Schwarzes Schaf der Familie
17.01.2011 um 14:52
Einfach noch mal aus meinem Blog-Keller geholt:
Ich wurde 1954 in Hamburg-St.Pauli geboren. Mein Vater war Werftarbeiter, meine Mutter ging putzen, arbeitete in einer Fischkonservenfabrik, als Näherin, als Verkäuferin.
Mein Vater hatte, wie viele Kriegsteilnehmer, den Traum vom Häuschen im Grünen. Daraus ist nie etwas geworden: Krieg, Gefangenschaft, Wiederaufbau, Werftensterben, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Krebs. Zu viele Gründe, warum ein Lebenstraum nicht Wirklichkeit werden konnte.
Ich hatte drei Geschwister: Knut, Jahrgang 1948, Heidemarie, 1950, Sonja, 1959.
Wir lebten in „kleinen Verhältnissen“ wie man damals sagte: Etagenwohnung, Ofenheizung, Eineinhalb Zimmer, Küche, Klo auf halber Treppe, Bad blieb ein Traum.
Abends wurde der Esstisch mit einem Flaschenzug unter die Küchendecke gehievt und wir vier teilten uns anfangs zwei durchgelegene Matratzen auf dem Boden. Erst später bekamen wir eine größere Wohnung, die beiden Mädchen und die beiden Jungs jeweils gemeinsam eine kleine Kammer, groß genug für die Betten und einen Kleiderschrank. Gebadet wurde Samstags in der Zinkwanne. Erst die Mädchen, dann die Jungs.
Es gab keinen Fernseher, kein Telefon, kein Auto. Ein Radio war meine Verbindung zur Welt, Quell von Inspiration und Sehnsüchten.
An meinen großen Bruder erinnere ich mich mit einer Mischung aus Bewunderung, Angst und Abscheu. Er war groß, stark und unberechenbar. Er schlug uns, belästigte uns sexuell – aber er war auch jemand, mit dem wir anderen drohen konnten.
Heide war ein Mutterersatz für mich und Sonja. Sie las uns kleinen vor, sang für uns, wir durften uns an sie kuscheln, sie tröstete uns, wenn Vater und Mutter auf Schicht waren oder uns geschlagen hatten. Dafür bekam sie von Sonja und mir Zuckerwürfel, Kekse, Brausepulver, Dauerlutscher, die wir uns von unseren kärglichen Rationen absparten. Sie wurde fett und bekam schlechte Zähne.
Sonja war die kleinste, die ich zu beschützen hatte. Sie war so schön, so neugierig, so klug und flink, liebenswürdig zu jedem.
Wir vier waren die Hafenratten, wie uns unser Vater nannte. Wir waren gierig, bissig, ausgehungert, mutig, listig und gemein. Wenn wir etwas zum Haushalt beitragen konnten, haben wir es genommen. Auf dem Fischmarkt fiel Gemüse und Wurst vom Tisch, in der Speicherstadt waren Türen oder LKW-Planen nicht fest genug zu. Wir versuchten, den Nutten morgens die Handtaschen zu klauen, wir räumten Besoffene aus oder gingen hinterm Bismarck 175er ticken. Wir waren dreckig. Innen wie außen. Zerrissene Klamotten, zerrissene Seelen. Wir haben gestohlen, gelogen, geprügelt – und wurden geprügelt, mit der Hand, dem Gürtel, dem Kochlöffel, dem Teppichklopfer.
Knut war der Hauer, die dicke Heide die Vernünftige, ich der Träumer und Sonja die Plietsche, wie der Hamburger kluge Mitmenschen nennt.
Was ist aus uns geworden?
Knut hat eine Maurerlehre gemacht. In seiner Freizeit trieb er sich mit Leuten herum, die man damals als „Rocker“ bezeichnete. Leder, Bier, Fahrradketten. Dann kam ein Dezembertag 1970. Weihnachtsfeier, Glatteis, zuviel Alkohol und zuviel Tempo. Sein NSU, auf den er so stolz war, rutschte mit ihm unter einen querstehenden Sattelauflieger. Es gab damals keinen Unterfahrschutz. Nur mein relativ abgebrühter Vater hat ihn noch einmal sehen dürfen, bevor sie den Deckel zuschraubten. Mutter hätte das nicht überstanden.
Danach war absolut nichts mehr wie vorher. Es war unerträglich und führte dazu, dass ich von zu Hause abhaute, die Schule hinschmiss. Der Kronprinz, der eigentlich ein Tyrann war, war tot. Die elterlichen Hoffnungen auf den „einzigen, der es von dieser Bande noch zu etwas bringen wird“ waren unter einem LKW zerquetscht worden. Wir Geschwister, Opfer seiner Tyrannei, atmeten befreit auf, so hart es klingen mag.
Heidemarie, schon vorher eine tragische Gestalt, wurde nun die neue Hoffnungsträgerin. Eine Rolle, die sie völlig überforderte. Ich erinnere mich, wie sie, Friseurlehrling, sich Samstag abends in der Küche mit Hilfe von Freundinnen und geklauter Kosmetika aufbrezelte, bevor sie loszog, um in „Beatschuppen“ den Mann ihrer Träume zu finden. 80 Kilogramm Frustration im knappen Pulli und kurzem Mini. Entschlossen: „Heute wird es klappen!“ Wenn sie zurückkam, konnte ich sie heulen hören. Wieder kein Märchenprinz mit weißem Pferd – oder wenigstens VW-Porsche. Sie wollte raus und suchte verzweifelt jemanden, der sie von ihren Fesseln befreite, statt es selbst zu probieren. Sie passte sich an, fraß den Frust in sich hinein und der Frust fraß sie von innen auf.
Heute tuscheln meine Kinder „Moby Dick“, wenn sie von Tante Heide sprechen: Fett, bleich, haarlos und krank: Diabetes, offene Beine, Bluthochdruck, Atemnot. Keine Chance mehr zum weglaufen. Sie lebt in einer süddeutschen Kleinstadt mit einem Ekelpaket von Mann, der sie nicht liebt und züchtet Hunde.
Sonja war unsere kleine Prinzessin, so zart, so klug, so schön. Sie hat als einzige von uns Abitur gemacht, wollte studieren. Sie wäre so gern etwas geworden und ich hätte es ihr so gegönnt. Die falschen Cliquen, die falschen Männer, die falschen Drogen. Zu viele Schläge, zu viele Freier, zu viele Rasierklingen für meine kleine Schwester. Therapieabbrüche, Depressionen, Anschaffen in Kaschemmen in St. Georg und zwischendurch immer wieder Ochsenzoll. Die klassische Drehtürpatientin. Viele Versprechungen, viele Katastrophen, jedes Treffen mit ihr wird zum Desaster.
Ich ging fort, wollte raus aus der Enge, zur See, die Welt sehen und verändern. Den Kopf voll von Conrad, Traven und Guevara. Nun ja, ich schaffte es nur bis zum Job im Hafen, in dubiose Politzirkel, in nutzlose Kriege und wirkungslose Zeitungen. Ich ging fort und ließ meine Schwestern im familiären und privaten Elend und Scheitern allein.