Stadt oder Land?
12.03.2023 um 15:56
Ich bin in einem großen Dorf großgeworden - ca. 6km entfernt beginnt eine Kleinstadt, wo auch die weiterführenden Schulen waren. Als Kind war ich gerne hier. Meine beste Freundin hatte einen Bauernhof und ich fand es einfach toll - ich bin auch gerne auf dem Reiterhof gewesen und geritten.
Da ich mich mit meinen Eltern nicht gut verstanden hatte und eh "im Weg war", habe ich mit 16 eine Ausbildung in einem Betrieb ca. 150km entfernt begonnen. Das war schon ein anderes Kaliber Dorf. Es gab keine Kleinstadt in der Nähe, es gab keinen Bahnhof, d.h., es wurde alles mit Überlandbussen erledigt - die fuhren z.B. Sonntags gar nicht. Ich hatte Samstag + Sonntag wegen des JuSchutzgesetz frei (war noch minderjährig) und langweilte mich oft furchtbar. Meine Mitazubis wurden Freitags zur Mittagszeit abgeholt und ich fand nicht wirklich Anschluss. Schön war es, wenn mal jemand übers Wochenende da blieb. Die Leute, die ich in der Berufsschule traf, wohnten einfach für eine Fahrradtour zu weit weg, kamen oft von Bauernhöfen, wo Sonntag ein "Familientag" war ... Da habe ich das Landleben wirklich gehasst. So ein Samstag oder gar Sonntag konnte endlos sein.
Nach der Ausbildung (die auch keinen Spaß machte, man hat sie halt durchgezogen) zog ich dann mitten in eine Großstadt und machte das Abitur nach. Ich wohnte direkt in einer WG in einem Hinterhaus im Stadtzentrum - und habe v.a. die negativen Seiten mitbekommen - hohe Mieten, nachts ewig viel Lärm (da war auch die Partystraße). Da ich zwar Schüler Bafög bekam, das aber knapp die Nebenkosten deckte, habe ich am Wochenende sehr oft gebabysittet - da habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, in der Stadt zu wohnen und Geld zu haben. Ein Paar machte regelmäßig am Samstagabend seine "Datenight" und ging nobel essen, ins Theater/Kino und dann noch etwas trinken - da spielte Geld keine Rolle und sie gaben an einem WE mehr aus, als ich für den Monat übrig hatte. Sie lebten auch in einem noblen Vorort, mit einem großen Garten ... das wäre wahrscheinlich gut gegangen. Ich bin oft heimgelaufen (Fahrräder wurden oft gestohlen) - mitten in der Nacht und hatte auch oft Angst. 1-2 mal ist mir tatsächlich jemand gefolgt, es ging aber immer gut aus - ich habe glücklicherweise immer jemanden getroffen, der mir half.
Als ich das Abi dann hatte, hatte ich es satt, immer arm zu sein, in schäbigen WGs zu wohnen. Da habe ich dann in meinem erlernten Beruf gearbeitet - in einer anderen Großstadt. Da zog auch mein fester Freund hin, wir zogen zusammen und hatten unsere erste Paarwohnung. Das war eine schöne Zeit - wir waren oft weg, ich habe viel Neues erlebt (Kinofilme, Restaurantbesuche, konnte die Einkaufsmöglichkeiten der Stadt nutzen, es gab eine tolle Stadtbibliothek). Dann trennten wir uns - und, da er im Mietvertrag stand, war ich echt kurz in Gefahr, obdachlos zu werden. Daher endete das nicht so gut.
Ich habe dann beschlossen, zu studieren und zog in eine dritte Großstadt. Da hatte ich wieder die Probleme wie beim Abi - die Uni lag am Rand der Großstadt und ich zog noch weiter hinaus, es war schon fast etwas ländlich. Der Mietpreis war hoch, Freitag/ Samstag habe ich gearbeite und mit dem Geld, was ich hatte, halt irgendwie jongliert. Oft war mein Essensbudget 15DM bis 20DM für die Woche, so konnte ich mir nicht mal täglich das Mensaessen leisten. Da wir kein Semesterticket hatten, sah ich das Stadtzentrum eigentlich nie, weil es hin und zurück damals ca. 12DM gekostet hätte - unerschwinglich, zum Einkaufen hatte ich eh kein Geld. Blöd war (v.a., weil ich eine 12qm Kellerbude hatte), dass ich keinen Ort hatte wie auf dem Dorf, wo ich einfach mal draußen hinsitzen konnte. Es gab keine öffentlichen Parks, in dem nicht irgendein Gesindel herumsaß. Daher bin ich oft Sonntagnachmittags zum Lernen auf den Friedhof gegangen. Klingt schräg, aber ich wohnte in der Nähe und es ergaben sich auch oft Gespräche.
Da ich Anglistik studiert habe und mir keines der Uniaustauschprogramme leisten konnte, war ich dreimal in den Semesterferien in einem Hotel an der schottischen Küste. Das war wieder eine Kleinstadt - aber die Sommer dort waren toll. Ich habe viel gelesen, fotografiert, geschrieben, bin am Strand entlang gegangen, habe meine freien Tage in Edinburgh verbracht ...Ich habe zwischendurch mal überlegt, ob ich bleibe und habe immer schrecklich geweint, wenn der Sommer vorbei war und ich zurück nach Deutschland musste.
Dann hatte ich das Studium beendet - und war Mutter geworden. Weil sich wohnungstechnisch in der Großstadt nichts ergab, bin ich wieder in mein Heimatdorf zu einem Onkel gezogen. Eigentlich sollte es vorübergehend sein, 20+ Jahre später lebe ich immer noch hier. Ich mag die Kleinstadt, in der ich auch arbeite. Unser Dorf ist nicht so ab vom Schuss, dass nicht Sonntags wenigstens ein Bus fährt. Die Kleinstadt bietet ein paar Läden, Kino, ... daher nicht so schlimm. Wenn ich Ferien habe, fahren wir -je nach Laune- oft für einige Nächte entweder nach München, Stuttgart, Karlsruhe oder Frankfurt (Main). Dann konsumieren wir Großstadt - Theater, Museen, ... da nehmen wir viel Kultur mit und machen auch einen Einkaufstag. Die Kinder machen meistens noch einen Funtag (Spaßbad, Lasertag, Escape Room, lustige Stadtführung, ....).
Mit der Lösung bin ich ganz zufrieden. Hier gibt es einige Leute, die in Konstanz, Freiburg oder Stuttgart noch eine "Theaterwohnung" haben. Oft wird die für die Kinder gekauft, wenn sie studieren und dann behalten. Da die Ärzteversorgung bei uns auf dem Land echt schlecht ist, gehen viele ältere Leute dann in der Großstadt zum Facharzt und schlafen dann in ihrer Wohnung. Unser Hausarzt macht das auch so - er meint, wenn er am Wochenende da ist, hat er so viele moralische Verpflichtungen, wenn Leute dann anrufen zwecks Totenschein, etc., wenn es ein langjähriger Patient war. Er geht so jede zweite Woche und taucht in einer Großstadt ab (ich weiß nicht, in welcher).
Meine drei Kinder: Kind#1 studiert in einer deutschen Großstadt, ist aber keine Partymaus, daher stöhnt sie eher über Lärm, seltsame Menschen und Mieten. Kind #2 weiß noch nicht, wo die Reise hingeht. Kind #3 ist ein echtes Landei - er ist bei der Landjugend, der Feuerwehr, den Ministranten, dem Musikverein und dem Fußballverein. Mehr Vereine gibt unser Kaff gar nicht her. LOL.