Christiane F./Wir Kinder vom Bahnhof Zoo: Realitätsgehalt
07.10.2013 um 11:58
35 Jahre danach
Eine Begegnung mit Christiane F.
11:16 Uhr
von Sven Goldmann
Sie schrieb "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" und wurde als Junkie weltberühmt. Vom Heroin und von "den alten Geschichten" ist Christiane F. danach nie losgekommen. Aber mit 51 Jahren will sie keine Drogen-Ikone mehr sein. Eine Begegnung.
Der Abend ist noch früh und sie ein bisschen spät dran. Kurzer Blick durch den Raum, ah, da hinten seid ihr! Christiane fegt durch die Tür und deutet einen Gruß an, alles nicht so einfach mit dem Hund an der rechten Hand und einer riesigen Plastiktüte in der linken. Hat mal wieder länger gedauert bei der Methadonabgabe am Hermannplatz. Und dann sei sie auch noch an diesem Billigshop vorbeigekommen, „Wahnsinn, alles für einen Euro, guckt mal, was ich gekauft habe!“
Der erste Eindruck dieser ersten Begegnung mit Christiane F.: Wow! Was für eine Powerfrau! Angeblich macht der Konsum von Heroin und der Ersatzdroge Methadon müde und antriebslos.
Christiane F. hält sich nicht an diese Regel, sie hat sich noch nie an Regeln gehalten und ihr Körper erst recht nicht. Sonst wäre sie schon lange tot und würde nicht hyperaktiv durch diese Kneipe im Kreuzberger Graefekiez wirbeln.
"Die Welt ist voller schlechter Menschen"
Aus der riesigen Plastiktüte tauchen nacheinander auf: ein Kerzenlicht, ein Zuckerstreuer und drei Dominos, „kann man immer gebrauchen“, auch wenn es später ein bisschen komplizierter wird mit dem Gepäck in der S-Bahn. Überhaupt die S-Bahn, „da hab’ ich vorhin was erlebt!“ Christiane will sich immer noch nicht setzen und erst recht nicht aufhören zu reden. Also, die Geschichte aus der S-Bahn: „Komm ich doch vorhin aus dem Zug und da steht auf dem Bahnsteig so ein kleines Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, und die hat ihre Monatskarte einfach so um den Hals, ich meine: Die kann ihr doch einer vom Hals reißen, na, da hab’ ich ihr gesagt: Kleene, pass bloß auf, die Welt ist voll von schlechten Menschen.“
"Dieses Christiane-F.-Ding" lässt sie nicht los
Christiane F. kennt sich aus. Sie hat ihre Jugend mit schlechten Menschen auf Bahnhöfen verbracht, es ging dabei weniger um geklaute Monatskarten. Christiane F. war das Mädchen vom Bahnhof Zoo. Die 14-Jährige, die sich an Männer verkaufte, Dealern hinterherhetzte und sich das Heroin in die Venen jagte. Ihr Buch, verfasst mit zwei Journalisten vom „Stern“, stürzte die Elterngeneration in ungeahnte Angst vor dem, was sich da im Schattenreich ihrer Kinder abspielte. Niemand, der in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern groß wurde, kam an diesem Buch vorbei und an den Predigten der Eltern. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wurde drei Millionen Mal verkauft, der gleichnamige Kinofilm zog fünf Millionen Zuschauer an. Seit dieser Zeit ist Christiane F. ihr eigenes Label, sie nennt es „dieses Christiane-F.-Ding“.
35 Jahre später. Aus Christiane F. ist Christiane Felscherinow geworden. Die hat ein neues Buch geschrieben, zusammen mit der Journalistin Sonja Vukovic, aber wieder heißt es: „Christiane F. – mein zweites Leben“. Am kommenden Freitag wird es auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Nervös? „Nee!“, sagt Christiane. „Ich weiß, was auf mich zukommt. Das war damals ein bisschen anders.“
Ihr Foto auf der "Stern"-Titelseite hing an jedem Kiosk
Damals war 1978 und Christiane 16. Sie stieg aus der U-Bahn und das Erste, was sie sah, war ihr Foto auf der Titelseite des „Stern“. Am ersten Kiosk und am nächsten und am übernächsten, „das war schon ein Schock, keiner hat mich vorgewarnt, gab ja noch keine Handys und keine Anrufbeantworter und so“. Also ist sie erst mal nach Hause und hat die Decke über den Kopf gezogen und gewartet, bis es vorbei ist.
Es ist bis heute nicht vorbei.
Christiane ist jetzt 51 und wird noch immer auf der Straße angesprochen, öfter um ein gemeinsames Foto gebeten und manchmal um ein Autogramm. Meist von der Generation der über 40-Jährigen, aber letztens, auf dem Alexanderplatz, kam ganz unverhofft ein junges Mädchen auf sie zu, war so um die 18 und hat gefragt: „Du bist doch Christiane F., oder?“
In der Kreuzberger Kneipe guckt keiner hin. Christiane kommt öfter hierher, man kennt sie und ihren Hund, einen Chow-Chow, dessen Hinterlassenschaften sie mit einer Selbstverständlichkeit beseitigt, wie das in Berlin ganz und gar nicht selbstverständlich ist. An ihrem Rucksack baumelt ein Maulkorb.
Nach der Geschichte mit dem Mädchen und der Monatskarte macht Christiane eine erste Pause. Rucksack ab, Jacke aus! Das ist wichtig, denn zu den Nebenerscheinungen des Methadons gehört es, dass sie jederzeit ins Schwitzen kommt. Methadon ist ein vollsynthetisches Opiat, das die Entzugserscheinungen beseitigt, ohne den Süchtigen den Heroin-typischen Kick zu verschaffen. Christiane hat immer mal für ein paar Jahre ohne Heroin gelebt und ist auch jetzt clean, aber eine Abhängigkeit bleibt für immer.
Christiane Felscherinow hat wenig von dem, was die Allgemeinheit mit einem Langzeitabhängigen verbindet. Christiane sagt von sich selbst, sie verlasse das Haus nie ungeschminkt, sie färbt ihr Haar kastanienrotbraun und lackiert die Nägel mit einem schmalen roten Streifen, wie es die ganz jungen Dinger tun. Sommersprossen sprenkeln ihr Gesicht, das nach wie vor geprägt wird von den riesigen Augen, mit denen sie als 16-Jährige vom „Stern“-Cover Kinder, Eltern und Lehrer und sonst wen faszinierte.
"Ich habe so großartige Gene"
Himmel, wie würde diese Frau heute aussehen, wenn sie ein halbwegs gesundes Leben gelebt hätte? „Das ist ja meine doppelte Sünde“, sagt Christiane und dass sie eigentlich hundert Jahre alt hätte werden können, „ich habe so großartige Gene! Aber ich musste ja mit den Drogen anfangen.“
Man muss schon direkt neben ihr sitzen, um die Einstichsprengsel am Unterarm zu sehen. Dauerhafte Erinnerung an einen missglückten Schuss. Und da ist noch ein leicht verhärmter Zug um ihre schmalen Lippen zu erkennen. Oder bildet man ihn sich nur ein, weil er doch da sein muss bei einer Frau wie ihr?
Seitdem der „Stern“ vor zehn Tagen erste Auszüge des neuen Buchs veröffentlicht hat, wissen alle, was vorher immer mal wieder auf dem Boulevard kolportiert wurde. Das Mädchen vom Bahnhof Zoo ist nie richtig vom Heroin losgekommen. Ob sie in der Schweiz mit Patricia Highsmith und Federico Fellini zusammensaß, in den USA mit den Jungs von AC/DC und Van Halen durchmachte oder für ein paar Jahre auf einer griechischen Insel lebte – die Droge war immer dabei. Auch beim Treffen mit ihrem Teenageridol David Bowie, er trug zu Christianes Entsetzen einen Schnurrbart. Das Mädchen vom Bahnhof Zoo flipperte durch eine Welt, die es nur selten nüchtern ertrug.
Christiane Felscherinow hat die alten Geschichten satt
„Immer wieder die alten Geschichten“, sagt Christiane und dass sie die Fragen satthat nach den Leuten von damals, nach Detlef und Stella und den anderen Leidensgefährten aus dem ersten Buch. „Haste auch dieses Bild gesehen, wie ich auf einem Bett liege, die Augen halb geschlossen? Darunter steht immer: Christiane F. nach einem Rückfall. So ein Blödsinn. Ich bin doch nicht so blöd und lasse mich nach einem Rückfall fotografieren!“
In der Kreuzberger Kneipe bestellt sie Apfelsaft. Und macht doch kein Geheimnis daraus, dass sie manchmal zu anderen Getränken greift. Apfelkorn, Gin Tonic, Wodka-Orange. Wenn der Stress zu groß wird, fährt sie auch mal morgens in die Hasenheide und raucht einen oder zwei Joints. In der U-Bahn hält sie immer den Ellenbogen ausgestreckt, damit keiner gegen die schwer geschädigte Leber stößt. Christiane leidet an Fibrose, eine Stufe vor der Zirrhose. Das schränkt die Essgewohnheiten ein, „aber manchmal betrüge ich mich selbst und esse nur die Soße vom Sauerbraten“.
Ihre Stimme ist fest, auch wenn sie jetzt schon seit einer halben Stunde ununterbrochen redet. Christiane kommt vom Mädchen auf dem S-Bahnhof über die griechische Wirtschaft bis zum Fernsehprogramm.
„Eigentlich darf ich das ja gar nicht sagen, aber ganz früher hab ich nie Rundfunkgebühren gezahlt, warum auch, ich hab ja auch nie was gesehen. Aber jetzt gibt es ja diese ... wie heißt das doch gleich?“
Haushaltsabgabe.„Genau! Aber jetzt muss man ja auf jeden Fall zahlen, und da gucke ich mir das auch an, meist bis spät in die Nacht, ich kann ja ausschlafen.“
Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Immer wieder wird die Wohnung geputzt, denn Christiane ekelt sich vor Dreck. Das war schon so zu alten Fixerzeiten, als sie in einem Meer aus Spritzen und Zigarettenstummeln und alten Thunfischdosen schwamm, aber größten Wert legte auf ein frisch bezogenes Bett. Es hat sich noch verstärkt in der jüngeren Vergangenheit, seit den Nächten in einer Neuköllner Obdachlosenunterkunft. „Kannste dir nicht vorstellen, wie es da aussieht! Willste dir auch nicht vorstellen.“ Außerdem soll alles schön sein, wenn Philipp zu Besuch kommt.
Christianes Sohn, er ist vor zwei Wochen 17 geworden, und es ist gar nicht so selbstverständlich, dass sie diesen Geburtstag mit ihm zusammen feiern durfte. Vor ein paar Jahren hat sie das Sorgerecht verloren, nach kleineren Krisen zu Hause und einer ganz großen, die zu einer abstrusen Flucht nach Holland führte, auch davon wird im neuen Buch zu lesen sein.
Diese Zwangstrennung hätte ihr beinahe den Rest gegeben. Christiane ballerte sich, zum ersten Mal seit Jahren, richtig voll. Nicht mit Methadon, sondern mit Heroin. Und es ist ihre wahrscheinlich größte Leistung, dass sie aus eigener Kraft den Weg zurück gefunden hat und seit 2010 wieder das Sorgerecht besitzt. Auf Christianes Wunsch wohnt Philipp weiter bei seinen Pflegeeltern, „er sollte sich nicht schon wieder neue Freunde in einer neuen Gegend suchen“.
Philipp heißt natürlich nicht Philipp, im persönlichen Gespräch macht sich Christiane keine Mühe, seinen wirklichen Namen zu verbergen. „Aber wenn du was schreibst, heißt er Philipp, okay?“ Und was die Geburtstagsfeier betrifft: „Gab keine Feier!“ Kurze, ganz kurze Pause. „Wir feiern Geburtstage nun mal nicht. Ich bin so aufgewachsen. Weißte, früher, als ich in dem Alter war, in dem einen die anderen Kinder zu Geburtstagen einladen, da hatten wir kein Geld. Ich konnte meinen Freundinnen keine Geschenke kaufen. Also bin ich auch nicht eingeladen worden. Und später war ich dann auch nicht mehr so drauf, dass die anderen mich unbedingt sehen wollten.“
Christiane Felscherinow ist in armen Verhältnissen groß geworden. In Gropiusstadt, einer Trabantensiedlung im Süden Neuköllns. Aber arm ist sie nicht mehr. Es zählt zu den Besonderheiten im Leben dieser besonderen Frau, dass sie ein ganz besonderes Verhältnis zum Geld hat. Vielleicht würde sie gar nicht mehr leben ohne die Tantiemen vom „Stern“. Aber wie viele Rockmusiker oder Schauspieler verpulvern ihr Vermögen in ein paar Jahren, Monaten, Wochen? Christiane lebt seit 35 Jahren von ihren Tantiemen. Sie hat ihr Geld so langfristig angelegt, dass nicht mal sie in den schlimmsten Krisenzeiten kompletten Zugriff hatte.
Ja, Christiane genießt es, dass sie wieder gefragt ist. Endlich raus aus den Schubladen, in die sie immer gesteckt wird: Ex-Junkie, gescheiterte Mutter. Nun stapeln sich die Anfragen. Obwohl sie mit dem Internet wenig am Hut hat, betreut sie eine Christiane-F.-Fanseite und hat der „Zitty“ ein E-Mail-Interview gegeben, der „Spiegel“ plant eine größere Reportage und zu Talkshows wird sie auch eingeladen. Amazon promotet sie als „Kultfigur und Antiheldin einer Generation“.
Nach einer Stunde ununterbrochenen Redens in der Kreuzberger Kneipe geht Christiane raus auf eine Zigarette, die erste an diesem Abend. Am Tisch sitzen noch die Koautorin Sonja Vukovic und die PR-Managerin vom Verlag, sie erzählen von einer dieser vielen Besprechungen in den vergangenen Wochen. Es ging mal wieder um Lesungen und Einladungen und Interviewanfragen, und irgendwann habe Christiane gefragt: „Sagt mal, Mädels, warum seid ihr eigentlich so gestresst? Gebt dem Buch doch erst mal Luft zum Atmen! Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich zu diesem Beckmann gehen will oder nicht!“