"2.Versuch:Ist man bei Geburt "allwissend"?
31.12.2005 um 14:09
Erwachen aus dem Traum
Es gibt eine Technik der aktiven Meditation, eine Technik, mit der man bewusst in den Tod gehen kann. In Tibet ist diese Technik unter dem Namen BARDO bekannt.
Ganz ähnlich wie ein Mensch sonst im Moment des Sterbens von den anderen hypnotisiert wird, werden einem Sterbenden dort von Leuten, die ihn im Bardo unterstützen, anti-hypnotische Suggestionen eingegeben. Beim Bardo versammeln sich die Leute um jemanden in seinen letzten Momenten und sagen ihm: "Du stirbst nicht, denn es ist noch nie jemand gestorben." Sie geben ihm anti-hypnotische Suggestionen. Es wird nicht geweint und gejammert; es wird nichts anderes gemacht. Die Leute versammeln sich um ihn und ein Dorfpriester oder ein Mönch sagt zu ihm: "Du stirbst nicht, weil noch nie jemand gestorben ist. Du wirst ganz entspannt und bewusst gehen. Du wirst nicht sterben. Es ist noch nie jemand gestorben."
Der Betreffende schließt die Augen, und dann wird ihm der ganze Vorgang erzählt: wie nun seine Lebensenergie die Beine verlässt, wie sie aus den Händen.hinausgeht, wie er dann nicht mehr sprechen kann und so weiter. Und doch, so wird demjenigen gesagt, ist er immer noch da; er wird bleiben. Und alle um ihn herum geben ihm diese Suggestionen. Diese Suggestionen sind einfach anti-hypnotisch. Das heißt, sie dienen dazu sicherzustellen, dass die Person nicht an der gesellschaftlichen Illusion festhält, sie stünde an der Schwelle des Todes. Um sie daran zu hindern, wird Bardo als Gegengift eingesetzt.
Wenn die Welt einmal eine gesündere Einstellung zum Tod hat, dann braucht man auch kein Bardo mehr. Aber wir leben sehr ungesund, wir leben in einer großen Illusion. Wegen dieser Illusion ist das Gegengift dringend nötig. Wann immer jemand stirbt, sollten sich alle, die ihn lieben, darum bemühen, seine Illusion vom Sterben zu zerstören. Wenn sie es schaffen, ihn wach zu halten und ihn jeden Moment und an jedem Punkt immer wieder daran zu erinnern...
Dann zieht sich das Bewusstsein aus dem Körper zurück. Es passiert nicht alles in einem Moment: Der ganze Körper stirbt nicht auf einmal. Das Bewusstsein zieht sich nach innen zusammen und verlässt ganz allmählich einen Teil des Körpers nach dem anderen. Es zieht sich in verschiedenen Stadien zurück und sämtliche Stadien dieser Kontraktion können dem Sterbenden im Einzelnen vorgetragen werden - als Mittel, um ihn bei Bewusstsein zu halten.
Niemand kann jemals sterben und dabei wissen, dass er stirbt, sich also dessen bewusst sein. Denn er bleibt ja bewusst und sieht, dass er nicht stirbt, dass zwar etwas in ihm stirbt, aber nicht er selbst. Er beobachtet diese Trennung und stellt letztendlich fest, dass sein Körper getrennt von ihm daliegt, in einem gewissen Abstand. Dann erweist sich der Tod lediglich als eine Trennung; er bedeutet lediglich,dass eine Verbindung abgebrochen wird. Es ist so, als würde ich aus einem Haus hinaustreten, und die Mitglieder des Haushalts, die von der Welt außerhalb der Mauern des Hauses nichts wissen, kommen an die Tür, um sich tränenreich von mir zu verabschieden. Sie meinen, der Mann, von dem sie sich verabschiedet haben, sei gestorben.
Gebet und Mitgefühl
Die Trennung von Körper und Bewusstsein ist der Tod. Da es nur eine Trennung ist, macht es keinen Sinn, es Tod zu nennen. Es ist lediglich eine Loslösung, die Unterbrechung einer Verbindung. Es ist nichts anderes als die Kleidung zu wechseln. Wer also mit Bewusstsein sterben kann, stirbt niemals wirklich. Für ihn ist der Tod deshalb kein Thema. Er wird den Tod nicht einmal als Illusion bezeichnen. Er wird nicht einmal sagen, dass jemand stirbt oder nicht stirbt. Er wird einfach sagen, dass das, was wir bis gestern Leben genannt haben, lediglich eine Verknüpfung war. Und diese Verknüpfung ist nun abgebrochen. Nun hat ein neues Leben begonnen, das keine Verknüpfung im vorherigen Sinne ist.
Vielleicht ist es eine neue Verbindung, eine neue Reise. Es ist allerdings nur dann möglich, bewusst zu sterben, wenn man auch bewusst gelebt hat. Wenn du gelernt hast, wie man bewusst lebt, wirst du sicher in der Lage sein, bewusst zu sterben, denn Sterben ist eine Funktion des Lebens, es findet im Leben statt.
Mit anderen Worten: Der Tod ist das letzte Ereignis von dem, was du unter Leben verstehst. Er ist kein Ereignis, das außerhalb des Lebens stattfindet. Es ist wie mit einem Baum, der Früchte trägt. Zuerst sind die Früchte grün, dann werden sie allmählich gelb. Sie werden immer gelber, bis sie schließlich ganz gelb sind und vom Baum fallen. Dieses Herunterfallen ist kein Ereignis, das mit dem Gelbwerden nichts zu tun hätte. Es ist vielmehr die höchste Vollendung des Gelbwerdens.
Wenn eine reife Frucht vom Baum fällt, ist dies kein äußeres Ereignis, es ist vielmehr der Höhepunkt des Reifungsprozesses, den sie bereits durchgemacht hat. Und was geschah, als die Frucht noch grün war? Sie hat sich auf dieses letzte Ereignis vorbereitet. Und dasselbe war der Fall, als die Blüte am Zweig noch nicht einmal aufgeblüht war, als sie sich noch im Inneren des Zweiges verbarg. Selbst dieser Zustand war eine Vorbereitung auf das letzte Ereignis. Und wie war es, als sich der Baum noch gar nicht manifestiert hatte, als er noch im Samen verborgen war? Auch da fand dieselbe Vorbereitung statt. Und wie war es, als dieser Same noch nicht einmal geboren war, sondern noch in einem anderen Baum verborgen war? Derselbe Prozess fand statt.
Der Tod ereignet sich also nur als Teil einer Kette von Ereignissen, die alle zusammengehören. Dieses letzte Ereignis ist nicht das Ende, sondern nur eine Trennung. Eine Beziehung, eine Ordnung wird durch eine andere Beziehung, eine andere Ordnung ersetzt.
In Liebe
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