Scientology - Welches Ziel haben sie?
18.11.2007 um 01:30
Hintergrundinformation
Erich Fromm
„Dianetik“ - die Heilslehre der Scientology-Church
Diese Buchbesprechung des grundlegenden Werks der Scientology-Church
mit dem Titel Dianetics, das L. Ron Hubbard 1950 veröffentlichte, wurde
1950 von Erich Fromm unter dem Titel „For Seekers of Prefabricated Hap-
piness“ in der Wochenendausgabe der New York Herald Tribune Book Re-
view vom 3. September 1950 auf Seite 7 veröffentlicht. Die Übersetzung
aus dem Englischen besorgte Karl von Zimmermann. - Copyright © 1950
by Erich Fromm and 2001 by The Literary Estate of Erich Fromm, c/o Dr.
Rainer Funk, Ursrainer Ring 24, D-72076 Tübingen; Fax: +49-7071-
600049, E-mail: frommfunk[at-symbol]aol.com.
Noch nie hatten die Menschen ein größeres Interesse an der Psychologie und
der Kunst des Lebens als heute. Der Anklang, den Bücher finden, die diese
Themen behandeln, ist ein Anzeichen für die ernsthafte Beschäftigung vorrangig
mit den menschlichen, und weniger mit dem materiellen Aspekten des Lebens.
Unter diesen Büchern finden sich einige, die das Bedürfnis nach einer rationalen
Anleitung befriedigen, zugleich aber auch andere, die sich an Leser wenden, die
nach einem vorfabrizierten Glück und wunderhaften Heilungen suchen. „Dianetik“
ist das letzte in der Reihe dieser Bücher, und der Autor benutzt alle Mittel des Er-
folgs mit einer erstaunlichen Leichtfertigkeit. „Die Schöpfung der Dianetik ist ein
Meilenstein für den Menschen, der Entdeckung des Feuers vergleichbar und den
Erfindungen von Rad und Bogen überlegen.“ Der Autor beansprucht, nicht nur
die „einzige Quelle für jede Art von Neurose, Psychose, Kriminalität und psycho-
somatischer Krankheit“ entdeckt zu haben, sondern auch eine Therapie, die all
diese Krankheiten heilt. „Dianetik heilt und sie heilt ohne zu versagen.“
Der Autor legt eingangs eine allgemeine Theorie der Struktur des Geistes
dar, um dann auf diesen Prämissen eine Theorie von seelischen Störungen und
der Technik ihrer Behandlung aufzubauen. „Der Mensch wird einzig durch das
Überleben motiviert.“ Er überlebt zum Zwecke des Selbsts, des Geschlechts, der
Gruppe und der Menschheit. Jedes dieser „Zweckteile des umfassenden dyna-
mischen Prinzips“ wird eine „Dynamik“ genannt. Er unterscheidet einerseits den
„analytischen Geist“, „der Erfahrungsdaten wahrnimmt und vermerkt, um Proble-
me zu erörtern und zu bewältigen und den Organismus den vier Dynamiken ge-
mäß zu steuern“. Andererseits unterscheidet er den „reaktiven Geist“, der physi-
sche Schmerzen und schmerzhafte Emotionen ordnet und vermerkt und der da-
nach trachtet, den Organismus ausschließlich auf der Basis des Reiz-Reaktion-
Musters zu steuern. Während der analytische Geist, der mit einer riesigen Re-
chenmaschine verglichen wird, in Unterscheidungen und Ähnlichkeiten denkt,
denkt der reaktive Geist einzig in Identitäten.
Der Begriff des „reaktiven Geistes“ ist die Grundlage der Theorie Hubbards
über geistige Krankheit und ihre Heilung. In Augenblicken intensiven physischen
oder emotionalen Schmerzes ist der analytische Geist außer Kraft gesetzt. Die
Worte werden in der Gegenwart der „unbewussten“ Person gesprochen und so-
mit als „Engramme“ registriert. Diese Engramme sind dem normalen Prozess der
Wiedererinnerung nicht verfügbar. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ist die
Person durch die Inhalte dieser Engramme determiniert, vergleichbar einer Per-
son, deren posthypnotisches Verhalten durch Eingebungen motiviert ist, die ihr
während der Hypnose suggeriert wurden. „Wenn es jemals einen Teufel gegeben
hat, dann hat er den reaktiven Geist erfunden. ... Er verursacht alles, was in ir-
gendeiner Liste geistiger Krankheiten gefunden werden kann: Psychosen, Neu-
rosen, zwanghafte Triebe, Verdrängungen. ... Man kann Arthritis, Schleimbeutel-
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entzündungen, Asthma usw. bekommen, den ganzen Katalog psychosomati-
scher Krankheiten. ... Das Engramm ist die einzige Quelle für Abweichungen und
psychosomatische Krankheiten.“
Die dianetische Therapie geht von diesen Prämissen aus. Der („ungereinig-
te“) Patient ist krank, weil das Engramm ihn krank macht. Wenn alle wichtigen
Engramme, besonders die der pränatalen Periode, zurückgerufen werden („wie-
derkehren“), ist der Patient für immer frei („gereinigt“) von allen „Abweichungen“
und dem Durchschnitt an Intelligenz überlegen. Der Therapeut („Auditor“) führt
diese Wiederkehr des Engramms dadurch herbei, dass er den Patienten in einen
Zustand der „Träumerei“ versetzt. „Während ich von eins bis sieben zähle, wer-
den sie ihre Augen schließen. Sie werden alles, was vor sich geht, bewusst
wahrnehmen.“ Daraufhin zählt der Auditor „langsam, besänftigend“, bis der Pati-
ent seine Augen schließt. Im Laufe der darauf folgenden „Träumerei“ wird der
Patient aufgefordert, in frühere Lebensabschnitte, sogar bis hin zum Zeitpunkt
seiner Empfängnis, „zurückzukehren“. Zu Ende der Sitzung wird er dann wieder
in die Gegenwart zurückgebracht. Die Engramme müssen auf diese Weise viel-
fach rekapituliert werden, bis sie vollständig „ausgelöscht“ sind.
Trotz ihres phantastischen Anspruchs ist an der Theorie Hubbards, abgese-
hen von neuen Worten für eine Mixtur aus Missverständnissen, verworrenem
Freudianismus und hypnotischen Regressionsexperimenten, kaum etwas origi-
nal. Die wenigen Begriffe allerdings, die „original“ sind, sind alarmierend. Dies ist
zum Beispiel der Fall, wenn wir hören, dass der Patient die Worte wiedergibt, die
der Arzt zu seiner schwangeren Mutter gesagt hat, oder auch die Worte des Va-
ters zu seiner Frau kurz nach der Empfängnis. Als der Rezensent diese Fallge-
schichten las, war er versucht, sich zu fragen, ob der Autor eine komische Paro-
die über bestimmte psychiatrische Theorien und die Leichtgläubigkeit des Publi-
kums zu schreiben beabsichtigte.
Hubbards Buch kann kaum als ein Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen
ernstgenommen werden. Ernstnehmen muss man es jedoch als Symptom eines
gefährlichen Trends. Wäre es nur eine allzusehr vereinfachte Popularisierung
Freudscher Theorien, dann könnte man es als harmlos betrachten. Aber „Diane-
tik“ bringt eine Geisteshaltung zum Ausdruck, die den Lehren Freuds exakt ent-
gegensteht. Freuds Ziel war es, dem Patienten zu einem besseren Verständnis
der Komplexität seines Geistes zu verhelfen. Seine Therapie basierte auf dem
Konzept, dass man durch das Verstehen des eigenen Selbst sich frei machen
kann von der Abhängigkeit gegenüber irrationalen Kräften, die Unglück und see-
lische Krankheit verursachen. Diese Vorstellung ist Teil der großen östlichen und
westlichen Tradition von Buddha und Sokrates zu Spinoza und Freud. „Dianetik“
zeigt hingegen weder Achtung noch Verständnis für die Komplexität der Persön-
lichkeit. Der Mensch ist eine Maschine und Rationalität, Werturteile, seelische
Gesundheit und Glück werden durch eine Ingenieurstätigkeit erlangt. „In einer In-
genieurswissenschaft wie Dianetik können wir auf der Knopfdruckbasis arbeiten.“
Nichts muss man wissen oder verstehen außer der Anwendung von Hubbards
Engrammtheorie. Anerkennt jemand seine Theorie nicht, dann gibt es hierfür
verborgene Motive oder er ist von einem „Verneiner“ besessen. Dies ist immer
dann der Fall, wenn „irgend ein Engrammbefehl den Patienten glauben lässt,
dass das Engramm nicht existiert“. Alles ist überaus einfach. Wenn man Hub-
bards Buch gelesen hat, weiß man alles, was man über den Menschen zu wis-
sen hat, denn man weiß, welchen Knopf es zu drücken gilt.
Probleme im Bezug auf Werte oder das Gewissen gibt es nicht. Wenn die
Engramme gelöscht sind, hat man keine Probleme mehr. Alle großen philosophi-
schen und religiösen Lehrer verschwendeten nur ihre Kräfte. Es gibt kein Prob-
lem, das nicht auf den
Engrammbefehl zurückgeht, und an ihrem Denken ist nichts von Belang, da
sie ja Hubbards Entdeckung nicht kannten. Wenn auch der Autor sagt, dass „die
alten hinduistischen Schriften, die Werke der frühen Griechen und Römer“,
Lukrez eingeschlossen, die Arbeiten Francis Bacons, die Forschungen Darwins
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und einige Ideen Herbert Spencers den Hauptanteil des „philosophischen Hinter-
grunds“ seiner Arbeit darstellen, so ist es doch schwer zu glauben: „Dianetik“
zeigt gewiss nicht die Früchte einer solchen Auseinandersetzung. Die Entde-
ckung, dass „das Überleben der einzige Zweck des Lebens“ sei, ist sicherlich
nicht Ausdruck des Geistes der „alten Hindus“ oder der „frühen Griechen“, son-
dern vielmehr der eines plumpen Biologismus, für den ethische Werte dem
Zwang zum Überleben untergeordnet sind - wenn sie überhaupt noch irgendei-
nen Platz haben.
Der vielleicht bedauerlichste Aspekt an „Dianetik“ ist aber die Art, in der es
geschrieben wurde. Übermäßige Vereinfachungen, Halbwahrheiten und platte
Absurditäten, die propagandistische Technik, den Leser mit der Größe, Unfehl-
barkeit und Neuheit des Systems des Autors zu beeindrucken, das Versprechen
beispielloser Resultate, erzielt durch die einfachen Mittel der beschriebenen „Di-
anetik“: Diese Mixtur stellt eine Technik dar, die zu den verhängnisvollsten Er-
gebnissen im Bereich der Medizin oder Politik führt. Eine Anwendung auf die
Psychologie und Psychiatrie wäre nicht weniger schädlich.
Meine negative Ansicht über „Dianetik“ gründet nicht in der Überzeugung,
dass die heutigen Methoden der Psychiatrie zufriedenstellende Lösungen bieten;
ihnen mangelt es in der Tat an neuen Ideen und Versuchen. Glücklicherweise
sind sich aber viele Psychiater und Psychologen dieses Mangels bewusst und
suchen nach wirkungsvolleren Zugängen zur Ebene des Unbewussten (so zum
Beispiel Slesingers „Looking-in“-Test). Voraussetzung muss dabei jedoch immer
die Stärkung der Verantwortlichkeit des Patienten, seiner Fähigkeit zur Kritik und
Einsicht, sein.
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