Der mysteriöse Tod des Jens Henrik Bleck
19.10.2015 um 19:20Danke für die Verlinkung des Artikels.
Die Ereignisse jener Nacht des 8./9. November lassen sich inzwischen deutlicher rekonstruieren als noch vor einem Jahr oder gar vor zwei Jahren:http://story.ga-bonn.de/bonn/der-fall-jens-bleck/ (Archiv-Version vom 23.10.2015)
23.49 Uhr
Jens und seine ehemaligen Schulkameraden verlassen die Stadtbahn der Linie 66 an der Endhaltestelle und betreten Minuten später die Diskothek „Rheinsubstanz“. Die (inzwischen geschlossene) Bad Honnefer Diskothek im ehemaligen städtischen Hallenbad füllte sich stets erst am späten Abend. An den besseren Wochenenden zählte die Rheinsubstanz 500 Gäste pro Abend, nach Mitternacht tummelten sich mitunter 300 Menschen auf der Tanzfläche im trocken gelegten Schwimmbecken.
1.52 Uhr
Jens tritt mit dem Handy am Ohr aus der Diskothek in den Vorraum, wo sich Kasse und Garderobe befinden. Alma Bleck ist sofort hellwach, als ihr Handy klingelt. Die Mutter sieht die Kennung ihres Sohnes im Display und drückt die Empfang-Taste. „Jens?“ Laute Stimmen, streitende, keifende Frauenstimmen, dazwischen die Stimme ihres Sohnes sowie eine weitere männliche Stimme. Alma Bleck ruft ins Telefon: „Jens? Bitte antworte doch!“. Aber Jens reagiert nicht. Die Verbindung bricht ab.
1.54 Uhr
Jens betritt erneut den Vorraum, spricht dort wild gestikulierend mit der Garderobenfrau, der Schichtleiterin, der Kassenfrau. Später sagen die drei Mitarbeiterinnen, Jens Bleck sei sehr aufgebracht gewesen und habe verlangt, die Geschäftsführung zu sprechen. Sie versichern, der Gast habe nicht konkret benannt, worüber er sich beschweren wollte. Aber er habe gedroht, den Laden zu verklagen, dann werde die Diskothek geschlossen.
2.02 Uhr
Die Schichtleiterin schiebt Jens zum Ausgang. Jens leistet keinen Widerstand, redet aber aufgebracht weiter. Später sagt die Schichtleiterin dem General-Anzeiger, sie habe dem Gast wegen seines Verhaltens Hausverbot erteilt und des Gebäudes verwiesen.
2.03 Uhr
Jens passiert den draußen auf dem Vorplatz aufgestellten Imbisswagen und geht in Richtung Taxistand.
2.04 Uhr
Alma Blecks Handy klingelt erneut. „Hallo, hier ist Jens Bleck und ich stehe vor der Rheinsubstanz.“ Alma Bleck entgegnet: „Jens? Was ist los?“ Jens antwortet: „Ach so, entschuldigen Sie bitte.“ Alma Bleck: „Jens, ich bin es doch, deine Mutter. Wo bist du?“ Jens: „In Bad Honnef.“ Dann bricht die Verbindung ab. Die Eltern versuchen mehrmals, ihren Sohn zurückzurufen. Ohne Erfolg. Schließlich schreibt Torsten Bleck seinem Sohn eine SMS: „Bitte melde dich.“ Doch die SMS erreicht den Empfänger nicht, weiß der Vater. Denn sein Handy ist so eingestellt, dass eine Empfangsbestätigung einginge, wenn das Gerät seines Sohnes empfangsbereit wäre. Natürlich machen sich die Eltern Sorgen. Aber sie trösten sich damit, dass er ja nicht allein unterwegs ist, sondern bei seinen ehemaligen Schulkameraden; dass er vermutlich in die Diskothek zurückgekehrt ist und dort nun keinen Empfang mehr hat. Was sie nicht wissen und nicht ahnen können: Jens ist draußen und längst von seinen Freunden isoliert. Warum sein Handy ab diesem Zeitpunkt nicht mehr reagiert, bleibt bis heute ein Rätsel.
02.08 bis 02.10 Uhr
Zwei junge Männer und eine junge Frau verlassen wenige Minuten nach Jens die Diskothek. Sie werden später als jene drei Zeugen identifiziert, die von der Brücke zur Insel Grafenwerth aus gesehen haben wollen, wie ein Mensch unter der Brücke hindurch im Rhein trieb und um Hilfe schrie (s. 02.52 Uhr).
2.04 bis 2.42 Uhr
Um diese Zeit hätte in dieser Nacht die letzte Bahn der Linie 66 die Endhaltestelle Bad Honnef in Richtung Bonn verlassen. Normalerweise. Sie fährt aber nicht. Wegen nächtlicher Gleisbauarbeiten seit Mitternacht.
Wann genau in diesem 38-minütigen Zeitfenster sich die folgenden Ereignisse zugetragen haben (und was sich in dieser Zeit vielleicht außerdem noch zugetragen hat), lässt sich nicht exakt feststellen. Am nächsten Tag wird ein sogenannter Mantrailer eingesetzt, ein speziell ausgebildeter Spürhund. Alma Bleck stellte der Polizei dafür ein getragenes Kleidungsstück ihres Sohnes zur Verfügung. Der Hund nimmt auf dem Gelände die Spur auf und rekonstruiert ein bizarres Bewegungsmuster, das zum Beispiel rund um das benachbarte Gebäude einer in der Nacht geschlossenen Gaststätte führt. War Jens Bleck auf der Flucht? Wollte er sich verstecken?
Nachweislich wendet sich der Student in diesem Zeitfenster an einen der Taxifahrer am Wartestand, krümmt sich dabei vor Schmerzen, reibt sich den Bauch: „Können Sie mir bitte helfen? Ich habe Angst. Die sind hinter mir her. Die wollen mich töten. Können Sie mich bitte nach Hause fahren? Nach Bad Godesberg. Ich habe nicht mehr genug Geld, aber eine EC-Karte. Wenn Sie kurz am nächsten Bankautomaten halten, kann ich Sie bezahlen.“
Der Taxifahrer lehnt ab. Er und seine Kollegen haben schon zu oft schlechte Erfahrungen mit jungen Leuten gemacht, die an der nächsten roten Ampel aus dem Wagen springen, ohne zu zahlen. Gefahren wird grundsätzlich nur gegen Vorkasse. „Junge, wenn du Stress hast: Da hinten steht doch die Polizei.“
Jens geht zu dem etwa zehn Meter entfernten Streifenwagen. Die Beamten nehmen einen Autounfall auf. Ein großer, weißer Audi ist etwa eine halbe Stunde zuvor gegen einen Laternenmast gerast, der Verursacher hat sich längst aus dem Staub gemacht. Sachschaden, kein Personenschaden, niemand außer dem Flüchtigen war an dem Unfall beteiligt. Die Taxifahrer beobachten, wie Jens die beiden Polizisten anspricht, wie einer der Beamten ihn verärgert anraunzt und wegschiebt, weil der junge Mann im Spurenbild steht. Jens kehrt zu den Taxifahrern zurück. Angst in den Augen.
Einer der jüngeren Fahrer erklärt sich bereit, ihn zu fahren. Da schaltet sich ein älterer Kollege ein: „Nix da. Nur gegen Vorkasse!“ Jens geht erneut zu den Polizisten. Die Taxifahrer beobachten, wie der 19-Jährige aufgefordert wird, sich auszuweisen, daraufhin seine Geldbörse zückt, einer der Beamten sie entgegennimmt und einsteckt. Zwei junge Männer erscheinen am Unfallort. Sie gehören nicht zu Jens’ Clique. Nach Beobachtung der Taxifahrer „ein Südländer und ein Osteuropäer“. Sie nehmen Jens vor den Augen der beiden Polizeibeamten in die Mitte, legen den Arm um ihn und behaupten, sich nun um ihn zu kümmern. Wenig später sieht einer der Taxifahrer, dass Jens heftig aus der Nase blutet und sich die beiden Fremden mit dem 19-Jährigen entfernen.
Erst zehn Tage später wird nach diesen beiden unbekannten Männern erstmals öffentlich gefahndet. Ohne Erfolg. Den Eltern wird auf Nachfrage mitgeteilt, eine Verbindung zum Tod ihres Sohnes sei aber ohnehin auszuschließen. Dabei hatte es inzwischen einen bemerkenswerten Hinweis gegeben: Am 22. November 2013 rief eine junge Frau am späten Nachmittag bei der Bonner Kripo an. Die Brücken-Zeugin (s. 02.08 Uhr, 02.52 Uhr und 02.55 Uhr). Ihr sei noch etwas eingefallen: Die Beschreibung in der öffentlichen Fahndung, die sie gelesen habe, passe auf einen ihrer beiden Begleiter, mit denen sie sich zur fraglichen Zeit außerhalb der Diskothek aufgehalten habe. Der Beamte erstellte über das Telefonat einen Aktenvermerk. Der wurde aber erst fast ein Jahr später in die Ermittlungsakte aufgenommen. Inzwischen erscheinen immer mehr Schaulustige auf dem Vorplatz der Diskothek und kommentieren lautstark das Geschehen am Unfallort. Die Streifenwagenbesatzung fordert sicherheitshalber Verstärkung an. Wenig später fährt ein zweiter Streifenwagen vor.
2.42 Uhr
Jens stürmt durch den Eingang zurück in das Innere der Diskothek und versucht, in der Nähe der Toiletten auf die gesperrte Galerie zu gelangen. Auf der Treppe fängt ihn die Schichtleiterin mit Hilfe von zwei Türstehern ab. Die führen ihn zurück zum Ausgang, die beiden Türsteher packen ihn an Arm und Nacken. Jens wehrt sich diesmal mit Händen und Füßen gegen den Rauswurf, hält sich am Türrahmen fest. Vergeblich. Um 2.44 Uhr läuft er vom Vorplatz der Diskothek in Richtung Brückenauffahrt.
Einer der ehemaligen Schulfreunde beobachtete zufällig die Szenerie in der Disco: „Jens hatte so einen merkwürdig leeren Blick. Er hat mich gar nicht wahrgenommen, als er von den Türstehern an mir vorbei geschoben wurde.“ Er informiert einige Mitglieder der Geburtstagsgesellschaft in der Disco. Doch man beschließt nach kurzer Diskussion, Jens nicht nach draußen zu folgen. Weil man dann ja möglicherweise das Eintrittsgeld neu entrichten müsste. Immerhin wurde um 02.46 Uhr der Versuch unternommen, Jens telefonisch zu erreichen. „Aber das Handy war tot.“
2.52 Uhr
Der zweite Streifenwagen, die angeforderte Verstärkung, rast vom Unfallort zur Brückenauffahrt. Alarmiert von den grellen Schreien einer Frau. Auf der Brücke kommen den Beamten drei junge Leute entgegen. Zwei Männer und eine Frau (s. 02.08 Uhr). Die beiden Männer schildern den Beamten, ein Mensch sei im Wasser unter der Brücke hindurch getrieben, habe wild mit den Armen gerudert und um Hilfe gerufen. Doch in der Dunkelheit der Neumondnacht und bei der vom Hochwasser verursachten Fließgeschwindigkeit von rund zehn Stundenkilometern können die Beamten schon nichts mehr sehen.
2.55 Uhr
Die junge Frau von der Brücke betritt die Diskothek und sucht die Damentoilette auf. Die Polizeibeamten haben zuvor versäumt, sie zu befragen und ihre Personalien aufzunehmen. Und ihre beiden männlichen Begleiter auf der Brücke behaupten, die Frau gar nicht zu kennen. Nicht mal ihren Namen. Erst Wochen später wird die 17-Jährige identifiziert und vernommen. Als Minderjährige hätte sie die Einlasskontrolle der Rheinsubstanz gar nicht überstehen dürfen. Weil offiziell nur Erwachsene Zutritt haben.
2.57 Uhr
Ein unbekannter Mann verlässt die Damentoilette. Zwei Minuten später verlässt die Brücken-Zeugin die Damentoilette, diskutiert eifrig gestikulierend mit einem unbekannten Mann, verschwindet schließlich gemeinsam mit ihm wieder in der Damentoilette.