Familienbande: Netz oder Fesseln?
22.04.2019 um 14:02
Ich habe Eltern in doppelter Ausführung, leibliche und Adoptiveltern.
Meine leiblichen Eltern waren durch und durch gescheiterte Existenzen.
Der Vater das ungewollte Kind eines Kriegsveteranen, der traumatisiert aus der Gefangenschaft zurückkehrte in eine Familie verarmter Bauern, Hungerleider, die ihn durchfüttern mussten, da er nicht mehr arbeitsfähig war. Die Gefangenschaft hatte ihn körperlich und seelisch zerstört.
Gewalt, Missbrauch und Suizide waren in dieser Familie normal.
Mein leibliche Vater riss mit 18 von zuhause aus um nicht zur neu gegründeten Bundeswehr zu müssen.
Er fuhr erst zur See, später lernte er auf Sylt meine leibliche Mutter kennen und schickte sie in Hamburg auf den Strich.
Er war Zuhälter, Einbrecher, Erpresser und bei entsprechender Bezahlung "der Mann für's grobe" der aus anderen die Sch*iße herausprügelte.
Nachdem er 1972 einen Polizisten ins Krankenhaus geprügelt hatte wurde nach ihm gefahndet und er zog es vor, wieder zur See zu fahren.
Meine leibliche Mutter war ein ebenso unerwünschte Kind wie er.
Ihre eigene Mutter gehörte zu den Vertriebenen, die Schlesien Hals über Kopf und zu Fuß verlassen mussten.
Gelandet ist sie schlussendlich in Hamburg. Gerade 14 oder 15 und alleine, ihre Familie hatte die Flucht nicht überlebt.
Ich habe keine Ahnung, wie sie die Jahre bis 1952 zugebracht hat, aber so jung und alleine in der zerbombten Großstadt, in der noch lange gehungert und gestorben wurde, muss eine extrem prägende Lebenserfahrung gewesen sein.
1952 bekam sie unehelich meine leibliche Mutter.
Sie ist ihr wohl nicht sofort vom Jugendamt weggenommen worden (was damals bei leidigen Müttern, die keine Familie im Rücken hatten, durchaus normal gewesen wäre) sondern die ersten acht Jahre bei ihr aufgewachsen.
Dann kam ein Mann der gewillt war, sie zu heiraten, aber nicht das Schandbalg durchzufüttern.
Meine Mutter kam kurzerhand ins Kinderheim, um der Ehe nicht im Weg zu stehen.
Dort hat sie Karriere gemacht. Sie riss immer wieder aus und trieb sich rum, also wurde sie in ein geschlossenes Heim gesperrt.
Etwa 1971 trafen meine leiblichen Eltern sich dann auf Sylt, beide hatten dort Saisonjobs.
Sie verliebten sich ineinander (oder etwas, das sie dafür hielten) und zogen zusammen weiter nach Hamburg, wo sie in einer kleinen Absteige nahe der Reeperbahn lebten und arbeiteten.
Meine Mutter auf dem Rücken, mein Vater sorgte dafür, dass die Kundschaft den Weg zu ihr fand.
Wenn er einen Kunden für finanziell vielversprechend hielt, machte er Fotos die er diesem dann gegen entsprechende Bezahlung anbot.
Die Alternative wäre gewesen, das er die Bilder anderweitig verkauft hätte, zum Beispiel an die Familie oder den Arbeitgeber des Freiers.
Kurz nachdem mein Vater '72 den Abflug aus Hamburg gemacht hatte merkte meine Mutter, dass sie schwanger war. Irgendwie ist es ihr im Verlauf der Monate gelungen, Kontakt zu ihrem Kerl zu bekommen und ihn zu informieren, dass was kleines unterwegs ist.
Der Trottel ist tatsächlich zurückgekehrt und wurde prompt verhaftet.
Als ich 1973 geboren wurde saß er im Gefängnis, nützte meiner Mutter also gar nichts.
Die arme hat bis kurz vor meiner Geburt angeschafft. Da natürlich kaum ein Freier 'ne Schwangere wollte verdiente sie kaum etwas, konnte das Hotelzimmer, in dem sie immer noch lebte und arbeitete, nicht mehr bezahlen, flog raus und lebte auf der Straße, bis jemand Mitleid hatte und sie bei sich aufnahm.
Dann kam ich. Drei Tage Wehen bis die Ärzte schnallen, dass ich verkehrt lag, dann Kaiserschnitt. Nach 14 Tagen die Entlassung aus dem Krankenhaus, keine Kohle, keine Bleibe, Kind an der Backe.
An dem Punkt kamen meine Eltern ins Spiel.
Auch zwei Menschen, die wegen ihrer persönlichen Lebensgeschichten eher wenig für ein Leben als Familie geeignet waren.
Mein Adoptivvater erfuhr erst als fast Erwachsener, dass eigentlich seine Tante, eine in der Familie allseits zutiefst verachtet Frau, seine Mutter war. Er war das Ergebnis ihres "liederlichen" Lebenswandels in der Nachkriegszeit und mein Großvater, ein alter Nazi - Kapitän, versuchte mit Schlägen und Demütigungen die "schlechten Anlagen", die er zweifelsohne mitbekommen haben musste, aus ihm auszutreiben.
Seine Erfüllung fand mein Adoptivvater zeitweise als Feldjäger. Das aufspüren, festsetzen und zur Bundeswehr zurück bringen von Fahnenflüchtigen war "sein Ding".
Nach seiner Zeit bei der Bundeswehr suchte auch er sein Glück in Hamburg.
Dort hatte er auf dem Kiez die gleiche Stammkneipe wie meine Adoptivmutter.
Ich frage mich manchmal immer noch wie sie es geschafft hat, das Jugendamt einzulullen. Aber vermutlich hat man damals einfach nicht so genau hin gesehen.
Meine Adoptivmutter kam 1931 in Meckpomm zur Welt, unehelich natürlich, die Mutter verstarb im Kindbett. Die ersten Jahre blieb sie bei ihrer Oma, der Vater, der sie offiziell nie anerkannt hatte, war ein "Onkel".
Die Oma starb unerwartet eines schönen Nachmittags und meine Mutter, damals auch etwa acht Jahre alt, wurde kurzerhand darüber aufgeklärt dass der Onkel ihr Vater ist und sie ab sofort bei ihm leben würde.
Und bei der Familie, die er inzwischen gegründet hatte.
Da kam also auch sie als ungewollter, nutzlose Fresser in eine Familie in der gehungert wurde, in der sowohl Mutter als auch Vater die Kinder bis aufs Blut prügelten und der Vater den Mädchen der Familie seine ganz spezielle Art der Liebe regelmäßig im Schweinestall zukommen ließ.
Bis zur vierten Klasse durfte sie im Winter zur Schule gehen, während der Sommer musste sie auf dem Hof mit anpacken. 1941 schloss die Schule dann ganz und das war es dann mit der Schulbildung. Immerhin hatte die Zeit gereicht, dass sie Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen gelernt hatte.
Sie lief immer wieder weg, kam aber nie sehr weit bevor sie wieder aufgegriffen und zurück geholt wurde.
1950 schaffte sie es bis nach Hamburg, stieg am Hauptbahnhof - keine Geld, niemand der sie erwartete - und wurde vom Fleck weg als Prostituierte in einem "besseren" Etablissement (Abendkleidung, Hochsteckfrisur, erst die Gäste zum ausreichenden Verzehr der völlig überteuerten Getränke animieren, dann aufs Zimmer)
engagiert.
Die Geschäfte liefen gut für sie, sie hatte im Gegensatz zu vielen anderen Hamburgern eine solide Unterkunft mit Verköstigung (bei einer Ehemaligen, die zu alt zum Anschaffen war und sich um sie wie eine Mutter kümmerte) und kam gut über die Runden.
1951 dann ein Betriebsunfall, der 1952 zur Welt kam.
Ihre Vermieterin warf sie nicht hinaus sondern kümmerte sich um das Kind, wenn sie arbeiten ging.
Anschaffen für zwei, das war dann noch eine Nummer schwerer.
Als das Kind 16 war die Chance, solide zu werden und zu heiraten.
Also das Kind bei der Vermieterin gelassen und schnell vor den Traualtar.
Die Ehe hielt nur Monate.
Der Puff hatte inzwischen geschlossen, dank guter Beziehungen konnte sie in die Herbertstraße wechseln. Inzwischen aber schon Ende 30 liefen die Geschäfte nicht mehr gut und für 'nen Heiermann wollte sie nicht die Beine für stinkende Hafenarbeiter breit machen. Andere Kunden bekam sie aber nicht mehr.
Also ein paar Versuche mit seriöser Arbeit. Putzfrau im Krankenhaus, Küchenhilfe in einer Werftkantine.
1972 dann meinen Adoptivvater kennen gelernt, neue Chance auf ein normales, solides Leben. Fehlte nur ein Kind, mit 41 aber schwer möglich.
Anfang '73 dann das Gerücht, dass eine Kollegin vom Kiez in Schwierigkeiten steckt, ein Kind loswerden muss.
Also schnell geheiratet, dann das Kind unter Umgehung des Jugenamtes zu sich geholt.
Nachdem meine leibliche Mutter sich monatelang nicht mehr blicken lies doch das Jugendamt kontaktiert ; Antrag auf Pflege von Kind x: genehmigt in Abwesenheit der Mutter (da nicht auffindbar) später Antrag auf Adoption: ebenso genehmigt.
Umzug in eine andere Gegend, Job als Hausmeisterin mit Dienstwohnung, den Mann zu einer Stelle im öffentlichen Dienst gedrängt.
Alles grundsolide.
Und doch kein Glück. Weder Zufriedenheit noch Liebe.
Meine Eltern haben beide gesoffen, sie haben sich miteinander und mit anderen geprügelt, mein Vater hat immer und immer wieder das komplette Geld beim Skat verzockt.
Hysterisch kreischende Auftritte meiner Mutter, an die Wand fliegendes Geschirr, zertrümmerte Möbel.
Schläge auch für mich, Eltern die in ihrem Erbrochenen lagen, blaue Augen und blutende Nasen.
Als ich neun war, flog mein Vater raus.
Es wurde dann zeitweise ruhiger, meine Mutter behielt aber ihre Affinität zum Alkohol. Außerdem musste ein neuer Mann beschafft werden, ein paar Jahre war es ein stetiges Kommen und Gehen. Sie hatte alle schnell im Bett (gelernt ist gelernt), konnte aber keinen halten.
Meinen Vater sah ich nur sporadisch, meisten besoffen, wenn er kam um meine Mutter nach Geld anzubetteln, weil er mal wieder alles versoffen und verspielt hatte. Als ich 16 war riss der Kontakt ganz ab und erst 20 Jahre später hörte ich wieder was von ihm.
Genauer gesagt vom Bezirksamt. Ich solle mich doch bitte um seine Beerdigung kümmern.
Seitens meiner Adoptivmutter gab es noch eine Nenn-Familie, Onkel, Tante und Cousine.
Diese hielten fest zu meiner Mutter und ich genoss als Kind die Zeiten, die ich dort verbringen durfte.
Normalität, eine stinknormale, im wesentlichen harmonische Familie.
Nicht, dass mir dort etwa geglaubt wurde, wenn ich als Kind mein Herz ausschüttete über das, was zuhause passierte. Mir wurde stets und von allen Seiten vorgehalten, was für ein undankbares Blag ich doch sei, ich müsse meiner Mutter auf Knien dankbar sein, dass sie mich vor dem Kinderheim gerettet habe etc, etc blabla.
Meine Adoptivmutter verstand es aber auch vortrefflich andere zu manipulieren und ihre Lügen konnten den größten Skeptiker überzeugen.
Wenn ihr etwas nicht passte, spielte sie schwere Erkrankungen oder akute Herzinfarkte mit hollywoodreifer Inszenierung oder drohte mit Selbstmord.
Als sie und ihr Mann (den sie irgendwann ergattert hatte und auf dessen schnelles Ableben sie zwecks Witwenrente hoffte, er war schon 90) meine Kinder schlugen, kam es zum Eklat.
Mir sind so viele Dinge aus meiner Kindheit wieder eingefallen, die ich lange fein säuberlich verdrängt hatte.
Da mein Mann und ich uns damals recht klar darüber geäußert haben was geschen würde, wenn sie eines unserer Kinder auch nur noch ein einziges Mal anpacken würden, kam es zum Bruch.
Meine Mutter rief mich an und teilte mir mit, dass sie und ihr Mann uns nie wieder sehen wollten. Wir hatten damals einen (ziemlich hohen) Kredit für die beiden aufgenommen, den sie aus Altersgründen nie bekommen hätten.
Der letzte Satz meiner Mutter war: "ach übrigens, das Geld könnt ihr vergessen".
Die oben erwähnte Nenn-Familie hat sich damals auch komplett von mir abgewendet.
Seitdem gibt es an Familie meinem Mann, unsere Kinder und mich.