Prozess zu Sendlinger Bluttat startet
So wurde ein Mensch zum Mörder
München - Jede Frau hätte in dieser Nacht das Opfer dieses Mörders werden können. Am Montag beginnt der Prozess gegen Marco F., der vor gut einem Jahr Katrin Michalk in Sendling erstach - die Chronik eines unfassbaren Verbrechens.
Das Schicksal wollte es, dass an jenem verhängnisvollen Januar-Abend die Verlagsangestellte Katrin Michalk (†31) den Weg des vermutlich schizophrenen Marco F. (20) kreuzte. Ein Bursche aus der Nachbarschaft – beherrscht von der krankhaften Vorstellung, wahllos einen Menschen zu töten, um fortan in dessen Wohnung zu leben. Vor der Jugendkammer des Landgerichts beginnt am Montag (wohl unter Ausschluss der Öffentlichkeit) der Mordprozess gegen Marco F. (20), der Katrin Michalk am 4. Januar 2013 um 21 Uhr in der Halskestraße (Sendling) erstach. In der 64 Seiten starken Antragsschrift, die der tz vorliegt, kommen Angehörige, Freunde, Lehrer und Arbeitgeber zu Wort. Darin kreuzen sich die Wege zweier Menschen, die verschiedener nicht sein konnten – schicksalhaft verbunden in einem unfassbaren Verbrechen.
Das Opfer: Junge Frau mit großen Plänen
Katrin Michalk kam im April 1981 in Bautzen (Sachsen) zur Welt. Mit ihrem kleinen Bruder wuchs sie behütet und glücklich bei ihren Eltern auf. Ohne Probleme absolvierte das sportliche und ehrgeizige Mädchen die Schule, machte Abitur, jobbte als Kellnerin, wurde Bankkauffrau und studierte in Zwickau sowie in den Niederlanden Betriebswirtschaft und Controlling. 2009 bekam sie in München eine feste Anstellung beim Verlag „Gräfe und Unzer,“ zuletzt als Vize-Abteilungsleiterin für Controlling und Finanzen. Ihr privates Glück fand sie bei ihrem Freund Alexander, den sie 2008 kennengelernt hatte. Zunächst lebten die beiden in Dachau. Im Februar 2012 zogen sie nach Obersendling in die Halskestraße – dem Ort des späteren Verbrechens. Zu ihrer Familie und den Freunden in der Heimat hielt die bestens vernetzte Katrin immer liebevollen Kontakt. Sie hatte ihr Leben im Griff, war gesund, beruflich erfolgreich, privat glücklich. Späterer Kindersegen nicht ausgeschlossen. Alles war schön. Bis zu jenem verhängnisvollen 4. Januar 2013. Wie üblich hatte sich Katrin morgens um sieben Uhr von ihrem Freund verabschiedet und war mit U- und S-Bahn nach Haidhausen in den Verlag gefahren. Um 18.30 Uhr ging sie ins Fitnessstudio, trainierte mit ihrem Personal Trainer. Dann fuhr sie heim, stieg am U-Bahnhof Aidenbachstraße aus und legte die letzte Wegstrecke in die Halskestraße zu Fuß zurück. Dabei hörte sie über Ohrstecker Musik. So bemerkte sie nicht, dass sie verfolgt wurde …
Der Täter: Die Welt eines Einzelgängers
Marco F. kam am 13. Januar 1994 in München zur Welt. Er wuchs mit seinen beiden älteren Schwestern bei den Eltern in Obersendling auf. Der Vater – ein Gastronom – arbeitete viel. Zu viel. 2003 wurde die Ehe geschieden. Schon als kleines Kind konnte Marco den normalen Alltagslärm schwer ertragen. Seine Entwicklung verzögerte sich. Zwar stets freundlich und nie aggressiv zog er sich aber immer tiefer zurück in seine Traumwelten, wollte niemandem in die Augen schauen. Er schaffte noch den Förderschulabschluss und absolvierte Berufspraktika als Fahrradmonteur, Verkäufer im Tierladen und Beikoch. Alle Ausbildungsversuche brach er ab. Seine Tage verbrachte er in den letzten Jahren meist allein in seinem Zimmer, kam nur zum Essen heraus. Manchmal lag er im Bett und zuckte wild zur Musik. Öfter spielte er Schach oder las. Die meiste Zeit aber verbrachte er mit Baller- und Fantasy-Spielen am Computer. Bis zur Pubertät kam er ganz gut mit seinen Schwestern aus. Dann jedoch zog er sich immer mehr zurück. Er vernachlässigte Freundschaften, beklaute seine Schwestern. Die Schwestern beschwerten sich: „Der stinkt!“ Auch einer seiner Arbeitgeber mahnte ihn, öfter zu duschen und nicht vier Wochen lang die gleichen Kleider zu tragen. Nur seine Haare stylte Marco täglich – weil er aussehen wollte wie einer seiner mutigen, starken Fantasy-Helden.
In der Zeit vor dem Mord entwickelte er ein unheimliches Faible für Messer jeder Art und besorgte sich auch ein Samuraischwert. Der einzige Mensch, mit dem er (bedingt) kommunizierte, war seine Mutter. Auch ihr fiel auf, dass Marco Messer aus der Küche stahl. Zuletzt kontrollierte sie die Schubladen täglich. Als Marco im Herbst 2012 einem Freund 2000 Euro für die Beschaffung einer scharfen Schusswaffe gab, fiel sie aus allen Wolken. Der Freund verzockte aber das Geld und die Polizei wurde eingeschaltet. So wurde Marco aktenkundig — zum Glück, wie sich später bei der Mordermittlung erweisen sollte. Den Vorschlag der Mutter, einen Behindertenausweis zu beantragen und Marco tagsüber in einer Behindertenwerkstatt unterzubringen, wies er empört zurück. Es gab sogar einen heftigen Streit. Doch ganz plötzlich lenkte Marco ein: „Gut, können wir machen“, sagte er. In seiner wahnhaften Vorstellung – im psychiatrischen Gutachten ist von einer mutmaßlichen schizophrenen Psychose die Rede – reifte längst ein tödlicher Plan. Mangels Schusswaffe beschloss er, eine Frau mit Messern zu töten. An einen Mann traute er sich nicht heran. Er wollte ihr die Schlüssel abnehmen, die Leiche verstecken („im Klo oder so…“) und dann seine eigenen Sachen holen. Seinen Lebensunterhalt wollte er als Räuber bestreiten. Vor allem aber wollte er seine Ruhe haben, sagte er später.
Den 4. Januar 2013 verbummelte Marco am PC. Gegen 21 Uhr verließ er sein Wohnhaus in der Boschetsrieder Straße, geisterte durch die Höfe. In der Jacke hatte er ein Messer, im Kopf seinen Plan. Und dann sah er sie. Katrin ging langsam. „Sie sah schwach für mich aus“, sagte Marco später. Minutenlang folgte er ihr im Abstand von nur drei Metern in die Halskestraße, bis zu ihrer
Haustür …
Die Tat: "Notarzt! Ich verblute"
Der Angriff traf Katrin Michalk völlig überraschend von hinten. Sie hatte die Tür aufgeschlossen und war auf dem Weg zur Treppe hinauf in ihre Wohnung. Da jedoch war Marco F. schon hinter ihr. Gleich der erste Stich traf sie in die rechte Halsseite. Wie von Sinnen stach der Mörder auf Brust und Rücken der jungen Frau ein. Nach der Schilderung des Täters sank Katrin auf die Knie, fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Sie schrie um Hilfe, packte Marcos Hand. Dabei fügte er sich selbst zwischen dem rechten Mittel- und Zeigefinger eine tiefe Schnittwunde zu. Er floh erst, als das Messer abbrach. Nachbarn hörten Katrins Schreie, leisteten Erste Hilfe, riefen den Notarzt und holten Katrins Freund Alexander, der bereits im Bett gewesen war und ein Hörbuch gehört hatte. Total geschockt eilte er im Schlafanzug zu seiner sterbenden Lebensgefährtin. „Keine Luft! Keine Luft!“, stammelte sie da noch. Und: „Notarzt! Ich verblute!“ Verzweifelt streichelte Alexander Katrins Rücken, rief „Wann kommen die denn?“ und immer wieder „Oh mein Gott …!“.
Katrins Kopf zuckte noch einmal leicht. Dann war sie tot – verblutet an einem Herzstich. Die Nachbarin sah ihr bleiches Gesicht, die starren Augen. Dann kam der Notarzt. Voller Mitleid nahmen die Nachbarn Alexander mit, holten ihm einen Stuhl und setzten ihn so, dass er nicht mehr mitansehen musste, wie der Notarzt um Katrins Leben kämpfte. Leider vergeblich …
Die Ermittlungen: Ein Jugendbeamter liefert die heiße Spur
Der Hinweis eines Sendlinger Jugendbeamten – als Spur Nummer 13 in den Akten dokumentiert – brachte die Mordkommission auf die richtige Spur: Der Beamte nämlich erinnerte sich, dass Marco F. im Herbst 2012 eine scharfe Waffe kaufen wollte. Auf die Vorladung zur Mordkommission reagierten Marco bzw. seine Mutter nicht. Darum fuhr der Jugendbeamte am Morgen des 24. Januar 2013 gemeinsam mit einer Kollegin zur Wohnung der Familie in der Boschetsrieder Straße. Einer ersten Streife um 6.30 Uhr war nicht geöffnet worden. Auf energisches Klopfen öffnete die Mutter um 7.45 Uhr dann doch. „Was hat er denn wieder angestellt?“, war ihre erste Frage. Sie mache sich Sorgen um Marco, sagte sie. Weil er allerhöchstens eine Anstellung in der Behindertenwerkstatt bekommen könne. Und weil er sich Anfang Januar bei einem Sturz aus dem Bett am Ikea-Schränkchen so heftig geschnitten habe, dass die Wunde genäht werden musste und gar nicht schön aussehe. Da wurden die Beamten schon stutzig. Denn am Tatort war fremdes Blut gesichert worden – Täterblut! Ob man die Unfallstelle in Marcos Zimmer mal besichtigen dürfe, fragten die Beamten. Ja, natürlich. Die Mutter öffnete ihnen die Tür zu Marcos Zimmer. Der lag noch im Bett, stand ohne erkennbare Emotion auf und ging ins Bad. Marco kannte den Jugendbeamten. Er hatte sich in der Zeit nach dem misslungenen Waffendeal mehrfach um ihn gekümmert. Die Beamten warteten also auf Marcos Rückkehr. Dabei fiel der Blick des Jugendbeamten auf einen Messerrücken, der hinter einer DVD herausschaute. Dahinter lag ein zweites Messer – abgebrochen! Dann kam Marco zurück. Ob er sich denken könne, weshalb die Polizei da sei? Da ließ Marco den Kopf sinken und nickte. Die Beamten setzten sich zu ihm. „Marco, warum?“ fragte die Polizistin. „Wegen Mord!“ antwortete der Bub. Auf die Frage, ob er etwas damit zu tun habe, nickte er wieder. Der Anfang eines umfangreichen Geständnisses, das er später bei der Mordkommission ablegte.
Eine Gefängnisstrafe kommt für Marco F. wohl kaum infrage, weil er schuldunfähig ist. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung und der Wiederholungs-Gefahr wird er vermutlich den Rest seines Lebens in der forensischen Psychiatrie verbringen müssen.
Für die Mutter ist eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte Marco sogar noch erzählt, dass in der Nachbarschaft eine Frau getötet worden sei. Da hatte er sehr betroffen reagiert: „Oh mein Gott, das ist ja total schlimm!“
"Es ist immer noch unfassbar"
Ein Jahr nach dem Mord an Katrin Michalk hat auch Marcos Familie die Tat noch immer nicht verstanden. „Es ist für uns noch immer unfassbar“, sagte Marcos Vater der tz. „Unser tiefes Mitgefühl gilt weiterhin der Familie der jungen Frau.“ Er sei immer noch geschockt, dass sein Sohn so gehandelt habe. „So etwas liest man sonst nur in der Zeitung“, sagt der Münchner Gastronom. „Und plötzlich berichten die Medien über den eigenen Sohn.“ Marco habe stets ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt, erzählt der Vater. Auch nach der Scheidung der Eltern konnte Marco immer zu seinem Vater, der die Familie weiterhin unterstützte. Unter anderem machte Marco ein Praktikum in der Küche seines Vaters, schnupperte dort Gastronomieluft.
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