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10.03.2006 um 22:05
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Das Bewusstsein ausder Sicht des Tantra
S.H. der Dalai Lama
Im Tantra, speziell imHöchsten Yogatantra, wird das Bewusstsein in drei Ebenen eingeteilt, die unterschiedlichsubtil sind: das grobe, das feine (subtile) und das äußerst subtile Bewusstsein. Dieersten beiden sind vorübergehender Natur; sie entstehen und vergehen. Ein grobesBewusstsein wie die Sinneswahrnehmung beispielsweise entsteht im Kontakt mit einemäußeren Objekt. Verschwinden die Objekte und Umstände, vergeht das Bewusstsein, das siewahrnimmt. Nehmen wir ein Sehbewusstsein, das eine Blume beobachtet: Es besteht, solangedas Objekt, die Blume, da ist; außerdem gehört zu der Wahrnehmung, dass es einSinnesorgan gibt ? in diesem Fall das Augenorgan ?, das auf die Blume gerichtet ist, undeinen vorhergehenden Moment von Bewusstsein. Sind diese Faktoren komplett, entsteht dasSehbewusstsein, das die Blume erkennt. Fehlt ein Faktor, zum Beispiel die Blume oder derBlick, der darauf gerichtet ist, dann vergeht dieses Sehbewusstsein wieder.
Auchsubtile Bewusstseinsarten wie Zustände von Begierde, Hass usw., die wir im Buddhismus alsGeistesplagen bezeichnen, sind flüchtiger Natur. Sie entstehen unter bestimmtenUmständen, etwa wenn wir auf spezielle Objekte treffen, die als Auslöser fungieren.Außerdem müssen innere Anlagen vorhanden sein, damit solche Geisteszustände aufkommenkönnen. Fehlt das Objekt oder sind die Gedanken auf etwas anderes gerichtet, vergehendiese Emotionen wieder. Das heißt, sowohl die groben Bewusstseinszustände, alsohauptsächlich Sinneswahrnehmungen, als auch die subtileren Zustände des geistigenBewusstseins sind wechselhaft und besitzen keine dauerhafte Existenz. In den tantrischenSchriften werden 80 konzeptuelle Bewusstseinsarten auf der subtilen Ebene aufgezählt,wobei es sich um begriffliches Bewusstsein handelt. Sie sind allesamt vorübergehenderArt.
Im Höchsten Yogatantra wird als drittes das äußerst subtile Bewusstseingenannt, das "Klare-Licht-Bewusstsein". Dieses ist nicht dem üblichen Werden und Vergehenanderer Bewusstseinszustände unterworfen; insofern besteht es dauerhaft. Im Todesprozesswird das Bewusstsein immer subtiler. Die letzten vier Ebenen heißen "Leere", "GroßeLeere", "Völlige Leere" und "Absolute Leere" (sie werden manchmal auch als "WeißeErscheinung", "Rote Zunahme", "Schwarzes Nahes Erreichen" und "Klares Licht" bezeichnet,Anm. des Übersetzers). Letztere ist gleichzusetzen mit dem "Klaren Licht", dem natürlichanwesenden Bewusstsein. Dieses kommt nicht auf Grund vorübergehender Bedingungenzustande, und es vergeht auch nicht, wenn diese Bedingungen fehlen. Das subtilsteBewusstsein existiert zu jeder Zeit und wird niemals unterbrochen. Alle gröberenBewusstseinsebenen gehen aus diesem Bewusstsein des Klaren Lichts hervor und lösen sichauch wieder in dieses auf. Das Bewusstsein des Klaren Lichts bildet also nach dem Tantradie Grundlage für jede Art von Bewusstsein.
Bewusstsein kann nicht aus Materieentstehen
Bewusstsein ist aus buddhistischer Sicht in seinem Wesen klar underkennend. Aus diesem Grund kann auch seine Grundlage nicht materieller Art sein; esbraucht eine Quelle, aus der es als Klares und Erkennendes hervorgehen kann. DieseGrundlage ist das Bewusstsein des Klaren Lichts; aus diesem gehen sämtlicheBewusstseinsarten hervor, und in dieses lösen sie sich alle wieder auf.
Wirkönnen nun die Frage aufwerfen, ob das Bewusstsein des Klaren Lichts inhärent, von seinemeigenen Wesen her existiert. Tatsache ist, dass auch das subtilste Bewusstsein nur inAbhängigkeit von vielen Faktoren besteht. Zum Beispiel ist es abhängig von einzelnenAugenblicken, die zusammen sein Kontinuum ergeben. Ein inhärentes, aus sich bestehendesBewusstsein des Klaren Lichts kann nicht gefunden werden. Einzelne Momente diesesBewusstseins reihen sich quasi aneinander und bilden eine Kontinuität. Weder eineinzelner Moment dieses Bewusstseins noch all die Momente zusammen sind dieserBewusstseinsstrom des Klaren Lichts; vielmehr existiert das Kontinuum als Benennung inAbhängigkeit vieler Momente.
Das Bewusstsein des Klaren Lichts besteht alsoMoment für Moment, und dieser Strom von einzelnen Momenten wird niemals unterbrochen.Andere Bewusstseinsarten hingegen entstehen und vergehen. Das Bewusstsein dieses Lebensbeispielsweise entsteht, wenn wir bei der Geburt diesen Körper und Geist annehmen ? undzwar auf der Basis des Klaren-Licht-Bewusstseins. Die verschiedenen Wahrnehmungen,Gedanken und Emotionen dieses Lebens, also die gröberen Geisteszustände, enden mit demTod und lösen sich wieder in das Klare Licht auf.
Das Bewusstsein des KlarenLichts ist ein ununterbrochenes Kontinuum; es gibt nicht einen Moment, in dem es nichtbestünde. Trotzdem ist es kein beständiges Phänomen, sondern augenblicklich. Ein Momentdes Klaren Lichts folgt auf den nächsten Moment usw. ohne Unterbrechung. Wir haben esalso mit einem Phänomen zu tun, das von Moment zu Moment existiert und auf diese Weiseeinen ununterbrochenen Strom von einzelnen Bewusstseinsmomenten bildet. Auf Grund dieserBeschaffenheit nennen wir es auch "natürlich anwesendes, dauerhaftes Bewusstsein".
Allgemein ist Bewusstsein immer etwas Klares und Erkennendes. Innerhalb dieser klarenund erkennenden Natur gibt es verschiedene Arten. Unser menschliches Bewusstsein istabhängig davon, dass wir einen menschlichen Körper haben, der die Grundlage für einsolches Bewusstsein bildet. Die Tatsache aber, dass dieses menschliche Bewusstsein dieNatur von Bewusstsein hat, ist darauf zurückzuführen, dass es auf der Ebene des KlarenLichts ein ununterbrochenes Bewusstseinskontinuum gibt.
Das menschlicheBewusstsein ist einerseits abhängig vom menschlichen Körper und andererseits vomBewusstsein des Klaren Lichts, der Grundlage eines jeden Bewusstseins. Diese allgemeineGesetzmäßigkeit hat der indische Meister Dharmakirti in seiner Schrift "Pramanavarttika"verdeutlicht. Dort schreibt er, dass etwas, das in seiner Natur klar und erkennend, alsoBewusstsein ist, nicht aus substanziellen Ursachen entstanden sein kann, die dieEigenschaften von Materie besitzen. Mit anderen Worten: Bewusstsein kann nur ausBewusstsein entstehen.
Natürlich sind noch weitere mitwirkende Umstände nötig;im Falle des menschlichen Bewusstseins zum Beispiel der Körper als Grundlage. Vielemitwirkende Umstände sind an der Entstehung einer Wahrnehmung beteiligt. Aber dieTatsache, dass diese Wahrnehmung klar und erkennend ist, lässt sich darauf zurückführen,dass ein vorhergehender Zustand von Klarheit und Erkennen da war. In diesem Sinne istDharmakirtis Aussage zu verstehen. Die groben und subtilen Bewusstseinszustände brauchenals substanzielle Grundlage Klarheit und Erkenntnis, damit sie überhaupt entstehenkönnen. Deshalb bedeutet Dharmakirtis Aussage, dass jedes Bewusstsein nur auf der Basisdes Bewusstseins des Klaren Lichts entstehen kann. Dieses subtilste Bewusstsein hatkeinen Anfang. Natürlich können Gelehrte darauf beharren, dass es einen Anfang gegebenhat; sie können eine andere Substanz postulieren, aus der im nächsten Moment dasBewusstsein des Klaren Lichts entstanden ist, aber diese Ansicht wird von den Buddhistenabgelehnt. Das Argument hatte ich schon genannt: Etwas, das in seinem Wesen klar underkennend ist, kann nicht allein aus Ursachen hervorgehen, die ganz anderer Natur sind.Gewiss können andersartige Phänomene am Entstehen von Bewusstsein beteiligt gewesen sein,aber die wesenhaften oder substanziellen Ursachen müssen die Eigenschaften desBewusstseins haben. Dies trifft auch auf das Bewusstsein des Klaren Lichts zu. Aus denbeschriebenen Gründen denken wir im Buddhismus, dass es keinen Anfang für Lebewesen gibt,d.h. dass es keinen Zeitpunkt gab, zu dem keine existiert haben. Somit ist das Ich oderSelbst ohne Anfang und hat kein Ende.
Das subtilste Bewusstsein wird zweifellosauch von anderen Faktoren beeinflusst, z.B. von karmischen Anlagen, die in diesemBewusstsein "transportiert" werden können. Und es beeinflusst selbst wiederum diegröberen oder subtileren Bewusstseinsebenen, die aus ihm hervorgehen. Die wesenhafteUrsache für das Bewusstsein des Klaren Lichts kann jedoch nur ein vorhergehendesBewusstsein des Klaren Lichts gewesen sein. So lässt sich zusammenfassen, dass zwargröbere Bewusstseinsarten aus dem subtilsten entstehen, dieses aber selbst nicht ausgröberen Bewusstseinsebenen hervorgeht, sondern aus vorhergehenden Momenten des KlarenLichts.
Wir erkennen, dass das Bewusstsein des Klaren Lichts kontinuierlichexistiert ? und zwar seit anfangsloser Zeit, ohne einen Anfangspunkt. Genauso wird sichdieses Bewusstsein in der Zukunft fortsetzen, ohne Unterbrechung. Dieses allersubtilsteBewusstsein wird in seinem Weiterbestand nicht durch wechselhafte Ursachen und Umständebehindert, da es nicht daraus entstanden ist. Andere Phänomene, die aus wechselhaftenUrsachen und Umständen hervorgegangen sind, werden durch die Veränderlichkeit in ihremBestand gehindert. Eine Blume entsteht z.B. auf Grund bestimmter Ursachen und Umstände;da diese sich wandeln, kann die Blume als Blume nicht weiterbestehen, sondern sie mussvergehen. Die sich wandelnden Ursachen und Umstände, aus denen die Blume entstanden ist,machen es unmöglich, dass die Blume in der gleichen Weise unveränderlich existiert.
Das Bewusstsein des Klaren Lichts jedoch ist nicht abhängig von gröberen,wechselhaften Ursachen und Umständen. Da es daraus nicht entstanden ist und von solchennicht kausal abhängig ist, wird es in seinem Bestand vom Wechsel der gröberen Ursachenauch nicht behindert. Und so hat dieses subtilste Bewusstsein weder einen Anfang noch einEnde. Der Prozess der Wiedergeburten, das heißt der Kreislauf von Geburt, Tod, Geburtusw. geschieht auf der Basis dieses kontinuierlichen Bewusstseins. Bei fühlenden Wesen,die dem Leiden unterworfen sind, ist dieses subtilste Bewusstsein mit Verunreinigungenoder Befleckungen verbunden. Ist dieses Bewusstsein einmal getrennt von allenVerunreinigungen, dann ist das Wesen zu einem vollkommen Erleuchteten, zu einem Buddha,geworden. Im Zustand der Buddhaschaft haben sich alle gröberen, wechselhaften Zuständedes Bewusstseins, die mit gröberen begrifflichen Strukturen, mit Täuschungen undnegativen Emotionen verbunden sind, in das grundlegende Bewusstsein des Klaren Lichtsaufgelöst. Der Geist ist dann so weit entwickelt, dass aus dem grundlegenden Bewusstseindes Klaren Lichts keine gröberen und mit Täuschungen verbundenen Bewusstseinszuständemehr entstehen können.
Im Tod lösen sich alle gröberen Bewusstseinszustände indas Bewusstsein des Klaren Lichts auf; bei gewöhnlichen Wesen jedoch entstehen sie auchwieder daraus. Der Grund ist, dass wir von karmischen Kräften beeinflusst sind. Wirtragen karmische Anlagen mit uns, die bewirken, dass immer wieder gröbereBewusstseinsebenen, getäuschte und verblendete Zustände entstehen. Wollen wir diesenLeidenskreislauf durchbrechen, haben wir keine andere Wahl, als mit Hilfe einesspirituellen Pfades, das heißt mit Hilfe korrekter Methoden zu verhindern, dass immerwieder verblendete Bewusstseinszustände aus der Ebene des Klaren Lichts heraus entstehen;aus diesem Grund ist ein Pfad äußerst wichtig. Der Buddha lehrte Methoden, die beifortgesetzter Anwendung dazu führen, dass diese Verblendungen nicht immer wiederentstehen und dass sich alle getäuschten Bewusstseinszustände endgültig in die reineSphäre des Klaren Lichts auflösen.
Der Text stammt aus den Unterweisungen desDalai Lama im April 1997 in Frankreich. Mit freundlicher Genehmigung des Bureau du Tibetin Paris.
Aus dem Tibetischen übersetzt von Christof Spitz.
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