Ich denke, wichtig um zu verstehen, worum es in diesem Fall geht ist, dass man sich von deutschen Vorstellungen frei macht. Australien ist ein ganz anderes Land als Deutschland, landschaftlich, von der Grösse her, der Infrastruktur, aber auch der Mentalität. Ohne dieses Verständnis wird man die Begebenheiten in diesem Fall nicht nachvollziehen können!
Zum einen Landschaft und Entfernungen: Die Entfernungen sind immens und man darf das nicht einfach 1:1 auf Europa übertragen: Auf einer Strecke von 5000km, das entspricht der Luftlinie vom Nordkap in Nordnorwegen bis an die Südgrenze von Marokko in Afrika, käme man durch zig Länder Europas, würde eine Menschenansammlung nach der anderen sehen, kulturelle Höhepunkte noch und noch, man käme an Oslo, Kopenhagen, Hamburg, Köln, Brüssel, Paris, Madrid, Gibraltar, Casablanca usw. vorbei und könnte ein Leben lang auf dieser Strecke unterwegs sein und könnte nicht alles sehen.
In Australien sieht man tagelang immer nur das Gleiche: eine eintönige und vor allem menschenleere Landschaft!
Wenn man hier von "Reisen" (travel) spricht, wie in dem zitierten Artikel der Polizei:
"Ms Pearce-Stevenson and Khandalyce are from a loving family. Both were born in Alice Springs but we know that during 2008 they moved away from their family and started to travel.
"Contact with the family became less over time and on 4 September 2009 Ms Pearce-Stevenson's mother raised a Missing Person Report with the Northern Territory Police.
...dann ist damit nicht reisen im europäischen Sinn gemeint, wie "auf Entdeckungsreise" gehen. Hier ist gemeint, dass sie mit unbestimmten Ziel aufbracheh, aber sicherlich nicht, um eine Entdeckungsreise zu machen.
In Australien lebt der ganz grosse Teil der Bevölkerung an der Küste, und auch dort nur in wenigen Grosstädten, Melbourne, Sydney, Brisbane, Adelaide und Perth, sowie etwas im Landesinnern, Canberra.
Alice Springs, die Heimatstadt unserer Opfer hat nicht einmal 30,000 Einwohner, das entspricht also einer deutschen Kleinstadt, aber liegt so einsam, dass man tatsächlich stundenlang fahren muss, um in eine andere nennenswerte Stadt zu kommen. Man kann das ein wenig mit dem alten West-Berlin vergleichen: man lebt in gewisser Weise auf einer Insel, muss jeden Tag dasselbe sehen und nur mit grösserem Aufwand kann man ein wenig Abwechslung erhalten.
Ich gehe davon aus, dass die beschränkten Möglichkeiten und Abwechslungen in Alice Springs der 20jährigen Karlie einfach nicht genug waren.
Reisen deute ich daher als den Versuch, irgendwo ein aufregenderes und besseres Leben zu finden, und Adelaide an der Südküste bietet sich da durchaus an. In und um Adelaide leben 1,3 Millionen Einwohner, das entspricht dem Grossraum Köln und Bonn zusammen. Hier ist definitiv mehr los als im beschaulichen Alice Springs.
Allerdings vermute ich einmal, sind die grossen Träume von Karlie, hier ein neues Leben zu beginnen, auf Probleme gestossen, wie sie typisch für solche Lebensläufe sind: das ist so wie wenn eine sehr junge, alleinerziehende Mutter ohne nennenswerte Bildung oder Ausbildung mit kleinem Kind plötzlich und ohne Vorwarnung und Vorplanung von Bamberg nach Berlin zieht.
In der anonymen Grosstadt warten Gefahren auf die beiden, die sie vermutlich gar nicht geahnt haben. Karlie sah nicht schlecht aus, sie hat bestimmt den einen oder anderen Typen angezogen, der ihr nicht unbedingt Gutes wollte.
Und auch in Australien wächst Geld nicht auf den Bäumen, der Sozialstaat ist auch nicht so ausufernd wie in Deutschland, man erwartet dort, dass man für Geld auch arbeitet - als alleinerziehende Mutter nicht ganz so einfach, wenn man sich gerade von seinem "support system" Familie getrennt hat.
Hier sehe ich den Schlüssel zu dem Fall: wen hat sie in Adelaide kennengelernt? Was hat sie dort in den Monaten des Jahres 2008 getan, wo hat sie gewohnt und gearbeitet, wenn überhaupt?
Die Sichtung in Coober Pedy spricht dafür, dass sie nach Hause wollte, denn wie schon mehrmals gesagt, liegt sie in der gegensätzlichen Richtung von der Ostküste mit den Städten Sydney etc. Wer bis Coober Pedy kommt, der will nach Alice Springs, ein anderes Ziel ist dort nicht. (Das ist in etwas so wie wenn ich von Frankfurt am Main nach Hamburg fahre und in Melsungen in Hessen gesehen werde. Niemand will jemals nach Melsungen.)
Warum also ist sie dort nie angekommen? Wer oder was hat sie zur Umkehr gebracht? Und eben die Frage: war sie allein mit ihrer Tochter unterwegs oder war zu diesem Zeitpunkt jemand mit ihr unterwegs?
Von Adelaide nach Alice Springs fährt man ca. 16 Stunden. Coober Pedy ist etwa auf halber Strecke. Es ist naheliegend, dass sie dort eine Pause machte, evtl. gar übernachten wollte, was in Australien bei armen Leuten durchaus bedeuten kann, einfach im Auto zu schlafen. Im November wird es dort nachts selten kälter als 17 Grad Celsius.
Coober Pedy und Umgebung haben gerade einmal ca. 3000 Einwohner, also soviel wie ein grösseres Dorf in Deutschland, da es aber allein auf weiter Flur ist, gibt es vergleichsweise viele Dienstleistungen einschliesslich Bahnhof, Flugplatz, Motels, Läden, Restaurants etc. Normalerweise übernachten Reisende hier auf dem Weg zwischen Adelaide und Alice Springs, aber mangels einer Fülle von Sehenswürdigkeiten in der Regel nicht mehr als eine Nacht. Das bedeutet, es kommen relativ viele Fremde hierher, aber bleiben seltenst so lange, dass man sie wahrnimmt oder gar kennenlernt. Das macht es sehr anonym, die meisten Durchreisenden werden dort kaum wahrgenommen werden.