Gibt es Berichte über Häftlinge in Deutschland?
23.09.2010 um 11:47
Oder mann kann "Probesitzen":
Knast auf Probe - für einen Tag
Von SIMON BALZERT, 06.02.08, 22:10h
Das Ziel heißt Abschreckung: In der JVA Geldern schildern Häftlinge vorbestraften Jugendlichen ihren Alltag. Fünf Jungs aus Duisburg durften erleben, wie „uncool“ es ist, eingesperrt zu sein.
"Die Persönlichkeit bleibt hier", sagt der Beamte, der dem Probehäftling seine Sachen abnimmt und die Anstaltskleidung austeilt. "Die Persönlichkeit bleibt hier", sagt der Beamte, der dem Probehäftling seine Sachen abnimmt und die Anstaltskleidung austeilt.Geldern - Der 15-jährige Mustafa (alle Namen von der Redaktion geändert) schaut den Justizvollzugsbeamten unsicher an. „Die Unterwäsche auch?“, fragt der übergewichtige Junge, der mit kurzen hochgegelten Haaren in der „Kammer“ steht. Hier werden alle neuen Häftlinge auf ihren Gefängnisaufenthalt in der Justizvollzugsanstalt vorbereitet. „Ja. Welche Schuhgröße, welche Unterwäschengröße hast du?“, fragt der uniformierte Beamte trocken.
Mustafa ist mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen schweren Raubs und gefährlicher Körperverletzung. „Weil mir langweilig war und ich ein neues Handy wollte“, so begründet er einen bewaffneten Raub mit Gaspistole. Heute soll der Jugendliche, der mit einem Bein bereits im Gefängnis steht, zur Abschreckung auch das zweite in den Knast setzen. Aus ganz Nordrhein-Westfalen kommen alle zwei Wochen vorbestrafte Jugendliche nach Geldern, um das Leben in einer JVA kennenzulernen und mit Häftlingen zu sprechen.
Drei Quadratmeter
Mustafa ist es sichtlich unangenehm, sich vor dem fremden Mann splitternackt auszuziehen. „Die Persönlichkeit bleibt hier“, sagt der Beamte, der Mustafas Jeans, Pullover und Unterwäsche in einen Stoffbeutel packt. Mit der Originalausstattung eines Häftlings auf einem Schiebewagen - Decken, Geschirr, Handtücher, Bettwäsche und Hausschuhe - macht sich Mustafa auf den Weg in die drei Quadratmeter kleine „Übergangszelle 1“. Ein Tisch und eine Bank - für mehr ist darin kein Platz. Mustafa scheint sich unwohl zu fühlen, ein wenig Angst steht ihm in sein rundes, kindliches Gesicht geschrieben, als sich die Zellentür hinter ihm schließt.
In einem anderen Raum der JVA sitzen vier Jugendliche aus Duisburg mit ihrer Bewährungshelferin zwischen sieben blaugekleideten Männern. An den Wänden wecken gemalte Strände, blaues Meer, Palmen und Papageien Fernweh - den Wunsch nach Freiheit kennen die Männer nur zu gut: Sie verbüßen in Geldern mehrjährige Haftstrafen. Heute sollen sie den Jugendlichen zeigen, dass ein Leben im Knast alles andere als „cool“ ist.
„Wenn ihr euch hier drin etwas kaufen wollt, müsst ihr sonntags einen Zettel ausfüllen, dann bekommt ihr das mittwochs geliefert. Aber glaubt mal nicht, dass das Luxus ist: Es gibt nur drei Zigarettenmarken oder zwei Sorten Schokolade zur Auswahl“, erklärt Tristan. Der 26-Jährige wirkt sympathisch und intelligent - gar nicht so, wie man sich einen „Knacki“ vorstellt. Er spricht die Jugendlichen direkt an, und sie hören ihm aufmerksam zu, haben offenbar Respekt vor ihm. In der Ecke beobachtet Sozialpädagoge Heinz Nielen die Szene. Seit 15 Jahren betreut er das Projekt.
„Ihr habt doch bestimmt jeder eine Perle, oder?“, fragt Tristan in die Runde. Die meisten Jungs nicken. „Meint ihr, eure Freundinnen würde drei,vier Jahre enthaltsam leben, falls ihr fünf Jahre aufgebrummt bekommt? Anfassen wird bei Besuchen hier nicht gern gesehen.“ Die Duisburger Jugendlichen schweigen. Fast alle sind zwischen 15 und 17 Jahre alt und meist mehrfach vorbestraft - wegen Körperverletzung, Raub oder Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Auf dem Hinweg warst du noch der Alleinunterhalter, jetzt bist du aber ganz schön still“, murmelt die Bewährungshelferin einem ihrer Klienten zu. - Weckzeiten, Mahlzeiten, ein begrenztes Sportangebot. Die Häftlinge schildern ihr Leben hinter Gittern in all seiner bedrückenden Routine. „Und selbst wenn eure Mütter euch besuchen“, sagt Tristan hinzu, „werden die von oben bis unten durchsucht und abgetastet. Auch an Brüsten und Oberschenkeln. Die Stimmung ist schon scheiße, wenn euer Besuch kommt.“
Etwas später steht die Gruppe vor der „Übergangszelle 1“. Nach einstündiger Einzelhaft auf Probe öffnet sich Mustafas Zellentür wieder. Der 15-Jährige sitzt still auf der Bank. „Wie war's? Erzähl deinen Kollegen mal, wie du dich gefühlt hast!“, sagt Hendrik, der mit 39 Jahren zu den älteren der sieben Inhaftierten zählt. „Langweilig“, lautet Mustafas knappe Antwort. „Was meinst du denn, wie viele Männer die Unterhose schon anhatten, die du jetzt trägst?“, fragt Tristan den Jugendlichen, der daraufhin nur mit den Schultern zuckt. „Bis zu 500 Leute, und unsere Matratzen werden nur alle acht Jahre getauscht - da will keiner mit dem Mikroskop reinschauen, was da alles drin ist.“ Die Jugendlichen hören konzentriert zu, stellen sich vor, wie es wäre, wenn sie an Mustafas Stelle für die Probehaft ausgewählt worden wären. „Und falls ihr keine Einzelzelle bekommt, müsst ihr vielleicht mit drei Russen auf eine Viererzelle. Wenn die den ganzen Tag russisches Fernsehen gucken, ist das einfach nur ätzend!“, sagt Tristan auf dem Weg zurück in den Besprechungsraum.
So, ihr bekommt jetzt alle diese Karten hier“, erklärt Hendrik nach dem Mittagessen, während er vor jedem der fünf Duisburger einen Stapel laminierter DIN-A-4-Karten ablegt. Darauf stehen verschiedene Verbrechertypen: Brandstifter, Mörder, Betrüger, Schläger, Drogendealer, Zuhälter. „Eure Aufgabe ist es, uns die Straftaten zuzuordnen“, erklärt Hendrik mit sächsischem Dialekt. „Ihnen?“, fragt einer der Jugendlichen überrascht. Erst jetzt scheint er richtig zu verstehen, dass die Männer in Blau wirklich Kriminelle sind. Oder zumindest waren.
Nachdem die fünf Jungs ihre Karten verteilt haben und sich wieder auf ihre Plätze gesetzt haben, fängt Hendrik an. „Zuhälter und Räuber bin ich nicht.“ Er zeigt die Karten, die ihm die Duisburger fälschlicherweise zugeordnet haben. Der 39-Jährige sieht aus wie ein durchschnittlicher Familienvater: Brille, blonder Mittelscheitel und freundlicher Blick. Sein Gesichtsausdruck wird ernst, als er fortfährt. „Ich bin das hier!“, sagt er und hält eine Karte hoch, die ihm keiner der Jugendlichen zugedacht hatte: Darauf ist ein Sarg abgebildet. Daneben steht „Mörder“. „Ein Polizist hat mich gezwungen, seine Frau umzubringen. Er hat mich und meine Familie mit dem Tod bedroht.“ Während Hendrik erzählt, schaut er niemandem ins Gesicht, sein Blick ist auf die Wand gerichtet. „Seit 1999 bin ich in Haft und kann bis heute nicht damit leben, dass ich einem Menschen das Leben genommen habe.“ Als der nächste Häftling anfängt, seine Geschichte zu erzählen, hört Hendrik nicht zu. Seine Gedanken sind immer noch woanders.
Sitzen bis 2011
Die Inhaftierten reden auf die Jungs ein, zeigen Parallelen zwischen ihren Werdegängen auf und sprechen eindeutige Prognosen aus: „Du wirst hundertprozentig im Knast landen!“ Oder: „Du musst verstehen, dass du drogenabhängig bist!“ Sie machen in ihrer Sprache deutlich, was es heißt, gefangen zu sein: „Ich muss noch bis 2011 sitzen“, sagt Tristan, der wegen Raubüberfällen und Autodiebstählen verurteilt wurde, „und ich weiß nicht mal, wie eine X-Box aussieht. Könnt ihr euch das vorstellen?“
Nach viereinhalb Stunden verlassen die Jugendlichen die JVA wieder. Alle fünf bekommen beim Pförtner Handys, Portemonnaies und Ausweise zurück. Nachdem sie sich von Hendrik, Tristan und den anderen verabschiedet haben, werden sie wieder gesprächiger. „Ist doch voll der Luxusknast“, tönt Mustafa auf dem Weg nach draußen. Ob der Tag im Gefängnis den 15-Jährigen wirklich kaltgelassen hat oder sich vor seinen Altersgenossen einfach nichts anmerken lassen will? Eines aber weiß Mustafa genau: Beim nächsten Mal - sollte es das geben - wird er seine Zelle nicht so schnell wieder verlassen dürfen.