Möchtet ihr die Mauer zurück?
01.08.2021 um 20:56P.Rodan schrieb:Soo groß sind die Annehmlichkeiten und Freiheiten ja auch nicht mehr.Könnte es sein, dass Du eine verklärte Sicht auf das Leben hinter Mauern und in einer Diktatur hast?
Nur mal als wenige Beispiele: Arbeitszeit 8,45 h/Tag. Danach Kids im Kindergarten abholen und anschließend Schlange stehen, um Obst und Gemüse auf den Tisch des Hauses zu zaubern. Donnerstags/Freitags Schlage stehen beim Fleischer und das Wochenendmenue wurde nachdem zusammengestellt, was man ergattern konnte.
Haus bauen ... puh ... da gingen Jahre ins Land, weil es an Materialien und bezahlbaren Handwerkern fehlte, selbst, wenn man es sich hätte leisten können.
Urlaub: mit etwas Glück und ein paar Beziehungen war auch mal die Ostsee drin.
Weißt Du, warum der Zusammenhalt im ehemaligen Osten zwischen den Menschen so hoch angesiedelte war? Weil ohne Beziehungen, Kontakte usw. nichts lief.
Mal ein Beispiel: Ich hatte mal den Kühlschrank mit vier Kilo Orangen voll (nicht die kubanischen, die nur zum Saft machen taugten), sondern richtige Navelorangen. Wie kam es dazu? Es wurde pro Person nur ein Pfund abgegeben. Mein gesamter Freundes- und Familienkreis stand in verschiedenen Geschäften an und so kam ich zu vier Kilo Navel-Orangen. Das war eher witzig und hatte Seltenheitscharakter.
1. Mai ... Tag der Arbeit/Feiertag: wer nicht demonstrieren war, wurde am nächsten Arbeitstag zum Gespräch zitiert. Die Überwachung funktionierte gut. Ist mir einmal passiert, weil mein Kind krank war, was ich natürlich nachweisen musste. Aber bevor, ich es nachweisen konnte, wurde ich erstmal rund gemacht.
Hast Du eine Vorstellung davon, wenn an einem Sonntag, der 1. Mai ist und Du stundenlang demonstrieren gehen musst und wenn Du es nicht tust mit Repressalien rechnen musst, die Dich und Deine Familie ins Unglück stürzen können? Da bekommt "Freiheit" eine wirkliche und auch realistische Bedeutung.
Freie Arbeitsplatzwahl: Fehlanzeige
Ich arbeitete in einem systemrelevanten Kombinat und wollte mich verändern. Für bestimmte Fachkräfte gab es im Umfeld Einstellungsstopps ... d. h. selbst, wenn sie Dich wollten und freie Stellen hatten, durften sie Dich nicht einstellen.
Es war eine harte Lebensschule in einer Diktatur und hinter Mauern aufzuwachsen und JA ... man lernt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und auch erfinderisch und flexibel zu sein, weil einem in einer Mangelwirtschaft gar nichts anderes übrig bleibt.
Und dann noch die menschlichen Tragödien, die man im Umfeld miterleben musste. Eine Freundin von mir war mit knapp 18 Jahren in Ungarn in Urlaub ... lernte dort einen LKW-Fahrer kennen, der sie über die ungarische Grenze schmuggelte. Sie wurden erwischt und sie kam für drei Monate in U-Haft.
Ihre Eltern erstatteten Vermisstenanzeige, als sie nicht wieder aus dem Urlaub zurück kam. Sie erfuhren erst 2,5 Monate später, dass ihre Tochter 50 km weiter in U-Haft mit politischen Häftlingen war. Und gerade der Umgang mit politischen Häftlingen in der ehemaligen DDR, war heftig. Erst die Einschaltung eines Anwaltes und die Hilfe der westlichen Verwandtschaft führten dazu, dass sie "freigekauft" wurde und nicht jahrelang in DDR-Gefängnissen verrotten musste.
Ihr Vater bekam in der Zeit der Ungewissheit einen schweren Herzinfarkt und er konnte sie erst viele Jahre später wiedersehen, da sie nach dem "Freikaufen" direkt in den Westen abgeschoben wurde und ihre Eltern natürlich nicht in den Westen reisen durften und sie keine Einreiseerlaubnis bekam.
Ich würde meinem ärgsten Feind, kein Leben in einer Diktatur und hinter Mauern wünschen.
P.Rodan schrieb:vor allem nicht mehr so sicher wie noch vor etwa 40-50 Jahren.Wenn Du Sicherheit willst, dann darfst Du Dir kein Leben in einer Diktatur wünschen, denn dort bist Du im Ernstfall rechtlos.