Dass die Fälle Graf und Obst gut zusammenpassen und eher auf ein und denselben Täter schließen lassen als es in anderen Fällen (z.B. Amtenbrink und Liebs) der Fall ist, muss nicht unbedingt heißen, dass man das komplett ausschließen kann, dass es schon Vortaten gab, die nicht ins selbe Muster passen. Ich habe einige Bücher über Serienmörder (vornehmlich US-Fälle) gelesen und da fiel auf, dass gerade die Ersttat oft gar nicht ins Folgemuster passt. Das liegt daran, dass die Ersttaten meist spontan begangen werden - die passieren dem Täter mehr als dass er sie wirklich plant. Natürlich tragen sich solche Typen schon vor dem ersten Mord mit kranken Gedanken, haben evtl. Brände gelegt, Tiere gequält, eingebrochen oder "kleinere" Sexualdelikte begangen (Spannen/Stalken, Exhibitionismus u.ä.), aber den ersten Mord begehen sie meist aus einer günstige Gelegenheit heraus, und da muss das Opfer auch meist sterben, um die eigentliche Straftat (Vergewaltigung u.ä.) an ihm zu verdecken. Das Opfer ist in dem Fall ein Zufallsopfer, was vom Geschlecht her passt, aber nicht unbedingt von der Optik, Alter etc. seinem eigentlichen Beuteschema entspricht. D.h. es kann eine durchaus sehr viel ältere oder jüngere, dickere oder dünnere etc. Frau sein, und es kann an einem ganz anderen Ort geschehen (nämlich da, wo der Täter zu dem Zeitpunkt gerade zufällig war) als denen, wo er später geplante (!) Taten begeht.... Diese erste spontane Tat ist aber die Initialzündung und gibt dem Täter diesen Kick, wie hubertzle es gestern im 13.42 Uhr in seinem Beitrag beschrieb.
Dieser Kick hält eine Weile an und wird vom Täter in der Erinnerung immer wieder durchlebt. Aber irgendwann reicht ihm das nicht mehr, und dann will er das wiederholen. Und so fängt er an, eine weitere Tat diesmal mit Plan anzugehen. Dazu sucht er sich dann einen Ort, an dem er sich sicher fühlt, das durchzuziehen. Wenn das auf den Ort der Ersttat nicht zutrifft, würde er es dort nicht wieder machen. Und er hat durch das immer wieder Durchleben der Ersttat in der Phantasie auch schon genauere Vorstellungen, was er beim 2. Mal anders (besser) machen will. Die zweite geplante Tat kann sich dann in der Durchführung, Örtlichkeit und Opferwahl deshalb völlig von der ersten Tat unterscheiden. Deshalb fällt es gerade schwer, wenn nur eine Ersttat und eine Folgetat bestehen, diese als zusammengehörig zu erkennen.
Lange Rede, kurzer Sinn, man sollte das im Hinterkopf behalten, wenn man über einen Serientäter nachdenkt, dass Frau Graf nicht die Ersttat gewesen sein muss. Sie kann dann trotzdem ein Zufallsopfer sein, dass zufällig da vorbeikam, wo der Täter auf irgendeine Frau wartete, die in sein Beuteschema (Phantasie!) passte. Vielleicht war der Abgreifort ihm dabei wichtiger (weil er sich da sicher fühlte) als sich ein bestimmtes Opfer auszuspähen. Das Problem ist, dass die Täter durch die Folgetaten versuchen, die Initialzündung der Ersttat wieder zu erleben, aber die gibt es nur 1x, so sind die Folgetaten für sie vom Empfinden her meist nur schlechte Kopien des Originals, durch weiteres Planen versuchen sie dann, die Tat weiter zu perfektionieren, aber sie bekommen den ersten Kick einfach nie wieder hin (der wahrscheinlich gerade durch das Spontane und Ungeplante da war). So werden die Folgetaten oft eher unbefriedigend und enttäuschend erlebt, was zu immer kürzeren Abständen zwischen Folgetaten führt, das kann, wenn ein Täter nicht rechtzeitig erwischt wird, bis dahin gehen, dass sie am Ende Morden wie am Fließband und binnen weniger Stunden oder Tage zig Opfer angreifen und/oder töten, dann auch fern von jedem Sicherheitsdenken, so als wollten sie erwischt werden.
@bb37Danke für die Blumen, super Beitrag auch von dir gestern um 16.51 Uhr! Ich habe schon öfter festgestellt, dass wir meist ähnlich über die Fälle denken.
:) Zu deinen anfänglichen Gedanken, dass man bei einem Vermisstenfall (aus Pietät?) nicht gleich einen 2. Mord machen sollte, da muss ich sagen, das fällt mir aus moralischer Sicht auch immer schwer, einer vermissten Person quasi so schon eine Situation an den Leib zu dichten, in der sie vielleicht gar nicht steckt. Aaaaber ich denke, die Polizei muss ja auch so denken, auch wenn es noch nicht feststeht. Denn wenn die Polizei auch erst richtig über solche Möglichkeiten nachdenken und entsprechend spät erst ermitteln würde, wenn sie SICHER sind, es ist eine Straftat, dann würden sicher sehr viel weniger Taten aufgeklärt. Natürlich wollen sie nach außen hin die Bevölkerung nicht beunruhigen und sagen es offiziell nicht, aber ich bin sicher, die spielen in Gedanken genau dieselben Dinge durch wie wir es hier auch tun - und das müssen sie auch.
Ich glaube nicht, dass Frau Obst freiwillig ihre Familie verlassen hat und sie jetzt so im Ungewissen lassen würde, sich polizeilich suchen lassen würde, ohne sich zu melden. Welche sonst als fleißig und zuverlässig geltende Person würde sowas über einen längeren Zeitraum tun? Die Umstände sprechen ganz klar auch gegen Unfall und Suizid... Was bleibt, ist dann ja eigentlich nur das Eine - LEIDER! Aber wenn es so ist, ist man es Opfer und Familie auch schuldig, das nicht zu banalisieren. Klar hofft die Familie, Polizei, wir alle, dass sie noch lebt und ihr NICHTS passiert ist... Aber was würde das am Ende bedeuten? Das würde bedeuten, dass sie FREIWILLIG weg ist und ihre Familie - ihre Kinder! - diesem Bangen und Hoffen, dieser Unsicherheit und seelischen Folter völlig unnötig seit Tagen schon aussetzt. Und das ist doch am Ende noch ein viel schlimmeres Denken über den Charakter der Betroffenen, als sie in Gedanken als Opfer einer Straftat zu sehen, oder?