Ritalin gegen ADS/ADHS
02.06.2005 um 20:59
Kindische Drogenkultur
ADHS - wenn Onkel Doktor Stille schafft
Bewegt Ihr Kind oft seine Arme, Hände, Beine oder Füße? Rennt es herum während andere sitzen und hat es Schwierigkeiten, geduldig in einer Schlange zu stehen? Wird Ihrem Kind schnell langweilig? Hat es Probleme mit Hausaufgaben und handelt bevor es denkt? Wenn sich diesen Faktoren auch noch Tagträumerei hinzugesellt, sollten Sie laut dem amerikanischen National Institute for Mental Health (NIMH) schleunigst Ihrem Nachwuchs den Kopf durchleuchten lassen. Denn dies sind, so das NIMH, die Kriterien, die auf das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) hinweisen. ADHS wird weltweit durch Medikamente und begleitende Verhaltenstherapie behandelt. Methylphenidat nennt sich der Wirkstoff, der ab dem Vorschulalter verschrieben wird - besser bekannt als Ritalin, ein Amphetamin-Derivat, das sich das pharmako-logische Profil mit Kokain teilt. Als Mitte der neunziger Jahre Massen-verschreibungen in den USA bekannt wurden, und auch in Europa ein beinahe dreißigfacher Anstieg im legalen Ritalingebrauch zu beobachten war, machte ADHS zum ersten Mal Schlagzeilen. Dabei teilten sich die Kritiker in drei randlose Gruppen. Die stärksten Skeptiker, unter ihnen auch praktizierende Neurologen, leugneten die Existenz von ADHS als Krankheit und verteufelten die Pharma-industrie, die neue Generation der Wunderheiler, legalen Drogen-barone und sogar Mörder zu sein. Andere sagten, ADHS sei eine Verhaltensstörung und alleine durch Psychotherapie und Erziehungs-massnahmen zu behandeln – Medikamentation sei eine Folge des ständig fortschreitenden Trends, jedes Symptom zu pharma-zeutisieren. Doch obwohl Skepsis extreme Ansichten nähren kann, lohnt es sich, das Thema nüchtern zu betrachten. Denn diejenigen, die ADHS und die begleitende Behandlung mit Ritalin ernst nehmen, erforschen und behandeln, warnen ebenfalls vor unkritischen Verschreibungen und leichtfertigen Diagnosen – und bilden somit Gruppe 3.
Infolge des drastischen Anstiegs von Verschreibungen ist insbesondere in den USA, doch auch hierzulande die Debatte um den Gebrauch von Ritalin und verwandten Medikamenten für die Behandlung von ADHS erneut entflammt. Health Canada, die Kanadischen Gesundheitsbehörde, verkündete am 9. Februar 2005, dass Adderall XR, ein weiteres Medikament gegen ADHS, mit sofortiger Wirkung vom kanadischen Markt genommen werden muss, nachdem es mit 20 Todesfällen und einem Dutzend Herzinfarkten in Verbindung gebracht wurde. 14 der Verstorbenen seien Kinder gewesen. Obwohl keine der negativen Wirkungen auf Überdosierung oder Missbrauch der Droge zurückzuführen waren, bleibt die amerikanische Regierungsbehörde für Lebensmittel und Medika-mente anderer Ansicht und behält das Mittel auf dem Markt.
Das Syndrom läßt sich weder auf "Aufmerksamkeit" noch "Hyper-aktivität" reduzieren. Dies halten zwei internationale Klassifikationen fest, die damit auch für Deutschland gelten: Der Standard ICD-10 (International Classification of Diseases) der WHO, der zwischen Aufmerksamkeitsstörung und hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens unterscheidet, sowie das für Psychologen angelegte Normenhandbuch DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Letztere basiert darauf, dass die prinzipiellen Eigenschaften von ADHS in drei Subtypen aufgeteilt werden können, wobei der dritte die Kombination aus den vorher-gegangenen ist. Das "Hyperaktiv-Impulsive" Kind des Typ 1, das keine offensichtlichen Probleme mit der Aufmerksamkeit hat, ist zum Beispiel ständig in Bewegung, redet unaufhörlich oder setzt sich oft hin und steht wieder auf. Beim Versuch, stillzuhalten wird dieser innere Drang mit unkontrollierten und ununterbrochenen Aktionen wie Bleistiftklopfen kompensiert. Die Impulsivität ist üblicherweise hiermit gekoppelt, und Betroffene haben Schwierigkeiten, die Konsequenzen ihrer Handlungen vorauszusehen. So platzen Emotionen und Kommentare bedenkenlos heraus, und drängende Ungeduld führt auch mal zu Tränen. Der zweite, "Aufmerksamkeits-defizite" Typ, der keine Hyperaktivität aufweist, wird auffällig durch Vergesslichkeit, leichte Ablenkung durch irrelevante Dinge und die Tendenz, begonnene Aufgaben nicht zu Ende zu führen. Hier wird unter anderem deutlich, woher das Misstrauen der Skeptiker rührt, denn welches Kind schmeißt mal nicht nach wenigen Minuten seinen Stift hin, um seinen Lieblingsteddy einen Besuch abzustatten. Auch nicht gemachte Hausaufgaben werden als verdächtig angeführt und verständlicherweise von Kritikern als absurd abgetan. Doch die "kleinen" Unterschiede sind die ausschlaggebenden: Hausaufgaben nicht aufzuschreiben ist vielleicht noch unauffällig, doch oft werden die falschen Bücher mitgebracht, und fertiggestellte Hausaufgaben sind durchgängig mit Fehlern und Korrekturen versehen.
Die durch die komplizierte Diagnostik vorhandenen Unsicherheiten werden durch die Ritalin-Kritiker noch verstärkt. Das Mittel wird als die Ursache für die Existenz von ADHS verschrien, und in der Drogenszene zwischenzeitlich auch als "Lovely Rita" bekannt, löst es bei gesunden Menschen Euphorie und Hyperaktivität aus. Bei ADHS Patienten bewirkt das Psychopharmakon jedoch das Gegenteil: Unruhe und Impulsivität werden geschwächt, die Konzentrations-fähigkeit erscheint sichtlich verbessert.
Ritalin fällt in den USA und in Deutschland unter das Betäubungs-mittelgesetz, da ein hohes Suchtpotential besteht. Die Abhängigkeit findet ihren Anfang, wenn große Konzentrationen Dopamin im Gehirn freigesetzt werden. Die Kritiker sehen hier den Kern des Problems, da Ritalin Kindern verschrieben wird. Laut der nationalen und jährlich stattfindenden "Monitoring the Future Survey" von der Universität in Michigan benutzen allein 2,6 % der US Achtklässler unverschriebenes Ritalin. Der therapeutische Effekt, so die Mediziner, basiere jedoch auf einem langsamen und anhaltenden Anstieg der Dopamin-konzentration, der etwa dem des natürlichen Dopaminspiegels im Gehirn entspricht. Unter kontrollierten Bedingungen sei das Abhängigkeitsrisiko so nur sehr gering.
Die amerikanische Drogenbehörde Drug Enforcement Administration (DEA) konzentrierte sich in den Jahren 1996-1999 verstärkt auf dieses Thema und korrespondierte auch mit den Vereinten Nationen, um ihre Befunde mit denen europäischer Begutachter zu vergleichen. Aus ihren Ergebnissen schlossen sie, dass "der Gebrauch dieser Medikamente um Verhaltensstörungen in Kindern zu behandeln ... in den USA deutlich verbreiteter [ist] als im Rest der Welt." Weiterhin wird in dem Bericht bemängelt, dass die Vergabepraktiken der Ärzte sehr auf einen Hang zur Über- bzw. Unterverschreibung hindeuteten.
Dabei wäre es, würde man sich an die Richtlinien des NIMH halten, durchaus machbar ein Profil des Kindes und seiner sozialen Funktionsbereiche anzufertigen. Da die Diagnostik von ADHS nicht transparent ist, sollte laut des NIMH ein Spezialist alle anderen Möglichkeiten zunächst ausschließen. Abgesehen davon, dass ein auffälliges Verhalten vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten sein sollte, muss es auch noch mindestens sechs Monate anhalten und ein reelles Handicap in mindestens zwei sozialen Bereichen darstellen - denn Art und Stärke der Symptome verändern sich je nach Situation, in der die Selbstkontrolle gefordert wird. Sonst werde ein zappeliges Kind schnell als undiszipliniert eingestuft, während ein Tagträumer nur als unmotiviert betrachtet werden könnte. Beide stellen jedoch laut DSM-IV mögliche Kandidaten für ADHS dar. Auch sollte das Kind auf ADHS-ähnliche Merkmale untersucht werden, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Insgesamt verbrächte der Spezialist viel Zeit mit dem Kind, seinem Umfeld und diversen Tests, und erst wenn keine andere Diagnose möglich wäre, könnte er sich auf ADHS festlegen.
Theoretisch. Denn wenn man bedenkt, dass Amerikaner nicht über eine gesetzliche Krankenkasse verfügen, sind Gänge zu Spezialisten auch eine finanzielle Abwägung. Und da Ritalinversorgung heutzutage in den USA nichts ungewöhnliches mehr ist, endet die medizinische Betreuung oft beim Hausarzt und dem Rezeptblock. Dies ist ein zentraler Kritikpunkt. Denn Allgemeinärzte haben die Möglichkeit, Ritalin und dessen Verwandte zu verschreiben. Auch Neurologen, die vielleicht eher mit der Materie zu tun haben, können dies tun. Allerdings darf keiner von ihnen eine begleitende Psychotherapie durchführen, und umgekehrt dürfen Therapeuten keine Medikamente herausgeben. So auch in Deutschland: "Es ist erschreckend", sagt ein Berliner Verhaltenstherapeut. "Nicht mal ich könnte mit gutem Gewissen ein ADHS diagnostizieren. Ein Hausarzt schon gar nicht." Doch ob korrekt diagnostiziert oder nicht, dem Kind droht nun zusätzlich die Stigmatisierung. In der Schule meist auffällig genug, ist es nun Opfer der Schulregulierungen, die die Mittagsdosis der Medikation nur unter Aufsicht erlauben. Doch hier weiß die Pharma-industrie zu helfen: Die zweite Generation von Methylphenidat-Medikamenten muss nur noch einmal morgens eingenommen werden
Tja, wo bin ich