Ist das schon sexueller Missbrauch?
14.11.2008 um 14:12
Inzwischen wird zusehends mehr Kritik an dem effekthascherischen Buch laut:
Michael Schneider
Sind Deutschlands Jugendliche Sex-Monster?
Gang Bang im Kinderzimmer, SM-Pornos zum Frühstück, Schwangerschaft mit 13 - glaubt man einem Buch, das die Leiter des Hellersdorfer Jugendzentrums »Die Arche« vor wenigen Wochen veröffentlicht haben, geht es in deutschen Kinderzimmern wüster zu als in den härtesten Pornofilmen.
In »Deutschlands sexuelle Tragödie« prophezeien die Autoren Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher den sexuellen Super-GAU, wenn sich im Sexleben deutscher Jugendlicher nicht bald etwas ändert. Wir fragten den Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Schmidt, wie es um die Jugendsexualität in Deutschland wirklich bestellt ist.
Herr Prof. Dr. Schmidt, die beiden Autoren des Buches »Deutschlands sexuelle Tragödie« zeichnen ein schwarzes Bild vom sexuellen Alltag vieler Jugendlicher. Ist die deutsche Jugend sexuell verwahrlost?
Sicherlich führen desolate und elende Familienverhältnisse von Jugendlichen manchmal auch zu »elenden« Erscheinungsformen ihrer Sexualität - zu Hilflosigkeit, Gleichgültigkeit, zu Brutalität oder Sexismus. Allerdings pauschalisieren Herr Siggelkow und Herr Büscher in fahrlässiger Weise. Denn die Lebensläufe, die in ihrem Buch beschrieben werden, sind extrem selten. Es gibt keinerlei empirische Beweise dafür, dass Jugendliche immer früher Sex haben, immer schlechter verhüten, und immer mehr Sexpartner haben. Im Gegenteil: das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert, das Verhütungsverhalten der Jugendlichen hat sich seit den 1970er Jahren ständig verbessert und die Rate jugendlicher Schwangerschaften ist in Deutschland besonders niedrig. Jugendsexualität ist in Deutschland in einem guten Zustand. Wenn die Autoren von Verwahrlosung sprechen, ist das in erster Linie eine Metapher für ihre eigenen moralischen Werte...
...unter Verwahrlosung verstehen die Autoren »das beliebige Eingehen von körperlichen Beziehungen ohne seelische Nähe«. Sie setzen also voraus, dass Sex und Liebe untrennbar zusammengehören.
Diese Auffassung ist in unserem Kulturkreis besonders verbreitet und wird moralisch gefordert. Dadurch geraten jedoch bestimmte jugendkulturelle Veränderungen der Sexualität unter das Totschlag-Etikett der »Verwahrlosung«.
Zum Beispiel in einem Fall, den die Autoren so schildern: Ein 14-jähriger Jugendlicher hat nachmittags zu Hause seinen ersten Geschlechtsverkehr. Hinterher trinkt seine Mutter mit ihm und seiner Partnerin ein Bier.
Ich frage mich, was daran verwahrlost sein soll? Ist doch eigentlich ganz nett. Man stelle sich einmal vor, die Heldin des Bestsellers »Feuchtgebiete« wäre im Jugendzentrum »Arche« aufgetaucht. Wahrscheinlich wäre ihre Geschichte als ein besonders eklatanter Fall von Verwahrlosung ins Buch aufgenommen worden - und die Jungen und Mädchen, die »Feuchtgebiete« lesen, gleich mit. Der nichtkonventionelle und vor allem radikal selbstbestimmte Umgang mit Körper und Sex fasziniert offenbar viele Jugendliche, zumindest in Gedanken.
Herr Siggelkow und Herr Büscher beklagen eine Banalisierung von Sex unter Jugendlichen.
Seit den 1970ern ist Jugendsexualität hierzulande üblich und insofern alltäglich geworden, und sie wird von den Erwachsenen im Großen und Ganzen akzeptiert. 15- oder 16-Jährige dürfen heute in der Regel mit ihrem Liebsten oder ihrer Liebsten zu Hause übernachten. Die Arche-Autoren unterstellen, Jugendsex sei größtenteils verantwortungslos, pornographisch, promisk und rücksichtslos. Wenn man ihnen glaubt, wird es in Zukunft nur noch besinnungslose Sex-Monster geben, die Aids-Rate wird explodieren und sexualisierte Kinder werden massenhaft Pädophilen in die Arme laufen. So ein Quatsch! Jugendsexualität ist offenbar immer noch ein Feld, aus dem gerne Katastrophen – »Deutschlands sexuelle Tragödien« - gestrickt werden.
Die Autoren sprechen auch davon, dass Pornografie im Internet das Sexualverhalten von Jugendlichen dramatisch verändert habe.
Die Welt ist seit den 60er Jahren sexualisiert. Seitdem wurde Sexualität in Zeitschriften, im Fernsehen, im Kino und auf Video gezeigt. Die Jugendlichen sind daran weder zugrunde gegangen noch haben sie Schaden genommen. Das Interessante ist ja: Durch die alltägliche Sexualisierung ist unser Umgang mit Sexreizen gelassener geworden. Heute sehen Jugendliche ganz cool sexuelle Bilder und Filme, die ihre Väter noch in einen Ausnahmezustand versetzt hätten. Die Gelassenheit, mit sexuellen Reizen umzugehen, hat also erheblich zugenommen. Man kann das als Akt der Zivilisierung betrachten.
Sie finden es also nicht bedenklich, wenn sie hören, dass 9-jährige Kinder im Beisein ihrer Eltern Pornos gucken oder sich ein Vater im Beisein seiner Kinder vor dem Internet selbst befriedigt?
Solche Fälle sind schrecklich, weil dort notwendige innerfamiliäre Grenzen zusammenbrechen. Das ist aber kein Problem der Verfügbarkeit von Pornographie, sondern ein Problem innerhalb der Familie.
In einem anderen Fall aus dem Buch wird die Geschichte eines sexuell sehr erfahrenen 14-jährigen Mädchens geschildert. Es schaut sich gemeinsam mit seiner noch relativ jungen Mutter einen Pornofilm an. Danach tauschen sich die beiden darüber aus, welche Sex-Praktiken besonders interessant sind.
Wenn zwei sexuell erfahrene, offenbar vertraute Menschen so etwas machen, ist das doch ihre Sache, was spricht dagegen?
Das Alter der Tochter zum Beispiel?
Es geht nicht um das Alter der Tochter, sondern darum, dass sie sexuell erfahren ist und damit auch zurechtkommt. Für manche Menschen ist eine sexuell erfahrene 14-Jährige offenbar per se schon ein Zeichen der Verwahrlosung.
Führt die leichte Verfügbarkeit von Pornos zu sexueller Abstumpfung?
»Abstumpfung« in welchem Sinne?
Dass Jugendliche immer stärkere Reize brauchen, um sexuell stimuliert zu werden.
Nein. Wenn von »stärkeren« Reizen gesprochen wird, ist doch meistens gemeint, dass die Reize immer »perverser« und immer brutaler werden müssen. Nur weil jemand von Koitus-Szenen genug hat, wendet er sich SM-Pornos zu? Das ist Unsinn. Wir fragen immer, was die Pornographie mit den Menschen macht. Es ist viel intelligenter zu fragen: Was machen die Menschen mit der Pornographie? Wir, Junge wie Alte, gehen sehr wählerisch mit sexuellen Reizen um. Es stimulieren uns vor allem diejenigen sexuellen Reize, die unserem Grundmuster sexuellen Begehrens entsprechen. Wir wählen sehr genau aus, welche Dinge wir uns anschauen und welche nicht.
Wie weit sind Jugendliche in ihrer Sexualität überhaupt formbar?
Die Idee, dass Jugendliche durch das Betrachten von SM-Szenen oder schwulem Sex im Internet plötzlich Interesse daran haben, ist eine absurd vereinfachte Vorstellung. Wenn wir in die Pubertät kommen, ist unsere sexuelle Entwicklung bereits weit voran geschritten. Die Struktur des sexuellen Begehrens entwickelt sich von der Kindheit an. Ich will damit sagen, dass mit dem Menschen nicht alles machbar ist. Aus einem friedlichen Menschen wird nicht plötzlich ein Vergewaltiger, nur weil er Pornos schaut. Ich glaube, dass die allermeisten Jugendlichen kompetent genug sind, um mit der Pornoflut umzugehen - und dass viele von ihnen über diesen »Erwachsenenkram« rasch und ein wenig gelangweilt hinwegsehen. Man sollte ihnen mehr zutrauen.
Besteht die Gefahr, dass Jugendliche aggressive Sexualpraktiken aus Pornos mit der Realität gleichsetzen?
Nein, in der Regel nicht. Selbst wenn es sie erregen sollte, setzen sie diese Praktiken nicht in die Tat um. Nicht die Pornographie ist der Grund, warum Jugendliche sexuell auffällig sind, sondern die sozialen Verhältnisse, aus denen sie kommen. Wir neigen dazu, die sozialen Verhältnisse hinter der Pornographie zu verstecken.
Forderungen nach einer strengeren Überwachung der Medien sind also überzogen?
Ich wüsste gar nicht, wie man die Verbreitung von Pornographie verhindern sollte! Das Internet ist schwer zu kontrollieren und man käme sehr schnell an die Frage der Zensur. Statt »Deutschlands sexuelle Tragödie« zu beschwören, sollten wir mit Jugendlichen darüber reden, was sie mit Pornographie machen. Die Bedeutung des Pornokonsums verändert sich mit dem Alter. Wenn ein 12-Jähriger seinen Freunden Sex-Szenen auf dem Handy zeigt, ist das oft schlicht eine Mutprobe. Die Frage, wer das geilste, wüsteste Bild hat, kann so etwas wie ein Mannbarkeitsritus sein. Einige Jugendliche betrachten eine SM-Szene mit der gleichen Verwunderung, wie sie über ein fünfbeiniges Tier staunen würden. Ältere Jugendliche sehen sich Pornos vielleicht an, um etwas über Sexualität und über Techniken zu lernen, oder um die Lust bei der Masturbation zu steigern. Einige Paare benutzen Pornographie, um langsam in den Sex hinein zu gleiten. Solchen Paaren fällt nichts anderes ein, mag man einwenden, aber wir müssen doch andere nicht dauernd mit unseren Vorstellungen von sexueller Richtigkeit behelligen.
Können Restriktionen und Verbote nicht auch sinnvoll sein?
Immer wenn Jugendsexualität mit Verboten belegt wurde, hat sie ein wenig erfreuliches soziales Gesicht gehabt. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass in es in einer Gesellschaft wie den USA, in der die Jugendsexualität besonders restriktiv gehandhabt wird, fünfmal so häufig wie in Deutschland zu ungewollten Schwangerschaften Minderjähriger kommt, Geschlechtskrankheiten sehr viel mehr verbreitet sind, dass Verhütung sehr viel laxer gehandhabt wird und dass auch die Gewalt gegen Mädchen sehr viel häufiger ist, als in Gesellschaften, wo Jugendsexualität liberal gehandhabt wird. Das sollte uns zu denken geben.
Prof. Dr. Gunter Schmidt, geboren 1938, ist Sexualforscher, Psychotherapeut und Sozialpsychologe. Bis 2003 lehrte er am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Er gilt durch diverse Forschungsprojekte über die Sexualität von Jugendlichen und Studierenden als Koryphäe auf dem Gebiet der Jugendsexualität. Schmidt publizierte zahlreiche wegweisende sexualwissenschaftliche Bücher über den kulturellen Wandel der Sexualität und war lange Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Gegenwärtig ist er Mitglied des Bundesvorstandes des Fachverbandes Pro Familia, wo er das Forschungsprojekt »Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen« leitet.
(www.berlin030.de)