Meiner Meinung nach sind Dämonen kulturelle Konstrukte, in denen das, was eine jeweilige Kultur und Religion als „böse“ definiert, konkret verkörpert wird. Wobei diese Verkörperungen als Geistwesen gedacht werden. Sie sind sozusagen das „Gegenbild“ zum jeweils als „gut“ betrachteten, machen so deutlich, was „gut“ und was „böse“ ist, und erklären zum Teil auch, warum es „böse“ Dinge, Geschehnisse und Menschen in einer im Grundsatz „guten“ Welt gibt.
Wo man nicht mehr an Geistwesen glaubt, werden gelegentlich auch bestimmte Menschen oder Menschengruppen „dämonisiert“. (Klassisches Beispiel, das mir einfällt, weil ich gerade eine Hitler-Biographie lese: der rassistische Antisemitismus der Nazis: „Das Judentum“ war für Hitler und überzeugte Nazis die konkret gewordene Verkörperung „des Bösen“ in dieser Welt. Und so wie Dämonen – zum Beispiel in der christlichen Kunst – oft als grotesk verzerrte Mischwesen dargestellt worden sind, wurden auch die Juden, etwa in den Karikaturen der Zeitschrift „Der Stürmer“, als grotesk hässliche Wesen gezeichnet.)
Es gibt also zunächst keine Dämonen „an sich“, irgendwo „da draußen“ jenseits der Menschheit, die mit den Menschen in Kontakt treten oder diese quälen, missbrauchen und manipulieren. Vielmehr sind die Dämonen Konstrukte der Menschen selbst.
ABER – und hier kommt der „Twist“ in meiner Auffassung – die Tatsache, das Dämonen kulturell relative Konstrukte sind, bedeutet nicht, dass es sie schlicht „nicht gibt“, dass sie „nur erfunden“ wären (oder sogar ganz bewusst und absichtlich erfunden worden wären, um damit Menschen zu manipulieren und bestimmte Ziele zu erreichen. Obwohl natürlich ein bereits vorhandener Glaube an Dämonen dann „sekundär“ für solche Manipulationen benutzt werden kann.)
Indem Menschen an Dämonen glauben, „erschaffen“ sie Dämonen. Wenn diese aber erstmal geschaffen sind, dann können sie möglicherweise auch unabhängig von ihrem „Schöpfer“ wirken und wirklich sein, vielleicht sogar so, als seien sie tatsächlich „Personen“. Vielleicht existieren bestimmte Eigenschaften der Wirklichkeit oder eines über-individuellen „kollektiven Unbewussten“, die es möglich machen, dass sich solche geteilten Glaubensinhalte konkret „personalisieren“. Es gibt ja bestimmte okkulte Vorstellungen (die wohl zum Teil auch auf konkreten Erfahrungen beruhen), denen zufolge es so etwas wie durch menschliche Gedanken bzw. Willenskraft geschaffene metaphysische Wesenheiten gibt, wie der westliche „Egregor“ oder der tibetische „Tulpa“:
Wikipedia: EgregorWikipedia: TulpaIch möchte aber von dem doch sehr speziell christlich konnotierten Begriff „Dämon“ wegkommen und lieber allgemein von „nicht-menschlichen Geistwesen“ sprechen, wobei diese neutral bzw. ambivalent, „gut“ oder „böse“ gedacht werden können. Praktisch jede menschliche Kultur kennt solche Geistwesen und kennt auch Strategien und Rituale, wie man mit diesen umgehen kann. Ob das nun Schamanen sind, die mit Hilfe ihres „Krafttiers“ in das Land der Geister und Seelen reisen, um dort mit diesen zu interagieren, oder in allen Kontinenten verbreitete „Besessenheitsreligionen“, in denen sich bestimmte nicht-menschliche Geistwesen – Götter, Geister und Dämonen – verkörpern, indem sie einen Menschen wie ein Reittier „in Besitz nehmen“. Diese „Verkörperung“ ermöglicht es dann aber auch, mit diesem Geistwesen in Kontakt zu treten, es zu vertreiben oder auch um Hilfe zu bitten.
Wobei, denke ich, die meisten dieser Geistwesen eher neutral, bzw. ambivalent betrachtet werden und – je nachdem wie man ihnen begegnet – mal „gut“, mal „böse“, bzw. nützlich oder schädlich sein können. So wie ich elektrischen Strom nutzen kann, um mein Zimmer zu erleuchten, der mir aber genauso einen tödlichen Stromschlag versetzen kann.
Die Vorstellung ausschließlich und dezidiert „böser“ „Dämonen“ setzt dagegen ein dezidiert „dualistisches“ Weltbild voraus, in dem klar zwischen „gut“ und „böse“, „Göttlich“ und „Wider-Göttlich“ unterschieden wird.