Die Intelligenz der Seele
04.05.2006 um 00:32
WENN DIE SEELE VERLORENGEHT
Der Fortschritt in den Neurowissenschaften erforderteine neue Bewußtseinskultur
In den vergangenen zehn Jahren haben wir mehrüber das menschliche Gehirn erfahren als in den dreihundert Jahren zuvor. Es istanzunehmen, daß sich der Wissenszuwachs in den Neuro-, Informations- undKognitionswissenschaften mit großer Geschwindigkeit fortsetzen wird und sich damit auchunsere Möglichkeiten vielfältig erweitern, das menschliche Gehirn direkt zu beeinflussen.Was wir derzeit erleben, ist allem Anschein nach erst der Anfang einer umwälzendenEntwicklung: Menschliches Bewußtsein wird technisch verfügbar, subjektives Erleben kannbeeinflußt und effektiv manipuliert werden. In vielen dieser neuen Handlungsräume werdenunsere moralischen Intuitionen versagen.
Heute geht es nicht mehr nur umethische Detailfragen, wie sie sich beispielsweise in Zusammenhang mitBewußtseinsexperimenten à la Persinger stellen (siehe nebenstehenden Beitrag): Wirbewegen uns auf ein grundlegend neues Verständnis dessen zu, was es heißt, ein Mensch zusein. Die fortgeschrittenen Neuro- und Informationstechniken der Zukunft werden in vielenFällen Bewußtseinstechniken sein. Aus diesem Grund brauchen wir nicht nur eineNeuroethik, sondern auch eine Bewußtseinsethik, eine neue Bewußtseinskultur.
Wonach viele bereits suchen, ist eine "normative Psychologie". Aber: Was ist überhauptein "guter Bewußtseinszustand"? Gibt es Formen des subjektiven Erlebens und derSelbsterfahrung, die "besser" sind als andere? Solche Fragen betreffen nicht mehr nur diemedizinethischen Implikationen des technischen Zugriffs auf das menschliche Gehirn,sondern auch so weit voneinander entfernte Bereiche wie etwa die Behandlung vonSterbenden oder den Tierschutz, die Drogenpolitik oder die Pädagogik. Am Ende geht esnatürlich um die klassische Frage, was überhaupt ein gutes Leben ist.
Nehmenwir zum Beispiel die enorme Erweiterung unserer medialen Umwelt durch das Kabelfernsehen,durch interaktive Unterhaltungselektronik oder die weltweite Kommunikation über dasInternet. Die Ankoppelung von immer mehr Menschen an die zeitliche Eigendynamik der neuenMedien zwingt dem Nervensystem bestimmte Rhythmen und Zeittakte auf. Dabei ist denkbar,daß die neuen Medien dem menschlichen Gehirn unablässig eine erhöhteAufmerksamkeitsleistung abverlangen. Das könnte auf Dauer zu einer permanenten Verkürzungder Aufmerksamkeitsspanne, zu Konzentrationsstörungen und zu bleibendenBeeinträchtigungen kognitiver Fähigkeiten führen.
Ein zweites Beispiel: diePsychopharmakologie. Der Einsatz psychoaktiver Substanzen zu medizinischen oderreligiösen Zwecken ist eine der ältesten Bewußtseinstechniken der Menschheitsgeschichte.Bald wird es als Resultat der neurowissenschaftlichen Forschung neue Medikamente geben,die auch geistige Funktionen modulieren oder wiederherstellen. Das könnte uns in denStand versetzen, psychische Erkrankungen oder die senile Demenz zu beeinflussen. Eseröffnet aber erstmals auch die Möglichkeit einer "kosmetischen Psychopharmakologie",etwa in Form alltagstauglicher und für den Dauergebrauch geeigneter Stimmungsaufheller.Hier haben wir es zunächst nur mit einer Grauzone der psychiatrischen Medizin zu tun, dieprinzipiell gesetzlich geregelt werden kann. Daneben wird es aber immer auch eineillegale Psychopharmakologie geben, die einen illegalen Markt mit ständig neuen Drogenbedient.
In die Pädagogik - ein drittes Beispiel - dringen neue,computergestützte Formen des Lernens ein. Kinder werden in Zukunft wohl häufig vor demBildschirm lernen, etwa von einer CD-ROM oder direkt aus dem Internet. Weil neueLerntechniken auch neue Erlebnisformen und damit persönlichkeitsbildende Arten derSelbsterfahrung vermitteln, vergrößert sich die psychologische Kluft zwischen denGenerationen. Überdies ist menschliche Intelligenz zu einem überwiegenden Teil"Körperintelligenz": Wir sind leibliche Wesen, die ihre Beziehung zur Welt zum großenTeil durch körperliche Handlungen aufbauen. Niemand weiß zum Beispiel, wozu es führenwird, wenn junge Menschen sich in den entscheidenden Phasen ihrer Entwicklung längereZeit in künstlichen Umgebungen bewegen, wenn der zwischenmenschliche Kontakt in derSchule durch eine entkörperlichte Mensch-Maschine-Beziehung ersetzt wird.
Eswäre deshalb ein Fehler, die sozialethische Dimension des Problems auszublenden.Gleichzeitig geht es jedoch auch um die kulturelle Umsetzung der neuen Erkenntnisse.Nehmen wir einmal an, die Forschung findet tatsächlich heraus, auf welche WeiseGehirnvorgänge Bewußtsein und subjektives Erleben erzeugen. Damit würde der klassischeBegriff der "Seele" für viele zu einem leeren Begriff: Theorien, die sich noch an diesemBegriff orientieren, würden dann genauso irrational erscheinen wie die PtolemäischeTheorie, nach der sich die Sonne um die Erde dreht. Das könnte dazu führen, daß Leute,die an ein Leben nach dem Tod glauben oder hartnäckig mit altmodischen Begriffen wie demder "Seele" operieren, genauso verlacht werden wie Leute, die heute noch im Ernst anPtolemäus' Weltbild glauben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die neuen Beiträge zuunserem Menschenbild in einigen Aspekten - besonders im subjektiven Empfinden vielerMenschen - eine Demütigung und eine Kränkung darstellen. Deshalb ist es wichtig, demAufkommen eines szientistischen Vulgärmaterialismus vorzubeugen, indem man die neuentstehende Anthropologie selbst zum Gegenstand kritischer Diskussionen macht.
Wir brauchen deshalb eine neue Bewußtseinskultur. Es ist nicht damit getan, dieethischen Implikationen des Aufkommens bestimmter neuer Medizin- oderBewußtseinstechniken im allgemeinen zu diskutieren. Worum es geht, ist die Einbettungsowohl der technologischen als auch der theoretischen Entwicklung in eine kulturelleEvolution, die mit ihnen Schritt halten kann.
Wie könnte eine rationaleBewußtseinskultur aussehen? Sie hat nichts mit organisierter Religion oder einerbestimmten politischen Vision zu tun. Bewußtseinskultur wird darin bestehen, Individuenzu ermutigen, die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Den gegenwärtigenMangel an echter Bewußtseinskultur kann man als gesellschaftlichen Ausdruck dessteckengebliebenen Projekts der Aufklärung deuten: Was uns fehlt, ist nicht Glauben,sondern Wissen; nicht Metaphysik, sondern eine neue Variante praktischer Rationalität.
Im Bereich der neuen Medien ist die Kultivierung einer bestimmten Art vonpsychohygienischer Intelligenz am wichtigsten: Wir werden zum Beispiel lernen müssen, mitvielen hundert Fernsehprogrammen und Abermillionen von Seiten im World Wide Webumzugehen, ohne abzustumpfen oder süchtig zu werden. Wir werden auch lernen müssen,weltweit vertrauensvoll mit Menschen zu kommunizieren, die wir niemals persönlichkennenlernen.
Deutlich verfahrener ist die Situation im Bereich derDrogenpolitik. Der Schaden, der durch jahrzehntelange Desinformation und eineundifferenzierte Prohibitionspolitik angerichtet worden ist, läßt sich kaum abschätzen.Rationale Bewußtseinskultur bedeutet in diesem Bereich zunächst, einer Reihe voneinfachen Tatsachen ins Auge zu sehen. Eine solche Tatsache ist: Von achtzig MillionenMenschen in Deutschland sind zehn Millionen alkoholsüchtig und etwa eine Millionmedikamentenabhängig. Von illegalen psychoaktiven Substanzen dagegen sind nur 50 000Personen abhängig. Der Schaukampf gegen die illegalen Substanzen dient, so könnte manvermuten, der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung dieses Sachverhalts. Eine andereeinfache Tatsache besteht darin, daß der Kampf gegen die illegalen psychoaktivenSubstanzen längst verloren ist: In den reichen Industrieländern sind die Verfügbarkeit,die Qualität und die Preisstabilität dieser Stoffe gleichbleibend hoch, weil dieentsprechenden Märkte seit langem relativ reibungslos funktionieren. Erst wenn mansolchen Tatsachen ins Auge sieht, könnte man untersuchen, woran es eigentlich liegt, daßein so uninteressanter Bewußtseinszustand wie die durch Äthanol ausgelöste dumpfeEnthemmung zum globalen Spitzenreiter in der psychopharmakologischen Freizeitgestaltungwerden konnte. Erst dann könnte man eine rationale Diskussion darüber einleiten, welchedurch psychoaktive Substanzen ausgelösten Bewußtseinszustände wir langfristig in unsereKultur integrieren wollen und welche nicht.
In der Pädagogik könnterationale Bewußtseinskultur bedeuten, in den Schulen ideologiefreie und säkularisierteFormen der Selbsterfahrung anzubieten, zum Beispiel bestimmte Formen von Meditation oderautogenem Training. Dadurch würde es jungen Menschen ermöglicht, auf ungefährliche WeiseGrenzerfahrungen zu suchen und in eigener Regie veränderte Bewußtseinszustände ohneSuchtpotential zu entdecken. Auch in anderen kulturellen Traditionen begeben sich jungeErwachsene seit langem systematisch auf die Suche nach solchen Grenzzuständen dessubjektiven Erlebens - allerdings meistens in einem rituellen Kontext. Die westlicheKultur hat dagegen äußerst wirksame und gefährliche Möglichkeiten zurBewußtseinsveränderung entwickelt, ohne dafür einen angemessenen Kontext anbieten zukönnen. Bei uns sind Jugendliche einfach allein.
Bewußtseinskultur in derSchule müßte über das akademisch-intellektuelle Bildungsideal hinausgehen und denSchülern und Schülerinnen Mittel an die Hand geben, mit denen sie ihre Autonomie beimUmgang mit dem eigenen Bewußtsein erhöhen können. Natürlich könnte man dasselbe auch mitBlick auf die Universitäten fordern.
Insbesondere besitzt das Projekt einerrationalen Bewußtseinskultur auch einen forschungspolitischen Aspekt: Welchen Stellenwertbesitzt überhaupt der wissenschaftliche Fortschritt in diesem Bereich derSelbsterkenntnis? Wieviel Geld ist der Gesellschaft die empirische Erforschung derGrundlagen des menschlichen Bewußtseins durch die Neuro- und Kognitionswissenschaften inZukunft wert - und wieviel Geld ist ihr dabei die begleitende philosophischeInterpretation der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse wert?