Die Intrige des Bischofs
Haben Juden vor 500 Jahren Ritualmorde begangen? Das Buch eines israelischen Historikers schlägt in Italien große Wellen
Von Giulio Busi
In Italien nennt man es "Tormentone". Ein Sturm der Meinungen und die gegenseitigen Anschuldigungen, in dem der gewinnt, der lauter schreit. Und tatsächlich sind die Zeitungsseiten und Fernsehkanäle seit einer Woche von gewaltigen Polemiken erfüllt. Überraschenderweise ist das Thema der medialen Auseinandersetzung nicht der Fußball oder die Präsenz italienischer Truppen in Afghanistan noch die angebliche Untreue der Eheleute Berlusconi. Der "Tormentone" wurde durch ein Buch ausgelöst, das gerade in die Läden kam und von einem angesehenen israelischen Professor italienischer Herkunft geschrieben wurde, Sohn eines Mannes, der für Jahrzehnte Oberrabbiner Roms war, der größten jüdischen Gemeinde Italiens und der ältesten Europas.
Schon der Titel "Blutpessachfeste" (Pasque di Sangue) von Ariel Toaff stellt sich auf polemische Weise gegen die politische Korrektheit. Und tatsächlich malt das Werk ein düsteres Bild der jüdischen Gemeinden Norditaliens des 15. Jahrhunderts. Die Galerie der negativen Porträts beinhaltet abenteuerlustige Juden, die zwischen Venedig und Candia als Agenten der Serenissima hin- und herpendeln, jüdische Bankiers mit wenig Skrupeln, die mit Falschgeld handeln, Richter bestechen und Meuchelmörder anwerben, meineidige Juden, die sich dem Meistbietenden verkaufen und aus dem Nichts Verleumdungen und Komplotte erfinden. Und vor allem Juden voller Rachsucht, die während des Pessachfestes Christen morden. Und das ist der umstrittenste Punkt. Das Kapitel, welches Toaff wieder öffnen möchte ist in der Tat eines der heißesten in der europäischen Geschichte: Es geht um die Ritualmordvorwürfe, die über Jahrhunderte hinweg gegen die Juden vorgebracht wurden und die furchtbare Verfolgungen und tausende von Toten verursacht haben.
Toaff präsentiert seine Arbeit als Verteidigung des Rechtes des Historikers, nicht vor verschlossenen Türen stehenzubleiben. Die Verletzungen durch den Antisemitismus sind jedoch zu tief, als dass solch eine historische These mit jener Gleichgültigkeit behandelt werden könnte, mit der die öffentliche Meinung gewöhnlich Dispute zwischen Gelehrten behandelt. Und deshalb haben die italienischen Rabbiner noch bevor sie das Buch gelesen haben eine Erklärung unterschrieben, die das Buch verdammt, und auch der eigene Vater hat sich vom Werk Ariel Toaffs distanziert. Die Aufregung hat das Niveau persönlicher Angriffe und gar von Einschüchterungsversuchen erreicht. Vor ein paar Tagen sagte Toaff in einem Interview, dass er sich in einem römischen Hotel verbarrikadiert und nicht den Mut habe, sich ins Jüdische Viertel zu begeben aus Angst vor physischen Angriffen.
Auch wenn die emotionalen Reaktionen und die Bestürzung in gewisser Weise vorhersehbar waren, so sind die Drohungen doch inakzeptabel: das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung muss diskutiert und eventuell mit rationalen Argumenten auseinandergenommen werden und nicht mit vorgefertigten Meinungen im Sinne eines "das kann nicht sein", oder, noch schlimmer, mit Gewalt.
Die grundlegende These des Buches ist einfach: Der Ritualmord wird heute als eine Inszenierung ohne jegliche Grundlage angesehen, aber niemand hatte den Mut, nachzuforschen, ob es in der Kultur der in solche Vorwürfe involvierten Juden nicht doch irgendwelche verdächtigen Hinweise gegeben hat. Toaff zeichnet nun das Bild einer jüdischen Gesellschaft, die gewalttätig war, bigott und voller Aberglauben und deren Mitglieder sich, traumatisiert von den christlichen Verfolgungen, auf grausame Art gerächt hätten. Am Ende jener fast 400 Seiten einer in sich geschlossenen Dokumentation wird der Leser dazu gebracht, zu glauben, dass eine - wenn auch marginale - Gruppe von deutschstämmigen Juden sich tatsächlich mit dem Blut ermordeter Christen befleckt haben könnte, um einem Gefühl religiösen Hasses Ausdruck zu verleihen.
Der wichtigste Fall auf den sich das Buch stützt, ist der, der als der Fall des Simone von Trient traurige Berühmtheit erlangte. Im Jahr 1475 wurden die Juden der Stadt beschuldigt, den kleinen Sohn eines christlichen Gerbers umgebracht und seinen Leichnam für einen makaberen Ritus in der Synagoge missbraucht zu haben. Nach einem kurzen Prozess wurden die Angeklagten verurteilt und das Kind, welches zum Märtyrer erklärt worden war, wurde zum Objekt der Anbetung.
Toaff nimmt nun die Gerichtsakten erneut zur Hand und findet in den Geständnissen der Angeklagten Spuren von Wahrhaftigkeit, die es plausibel erscheinen lassen sollen, dass christliches Blut von Juden aschkenasischer (deutscher) Herkunft verwendet worden war. Toaff ist ein herausragender Kenner des Judentums jener Epoche und rekonstruiert meisterhaft das Netz von Interessen, das die Mitglieder der kleinen Gemeinden deutscher Herkunft verbindet, die über das Trentino bis nach Venezien und die Lombardei zerstreut sind. Und dennoch überzeugt die Methode nicht, mit der er den sehr delikaten Prozess von Trient analysiert.
Statt den Gegensatz zwischen Verteidigung und Anklage herauszuarbeiten, akzeptiert Toaff im Grunde die Geständnisse der Vernehmungsakten als Beweisstück und eignet sich am Ende die Schuldthese an, die der damalige Bischof von Trient, Johannes Hinderbach, aufgestellt hatte. Zugleich schweigt er über die Gründe, die Hinderbach dazu veranlasst haben könnte, die Juden zu beschuldigen. Der Leser kann sich auch kein Bild davon machen, mit welcher Effizienz der Fall Simonino von der Kirche in Trient ausgeschlachtet wurde, um einen einträglichen lokalen Kult zu etablieren. Es fehlt also der Kontext, in dem sich das tragische Ereignis abspielt, wie sich auch im Buch keine Spur findet der fundamentalen Frage jeder Untersuchung: cui bono? Wem nützt es?
So fällt das Porträt Hinderbachs sehr unscharf aus, eines Humanisten von großer Kultur, der entschlossen war, die Kontrolle über die eigene Diözese zu stärken und der als erfahrener Jurist auch sehr wohl in der Lage war, einen Fall so zu lenken, dass er ihm selbst große Vorteile einbrachte. Toaff schweigt auch über Giovanni Maria Tiburtino, einen Arzt, von dem bekannt war, dass er im Dienste Hinderbachs stand, der über den Leichnam Simones jene Expertise anfertigte, mit der die Juden beschuldigt wurden und der dann die Schmähschrift schrieb, durch die der Fall internationale Berühmtheit erlangte. Auch kein Wort über Johannes Schweitzer, jenen Christen, der am Anfang der Ermittlungen angeklagt und dann hastig freigesprochen wurde. Nur kurz erwähnt wird eine sehr verdächtige Figur, ein konvertierter Jude, der gerade in den Tagen, in denen der Fall inszeniert wurde, eine detailreiche Zeugenaussage machte über das, was er über einen Ritualmord "wusste", der schon in Deutschland geschehen war.
Dazu kommt, dass die Vorgehensweise von Hinderbach auch in Rom Verwunderung auslöste, so dass Sisto IV den Bischof Battista de' Giudici schickte, um die Fakten zu ermitteln. Nach einem Machtkampf mit Hinderbach war der päpstliche Gesandte gezwungen, nach Rom zurückzukehren, wo er jedoch eine Abhandlung verfasste, in der er auf der Unschuld der Juden und den Unregelmäßigkeiten des Prozesses pochte. Hinderbach versuchte den unbequemen Ermittler mit allen Mitteln zu diskreditieren und stellte ihn als jemanden dar, der sich an die Juden verkauft habe. Das ist genau die These, die von Toaff aufgegriffen wird. An diesem Punkt ist klar, dass etwas an der Rekonstruktion des Historikers nicht aufgeht. Toaff scheint ignorieren zu wollen, dass der objektive Vorteil bei dieser Angelegenheit komplett auf der christlichen Seite lag. Sollen wir annehmen, dass die Juden Simone tatsächlich umgebracht haben und Hinderbach nur die Gelegenheit wahrgenommen hat, sich ihrer zu entledigen? Zu viele Zeichen deuten in die gegenteilige Richtung: Der Prozess war ein bloß summarisches Verfahren, unter ausgiebiger Verwendung der Folter; die Angeklagten konnten sich nicht verteidigen und selbst dem päpstliche Ermittler gelang es nicht, freies Geleit für ihre Anwälte zu erhalten. Toaff meint, dass viele Elemente der Geständnisse genuin jüdisch klingen, aber er bietet keinen überzeugenden Beweis für die Glaubwürdigkeit der Dokumente und vernachlässigt die Rolle, die der geschwätzige Konvertit, der den Inquisitoren von Trient zur Verfügung stand, gespielt haben könnte, um diesen Anschein von "Jüdischkeit" zu erreichen.
Zu guter letzt, während die Juden noch gefoltert wurden, begann der Leichnam des "Märtyrers" Wunder zu wirken, zur vollen Zufriedenheit des Propagandaapparats von Hinderbach, dem es auf diese Weise gelang, der Kirche von Trient einen neuen Seeligen zu schenken und gleichzeitig seine Unabhängigkeit von Rom zu demonstrieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Fall Simonino das, was er bis heute für die Gelehrten zu sein schien, und zwar eine von interessierter Seite eingefädelte Verleumdung. Die gesamte Prozessakte ist von zu vielen Zweideutigkeiten durchdrungen, um als objektive Quelle benutzt zu werden für die Rituale und Glaubensinhalte der aschkenasischen Juden. Wenn man aber diesen Mittelpunkt des Buches wegnimmt, bleibt nur eine Summe unzusammenhängender Elemente, die tatsächlich eine Situation des bitteren Religionskonfliktes zwischen Christen und Juden dokumentieren wie auch einen weit verbreiteten Aberglauben, die aber in keinster Weise die These bestätigen, dass die Juden Ritualmorde praktiziert und gar das Blut der Opfer in blasphemischer Weise verwendet hätten.
Aus dem Italienischen von Clemens Wergin.
http://web.archive.org/web/20070217045212/http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/15.02.2007/3083134.asp