@Zeo Post für Sherlock Holmes
Von Julia Tugendhat
Die Zeit, 21. 8 1992
Das Leben ist doch immer wieder für Überraschungen gut. Als mein Mann den Posten des Präsidenten der Abbey National PLC übernahm, stellte er fest, daß er damit zugleich zum Kustoden Sherlock Holmes’ bestellt worden war. Die Abbey National, vormals Bausparkasse, betätigt sich heute als Bank, Spar- und Darlehensverein, gewährt Kundenkredite und Inlandsanleihen. Die Hauptverwaltung residiert im Abbey House, Baker Street 215 bis 229, und schließt damit Nummer 221B mit ein, einstigen Wohnsitz des berühmten Detektivs aller Zeiten. Von Anbeginn an, seit Bezug des Gebäudes vor sechzig Jahren also, pflegt Abbey National diese besondere Patenschaft liebevoll. Und man muß kein Sherlock Holmes sein, um bei meinem Mann Indizien dafür zu entdecken, daß auch er sein Amt sehr ernst nimmt. Er hat bereits eine beachtliche Anzahl von Ersteditionen der Detektivgeschichten aufgestöbert und erstanden, und sein Vorzimmer schmücken Illustrationen aus dem Strand Magazine, in denen Doyles Geschichten zuerst abgedruckt wurden.
Für Orson Welles war Sherlock Holmes der „Mann, der nie gelebt hat – und nie sterben wird“. Und tatsächlich: Obwohl Sir Arthur Conan Doyle, geistiger Vater des Detektivhelden, bereits 1930 starb, geht im Abbey House nach wie vor eine Flut von an Sherlock Holmes adressierten Briefen ein – Fanpost, Geburtstagsglückwünsche, Einladungen. Der Angeschriebene wird mit der Sicherstellung von Beweismaterial und Aufklärung von Fällen aller Art betraut, von Bagatell-Diebstählen bis hin zu Watergate-Filz.
Über die Jahre wurde die ehrenvolle Aufgabe der Erledigung der Holmes-Korrespondenz einer wechselnden Folge von Mitarbeitern übertragen. Der Großteil der Ansinnen wird mit der kauzigen Antwort bedacht, Mr. Holmes habe sich endgültig ins Privatleben zurückgezogen, lebe in den Sussex Downs und widme sich ausschließlich philosophischen Studien und der Bienenzucht. Das Reisen habe er aufgegeben, und leider übernehme er auch keine Fälle mehr. Gelegentlich wird ausführlicher geantwortet. So erhielt der Schreiber eines Briefes, der wissen wollte, welchen Pfeifentabak Holmes geraucht habe, die Auskunft, der Detektiv habe sich stets eine eigene Spezialmischung zusammenstellen lassen. Einem anderen wurde auf seine Frage hin, ob denn Dr. Watson nun dick oder dünn gewesen sei, eröffnet, „weder dick noch dünn, eher mittel“.
Meist ist der Tenor der Briefe devot und voller Bewunderung; einige allerdings sind äußerst bizarr. So gab es etwa den Herrn, der berichtete, er habe aus Alufolie eine Kugel kreiert, die so angewachsen sei, daß seine Frau sie schließlich in den Garten gerollt und er selbst sie dort an die Kette gelegt habe. „Gestern ist die Kugel spurlos verschwunden! Getreu den Regeln Ihrer Deduktionskunst, verehrter Mr. Holmes, gelang es mir, den Fluchtweg der Kugel anhand zweier niedergedrückter Zäune, Uberreste einer demolierten Hundehütte und eines plattgewalzten japanischen Kleinwagens quer übers Gelände zu verfolgen.“
Ich möchte fast behaupten, daß Holmes’ guter Geist bei Abbey ein verbindlicherer Korrespondent ist, als dies der Detektiv selbst gewesen wäre. Mit seinem hageren Gesicht, seiner Adlernase und den durchdringenden grauen Augen muß Holmes eine wahrhaft respekteinflößende, eher unnahbare Gestalt gewesen sein. Ein schwieriger Zeitgenosse, der in seiner Verschlossenheit und Überheblichkeit wenig Geduld mit Dummköpfen hatte. Von Polizisten hielt er ausgesprochen wenig, von Frauen, denen nach seinem Dafürhalten „nie ganz über den Weg zu trauen“ war, auch nicht viel. Wer seine Phantasie mit sich durchgehen ließ, erregte Holmes’ Unmut; Watson konnte ein Lied davon singen, denn mit seinem Gefolgsmann ging der große Meister hart ins Gericht, wenn dessen Schilderungen blumig wurden. Als Watson von einem alten Haus berichtet, es sei von „einer hohen, sonnenscheckigen, mit Flechten überzogenen und von Moos gekrönten Mauer eingefaßt“, fährt ihm Holmes in die Parade: „Lassen Sie die Poesie, Watson. Ich darf Ihren Worten entnehmen, daß das Haus von einer hohen Backsteinmauer umgeben ist.“
Der einzige Brief, der bei Abbey National einging, der vermutlich ganz nach dem Geschmack des Detektivs gewesen wäre, stammte von einem gewissen Mr. Hope, der einige der deduktiven Methoden des Meisters anfocht und sich beschwerte: „Ich habe versucht, mit einem großzügig in Plakatfarbe getauchten Zeigefinger Wörter auf die Wand zu malen, und mußte feststellen, daß es mir selbst nach zwanzig Minuten nicht gelingen wollte, auch nur ein einziges lesbares Wort hervorzubringen; Blut würde in der Zeit längst zu einer zähen, klebrigen, fast festen Masse geronnen sein!“
Besonders die Japaner scheinen einen Narren an Sherlock Holmes gefressen zu haben. In Tokio haben sie ihm ein Denkmal errichtet. Japanische Touristen lassen sich häufig vor der Gedenktafel photographieren, die an der Fassade des Abbey House angebracht ist. Doch ist die Bank bei weitem nicht der einzige Ort in London, welcher die Phantasie der Bewunderer des unsterblichen Detektivs beflügeln dürfte. Nur wenige Häuser weiter residiert in der Baker Street 239 ein Privatmuseum, eine getreue Nachbildung der Wohnung in der Nummer 221B. Alles sehr realistisch, sehr überzeugend; nur verrät das Interieur nichts von Holmes’ eher befremdlichen Angewohnheiten und Marotten. Untätigkeit beispielsweise lähmte den Detektiv so, daß er tagelang sein Bett nicht verließ. War er mit einem Fall befaßt, aß er nicht, da er der Überzeugung war, der Hunger erhöhe die Blutzufuhr zum Gehirn. Er bewahrte Tabak in persischen Pantoffeln auf, ließ Essensreste offen herumstehen, unerledigte Post mit dem Taschenmesser aufgespießt im hölzernen Kaminsims stecken und gebrauchte Injektionsnadeln herumliegen (Holmes war ja kokainabhängig, bis ihn Dr. Watson von der Sucht kurierte.)
Conan Doyle selbst wäre baß erstaunt, wüßte er, daß er mit seiner Schöpfung eine ganze Branche ins Leben gerufen hat. Ursprünglich Arzt, begann Doyle, dessen Praxis nicht recht florieren wollte, Detektivgeschichten zu schreiben. Obwohl sein Sherlock Holmes fast über Nacht zum Erfolg wurde, hielt Doyle seine historischen Romane für weitaus bedeutender, und nach wenigen Jahren ließ er seinen Helden Holmes mitsamt seinem Widersacher Dr. Moriarty an den Reichenbach-Fällen in den Abgrund stürzen. Ein Aufschrei! Die Leser trugen Trauer, sie bombardierten das Strand Magazine mit Protestbriefen, und Conan Doyle selbst wurde auf der Straße von einer Frau als Mörder beschimpft. Zehn Jahre lang blieb er standhaft, ehe er kapitulierte und Holmes wieder auferstehen ließ. In den kommenden 25 Jahren verfaßte er weitere 34 Episoden, konnte sich jedoch nie so recht mit dem Erfolg seines Helden arrangieren.
Wer auf den Spuren von Sherlock Holmes durch London wandelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich für ihn die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit zunehmend verwischen. Um so eher wird er nachfühlen können, was eine Schülerin aus Minnesota an Holmes schrieb: „Obwohl man mir schwört, daß Sie nicht wirklich existieren, glaube ich es irgendwie trotzdem. Wenn Sie nicht leben, würden Sie es mir bitte mitteilen?“