@LuciaFackel Ich hatte eine palästinensische Ehefrau, die war, was angeblich "deutsche Tugenden (oder Untugenden)" angeht, "deutscher" als ich:
Ernsthaft bis zur Verbissenheit, strebsam und arbeitswütig bis zum Umfallen, fanatisch bis zum Tod, nationalistischer als Hitler, kommunistischer als Ulbricht, feministischer als Alice Schwarzer. Pünktlich, gründlich und pedantisch wie das Klischee eines preussischen Ministerialbeamten. Sie zeigte eine Härte und Opferbereitschaft wie ein HJ-Pimpf mit der Panzerfaust in den Ruinen Berlins.
Ich bin in Irland abstinenten Iren begegnet, in Algerien emanzipierten Frauen und in Deutschland der Zuverlässigkeit von Handwerkern, der Pünktlichkeit der Deutschen Bahn und der Gründlichkeit der Telekom. Ich kenne norddeutsche Karnevalisten und depressive Rheinländer, nette Berliner und soziophobe Bayern.
Ich denke, so etwas wie eine "nationale Psyche" ist ein Konstrukt aus Zeiten der der Nationalstaatlerei und des Imperialismus, als die moralische Überlegenheit der eigenen Nation oder "Rasse" im Vordergrund stand, um andere als moralisch unterlegene "Untermenschen" zu klassifizieren, die man zu unterdrücken oder auszurotten, zumindest aber als "die Anderen, die zu anders sind, um uns zu ähneln" abzuqualifizieren.
In dem ich eine eigene Geschlossenheit konstruiere, jegliche Widersprüche und Klassengegensätze übertünche, den Individualismus zugunsten des kampfbereiten und geschlossenen Kollektivs propagiere, kann ich "die Anderen" als Bedrohungspopanz aufstellen.