ich glaube, ich muss kotzen
04. Juni 2013, 18:43 Uhr
Uneheliche Kinder
Chinas Single-Mütter sollen hohe Strafen zahlen
Von Annette Langer
Das Schicksal von "Baby 59" erschüttert die Welt - seine Mutter ließ den Säugling in die Toilette fallen. Jetzt fordern chinesische Familienplaner, Frauen für nichteheliche Kinder zu bestrafen. Kritiker rechnen mit mehr Abtreibungen, Kindstötungen und "Abflussrohr-Babys".
Die Nase platt gedrückt, die Mundwinkel nach unten gezogen, die kleinen Hände ganz blau: So sah "Baby 59" aus, als es vor knapp einer Woche von Bergungskräften aus einem Abflussrohr geschnitten wurde. Von seiner eigenen Mutter war der kleine Junge nach einer Sturzgeburt die Toilette hinuntergespült worden. So zumindest lautet die offizielle Version der Polizei im ostchinesischen Jinhua. Demnach soll die 22-Jährige gerichtlich nicht belangt werden.
Dem Kind geht es gut, es lebt inzwischen bei den Großeltern. Die Entdeckung des Neugeborenen hatte nicht nur Proteste gegen die Mutter ausgelöst. Es gab auch viele Chinesen, die Mitleid hatten mit der jungen, überforderten Frau, die nach einer kurzen Affäre schwanger geworden war. Sie brachten Geschenke ins Krankenhaus, boten an, das Kind zu adoptieren. In den sozialen Netzwerken wurde über die Probleme alleinstehender Mütter diskutiert.
Die Behörden von Wuhan in der Provinz Hubei diskutieren nicht. Sie brachten als Konsequenz aus dem Debakel am 2. Juni einen Entwurf ein, wonach Single-Frauen, die ein Kind von einem verheirateten Mann bekommen, eine "Kompensationszahlung" leisten sollen. Kurzum: Sie sollen die Gesellschaft dafür entschädigen, dass sie Normen missachtet und moralisch nicht einwandfrei gehandelt haben.
Das Bußgeld ist hoch und trifft vor allem die Armen mit voller Wucht: Bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 27.000 Yuan (3158 Euro) im Jahr in Wuhan sei eine Geldstrafe von 80.000 Yuan (9950 Euro) angemessen, befand die Stadtregierung.
"Eine Vampir-Regierung"
Offiziell soll die Regelung Chinas restriktive Familienplanungspolitik unterstützen. Für viele ist sie nur ein Weg, alleinstehende Frauen noch mehr zu diskriminieren. Die Reaktionen auf die geplante Verordnung waren dementsprechend negativ: "Single-Mutter zu sein ist schon eine Tragödie für sich, aber dieser Schritt ist grausam und unmenschlich", schrieb eine entnervte Userin auf Sina Weibo, dem chinesischen Twitter-Pendant. "Welche Regierung gibt ihrem Volk keine Unterstützung, sondern versucht nur mit allen Mitteln, Geld aus ihm herauszupressen? Eine Vampir-Regierung!", empörte sich ein anderer.
Wieder einmal würden nur die Frauen belangt, anstatt die Männer zur Verantwortung zu ziehen, so der Tenor. Selbst die staatliche Zeitung "Global Times" ist skeptisch: "Fälle von außerehelich geborenen Kindern sind häufig komplex und können bei der Bewertung nicht über einen Kamm geschoren werden", heißt es in einem Artikel. Das geplante Bußgeld habe fatale Wirkung vor allem auf die Armen im Lande. "Es untergräbt die soziale Gerechtigkeit."
In Peking und der südchinesischen Provinz Guangdong gibt es bereits vergleichbare Regelungen. Tatsächlich ist es weniger das Geld, das die Beamten aus Wuhan antreibt. "Sie folgen einer rein bürokratischen Logik", sagt der China-Experte von Human Rights Watch, Nicolas Bequelin. "Gesunder Menschenverstand oder empirische Erkenntnisse spielen bei solchen Entscheidungen keine Rolle."
Die Frauen würden als Außenseiter und Ballast für die Verwaltung und das staatliche Familienprogramm empfunden. Schon jetzt würde es die weitreichende Autonomie der lokalen Behörden erlauben, alleinerziehende Mütter mit Bußgeldern oder höheren Gebühren für Kindergärten oder medizinische Behandlung zu gängeln - ähnlich wie bei Familien, die mehr als ein staatlich erlaubtes Kind bekommen und sich von dem Gesetzesverstoß quasi freikaufen.
Keine Chance für die "Übriggebliebenen"
Die Grauzonen in der Verwaltung machen es möglich, dass ertappte Frauen in Zukunft bis zum Sechsfachen eines Jahreseinkommens berappen müssen. Es gibt viele Single-Mütter in China, junge, unvorsichtige Mädchen, vergewaltigte Wanderarbeiterinnen, aber auch Konkubinen reicher verheirateter Männer, die ihnen Geld zahlen, damit sie mit dem Kind verschwinden. Sie sind nicht nur stigmatisiert, sondern bekommen noch nicht einmal Mutterschaftsgeld vom Staat.
Das in Wuhan geplante Bußgeld wird zu mehr Abtreibungen, Kindstötungen und "Abflussrohr-Babys" führen - da sind sich die Kritiker einig. Schon jetzt gibt es jedes Jahr 13 Millionen Schwangerschaftsabbrüche in China. Die meisten von ihnen lassen junge, alleinstehende Frauen durchführen. Die Ein-Kind-Politik und die traditionelle Präferenz für männliche Nachkommen haben dazu geführt, dass überwiegend weibliche Föten abgetrieben wurden - mit nachhaltigen Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Seit 2002 verbietet ein Gesetz die pränatale Geschlechterbestimmung.
Single-Mütter brauchen Unterstützung, das weiß auch die Regierung in Peking. Zwar vertritt die KP-Massenorganisation "All-China Women's Federation" (ACWF) seit 1949 die Belange der Frauen in der Volksrepublik. Dass eine Schwangere mit einem "illegalen" Kind im Bauch eine staatliche Struktur um Hilfe angehen könnte, scheint allerdings unwahrscheinlich zu sein. Ausgerechnet die ACWF kreierte im Jahr 2007 den abschätzigen Begriff "sheng nu" für die sogenannten "übriggebliebenen Frauen", also alle, "die keinen abbekommen haben", wie man wohl auf Deutsch sagen würde. Gemeint sind alle unverheirateten Frauen über 27.
Leider gibt es kaum unabhängige Organisationen, die sich um Frauenrechte kümmern. Die Anwältin Guo Jianmei ist ein große Ausnahme: Sie gründete 1995 das "Women's Legal Research and Services Centre", eine NGO, die Frauen in Notlagen rechtlich berät und ihre Interessen vertritt. Im Interview mit dem Journalisten Peer Junker sagte sie: "In meiner Familie galten Männer seit jeher als überlegen. Meine Großmutter starb mit nicht einmal 40 Jahren. Sie verhungerte, während sie Brot verkaufte. Dabei war noch etwas Brot übrig. Doch aus Angst, verprügelt zu werden, hat sie nicht davon gegessen."
Guo wurde von ihrer Großmutter erzogen. Wenn es um das Kindswohl geht, verlässt sich China noch immer vorrangig auf die Angehörigen, die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit. Nicht immer zum Besten der Kleinen. Geschätzt 61 Millionen Kinder sind landesweit vorrangig auf sich selbst gestellt, weil ihre Eltern als Wanderarbeiter unterwegs sind. Ohne Aufsicht würden sie oft zu Opfern, berichten Soziologen.
In letzter Zeit häuften sich Berichte über häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch - traurig, aber auch ein Zeichen dafür, dass die öffentliche Wahrnehmung geschärft ist. Es fehlt allerdings an Kinderschutzgesetzen und funktionierenden Strukturen. Ein Familienplanungsgesetz vom Dezember 2001 betont, dass uneheliche Kinder die gleichen Rechte haben wie eheliche. Es bleibt Makulatur.
URL:
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/baby-im-abflussrohr-chinas-single-muetter-sollen-strafe-zahlen-a-903764.html