MarcusCaelius schrieb:Varus war definitiv Mitglied der kaiserlichen Familie
Nur recht weitläufig: Er war (nacheinander) mit zwei Großnichten des Augustus verheiratet, außerdem war seine Schwester (wahrscheinlich) mit einem Großneffen des Augustus verheiratet. (Quelle:
Wikipedia: Varus ). Er stand dem Kaiserhaus nahe, das ist richtig, aber "Mitglied der kaiserlichen Familie" ist zuviel gesagt.
MarcusCaelius schrieb:sein Kopf wurde im Augustus Mausoleum auf dem Marsfeld bestattet
Das halte ich für nahezu unmöglich. Zwar hat Ernst Hohl in der Zeitschrift Klio 1938 derartiges behauptet, aber seine Interpretation einer Stelle des Historikers Velleius Paterculus ist recht abenteuerlich; jedenfalls steht er mit seiner Meinung ziemlich allein, D.Timpe oder R.-P. Märtin haben ihm widersprochen.
Darum geht es: "caput [...] missum ad Caesarem gentilicii tamen tumuli sepultura honoratum est" (Vell. Pat. II,119,5)
Ich versuche mal (möglichst neutral) zu übersetzen: "Der Kopf des Varus wurde zum Kaiser geschickt und trotz allem durch eine Bestattung im Familiengrab geehrt."
Die Frage ist halt, was Velleius mit "Familiengrab" (="gentilicius tumulus") meint: Das des Augustus oder das des Varus?
Man darf davon ausgehen, dass Velleius sich nicht missverständlich ausdrücken wollte. Für ihn war die Formulierung wohl eindeutig, ebenso für seine damaligen Leser. Nur heutige Leser, denen es sowohl an Kenntnissen der lateinischen Sprache als auch bestimmter Hintergründe und Gepflogenheiten gebricht, stehen vor Schwierigkeiten.
Wir haben hier vier kritische Wörter: tumulus, gentilicius, sepultura, honorare.
"tumulus" heißt sowohl (Grab-)hügel als auch allgemein Grabmal. Ich kann mir aber schwerlich vorstellen, dass das Mausoleum des Augustus als "tumulus" bezeichnet würde, dazu war es zu groß. Allerdings hatte es trotz seiner Größe durchaus die Form eines Hügels, eines tumulus. Leider verwendet Velleius das Wort "tumulus" nur zwei Mal in seinem Werk, so dass man nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, was
er mit einem "tumulus" genau meint, weder was er allgemein meint, noch, was er an der konkreten Stelle damit meint.
"gentilicius" = "zu einem Geschlecht gehörig": Varus gehörte definitiv nicht zur Iulischen "Gens", sondern zu der der Quinctilier. Trotzdem bietet auch dieses Wort hier einen gewissen Interpretationsspielraum, da nicht klar gesagt wird, von welcher Familie gerade die Rede ist. Augustus könnte theoretisch - ja - den Mann auch ins Grab
seiner Gens aufgenommen haben. Dennoch meine ich, dass sich Velleius anders ausgedrückt hätte, wenn er hätte sagen wollen, dass Varus ins Augustusmausoleum aufgenommen worden wäre. So soll es wohl schlicht und einfach heißen: Er kam in
sein Familiengrab.
"sepultura" = "Begräbnis": Eine "sepultura" ist nicht einfach ein Verscharren, sondern eine gewisse feierliche Beisetzung. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass Augustus dem Versager Varus eine noch so bescheidene Feierstunde vor seinem Mausoleum zugestanden hätte.
"honorare" = "ehren": Augustus
ehrte also den Varus. Was aber ist damit gemeint? Eine offizielle Feierstunde, ein Staatsakt? Wohl kaum. Ich deute das "honorare" eher so, dass er dem Toten "die letzte Ehre" erwies, dass er eine ordentliche Beisetzung erlaubte. Das war bei den Römern keineswegs immer eine Selbstverständlichkeit, vor allem nicht in solchen Fällen.
Zugegeben, die Interpretation der Textstelle allein, ohne Kontext, führt zu keiner absoluten Klarheit, auch wenn ich meine, dass Velleius sich ganz anders ausgedrückt hätte, wenn er das Mausoleum des Augustus gemeint hätte.
Wir müssen also den Kontext betrachten: Ins Mausoleum kamen, zumindest zu Augustus' Lebzeiten, nur ganz nahe Verwandte: Adoptivsöhne, Stiefsöhne, Schwiegersöhne, Schwestern des Kaisers. Varus gehörte einfach nicht zu diesem engen Kreis, bei Weitem nicht, warum sollte er also Aufnahme gefunden haben und noch dazu nach solch unglücklichem Agieren?
Außerdem war Augustus sehr abergläubisch, genauso seine Landsleute. Sein und seiner Familie Grabmal mit dem Kopf eines Versagers, eines Unglücksraben zu beschmutzen, zu entweihen, ja zu verfluchen, ist UNDENKBAR!
Vom Aberglauben abgesehen: Augustus musste die Katastrophe in Germanien verkapseln, die Verantwortung abschieben! Das tat er, dass er die Ereignisse als "clades Variana", also als "Niederlage des
Varus" der Öffentlichkeit verkaufte. Nicht
seine Niederlage, nein, Varus war schuld, und zwar alleine. Seine Weltfremdheit, seine Naivität, sein diplomatisch Ungeschick, seine militärische Inkompetenz habe die Niederlage verschuldet, so war die offizielle Lesart. Hätte er Varus in sein Familiengrab aufgenommen, wäre diese Propaganda konterkariert worden. Plötzlich wäre die Niederlage doch wieder das Problem des Augustus und seiner Familie gewesen. Wäre völlig bescheuert gewesen, so etwas zu tun. Selbst wenn Augustus und Varus sich zuvor sehr nahegestanden
hätten, wie du postulierst, hätte sich Augustus zumindest
hinterher von Varus deutlich distanzieren müssen.
Mein Fazit ist, dass die Textstelle eben doch sehr eindeutig ist. Velleius hat sich anscheinend überhaupt nicht vorstellen können, dass jemals Leute auf die Idee kommen könnten, mit "gentilicius tumulus" könnte das Grabmal des
Augustus gemeint sein. Sonst hätte er sich wohl klarer ausgedrückt. Aber das erschien ihm wahrscheinlich als dermaßen abwegig, dass er gar nicht darüber nachgedacht hat.