist einer „kleinen Lady“ würde dort gelegentlich gesehen, sei aber harmlos. Mr. Boulton meinte nur als echter viktorianischer Gentleman, er wäre „
delighted“, mit dem Phantom Bekanntschaft zu machen, jedoch verlief seine Nacht in dem Schlafzimmer ungestört.
Als seine Frau in Schottland ankam, erkannte sie in dem gemieteten Objekt sofort – buchstäblich – das „Haus ihrer Träume“. Alles war genau so, wie sie es immer wieder geträumt hatte, nur gab es in ihren Träumen eine Tür, die in dem originalen Haus fehlte. Auf Nachfrage ergab sich aber, dass es an der Stelle früher mal tatsächlich eine Tür gab, die erst nach Umbauten zugemauert wurde.
Als ein paar Tage später Lady Beresford ihre Mieter besuchte und zum ersten mal Mrs. Boulten zu Gesicht bekam, war die Vermieterin nicht schlecht erstaunt: „Aber – Sie sind ja die Lady, die in unserem Schlafzimmer spukt!“