Die Schöpfer der Anunnaki
01.12.2013 um 11:25
Vielleicht könnt ich ein paar Informationen zum Hintergrund solcher Geschichten reingeben.
Und tschuldigung schon mal vorab für die Länge.
Menschen sind an der Welt interessiert, weil es ihre Umwelt ist. Menschen sind an der Geschichte interessiert, weil es ihre Geschichte ist. Wenn es den Wechsel von Regen- und Trockenzeit gibt, dann sind sie davon betroffen, also interessiert sie sowas. Also fragen sie nach dem Warum, und nach der Sicherheit, daß auf Dürre wieder Regen kommt. In den antiken Kulturen nun diente diesem menschlichen Interesse und Anliegen nun der Mythos.
Der kanaanäische Wettergott Baal und die Fruchtbarkeitsgöttin Anat sind ein Paar. Doch es kam, daß Baal starb. Anat war voller Trauer und kümmerte sich um nichts mehr. Sie machte sich auf, ihren toten Gatten zu suchen, fand ihn und brachte ihn zurück ins Leben. So konnte Baal ihr wieder seinen Samen spenden und sie erneut Leben gebären. Beschrieben wird hier das wiedereinsetzen des Regens und das erneute Wachstum der Vegetation. Der Mythos erzählt ein einmaliges Geschehen, aber gemeint ist das stetige Wiederkehren der Jahreszeiten im Jahreskreis. Es wird zwar nach unserem Verständnis nicht wirklich etwas über tatsächliche Ursachen mitgeteilt, aber das ist nicht so wichtig. Die Gewißheit, daß Anat ihren Gemahl einmal gerettet hat, schafft Vertrauen, daß die Regenzeit immer wieder zurückkehren wird.
In Ägypten fährt die Sonne in ihrer Barke am Himmel entlang. In der Nacht fährt sie dann in der Unterwelt wieder zurück, um am Morgen wieder ihren Weg über den Himmel nehmen zu können. Doch in der Unterwelt lauert die Apophisschlange und bedroht die Rückkehr der Sonne. Der verstorbene Pharao der Ägypter hat nun die Aufgabe, auf der Barke mitzufahren und Apophis' Angriff zu vereiteln. Dafür erhält der tote Pharao tägliche Opfer. Denn wenn er es einmal nicht schafft, geht die Sonne nicht mehr auf. Auch hier "erklärt" der Mythos ein dauerhaftes Phänomen der Menschenwelt in Form einer Gefährdung und Rettung. Aber hier merkt man, daß die Garantie der Wiederkehr des Erhofften nicht so sicher ist. Diese Verunsicherung ist das typisch Menschliche: man macht sich Sorgen, ob auch morgen die Sonne aufgeht usw. In diesem Mythos wird noch etwas deutlich. Die Menschen selbst können etwas tun, etwas beitragen. Sie können durch Opfer den Pharao in seinem Kampf stärken. Das ist typisch menschlich: eine der ersten Phasen bei Trauernden ist der Wunsch, das Schicksal durch Verhandlungen abändern zu können. So ticken wir Menschen.
Der Mythos soll die die Abläufe in der Welt beschreiben, erklären, in gewisser Hinsicht auch sichern. Der Wechsel der Jahreszeiten, die Wiederkehr der Sonne, es geht um eine Ordnung in der Welt, daß alles bleibt wie es ist. Der Mythos soll die Weltordnung sichern.
Wie ist überhaupt diese Weltordnung entstanden? Damit befassen sich zwei weitere Gruppen von mythischen Erzählungen.
Die erste, für uns naheliegende, das sind die Schöpfungsberichte. Gott oder ein Gott oder die Götter erschafft dies, macht das, läßt jenes hervorkommen, und am Ende stellt man fest: prima, alles sehr gut geworden. Jetzt ist die Welt perfekt, wohlgeordnet, so kanns bleiben.
Doch erleben Menschen nicht nur tolles in ihrer Welt. Warum sterben wir? Warum gibt es Unglücke, Unfälle? Wieso gibt es arm und reich, Herr und Sklave? Wieso ist Arbeit anstrengend, ist eine Geburt schmerzhaft? Warum verstehe ich andere Völker nicht, und warum kommen die mit ihren Waffen in unser Land? Wieso neidet mein rechter Nachbar mir mein fettes Auto, und wieso hat mein linker Nachbar so ein fettes Haus? Die Welt ist doch gar nicht so perfekt! Haben die Schöpfer gepfuscht? Dies zu erklären dient eine andere Gruppe von Erzählungen. Nein, sagen die, die Welt war am Anfang perfekt. Es gab keine Ungerechtigkeit, kein Leid, keinen Tod, es herrschten paradiesische Zustände. Aber dann haben die Menschen von einer Frucht gekostet, die ihnen untersagt war, und zur Strafe verloren sie dieses Paradies. Sie wurden sterblich, unterdrückten einander, wurden empfänglich für Schmerzen, weil sie es selbst verbockt haben. Sie wollten unbedingt den Himmel erstürmen mit ihrem babylonischen Wolkenkratzer, also verwirrte Gott ihre Sprachen. Die nicht perfekte Welt, wie wir sie kennen, sie entstand, weil die Menschen Schuld auf sich luden (gelegentlich sind es auch andere Ursachen, aber oft kommt was mit Schuld).
Diese zweite Gruppe von Erzählungen sind keine Erzählungen über eine Zeit der Menschheitsgeschichte, sondern über die mythische Anfangszeit der Welt. Die "Urzeit". Schöpfung und Urzeit sind zwei Themenfelder, die in praktisch allen alten Kulturen der Welt vorkommen, eben weil dahinter Fragen stehen, die alle Menschen bewegen. Und weil wir alle ähnlich gestrickt sind, kommen wir auch immer auf ähnliche "Lösungen". Also auf die Erschaffung der perfekten Welt und die nachträgliche Einführung von weniger perfekten Zuständen, weil Schuld oder Mißgeschick ins Spiel kam. Am Ende aber kommt schließlich die Weltordnung dabei heraus, wie wir sie kennen, und die seitdem unverändert stattfindet. Die Geschichte ist geboren.
Schöpfung - Urgeschichte - Geschichte, diese Dreiteilung findet sich weltweit. Und der Mythos spielt in den ersten beiden Etappen, um zu erklären, wieso die dritte Phase so ist, wie wir sie kennen. Die Weltordnung eben.
Viele solcher Mythen ähneln sich, weil benachbarte Kulturen sich miteinander austauschen, voneinander lernen, auch Mythen übernehmen. Aber in erster Linie ähneln viele Mythen sich deswegen, weil die dahinterstehenden Fragen und Sorgen und Anliegen, aus denen heraus der Mythos geschaffen wurde, weltweit die selben sind. Gleiche erfordernisse schaffen oft vergleichbare Lösungen. Das sinnenhaftigste Symbol für die Bedrohung von Leben und (Welt-)Ordnung ist z.B. das Wasser. Fluten und Flutopfer gibt es immer und überall. Selbst in der Wüste gibt es mehr Ertrinkende als Verdurstende. Und selbst, wenn man eine Flut überlebt: das Haus ist kaputt, die Ernte weg. Die Kulturwelt der Menschen, die "Weltordnung" ist hin. Wasser ist die Bedrohung der Weltordnung part excelence für den Menschen alter Kulturen. Weltweit. Kein Wunder, daß der Mythos, der die radikalste Bedrohung der Welt schildert, auf das Motiv einer Weltflut zurückgreift. Hinter dieser weltweiten Tradition steht kein historisches Ereignis, sondern der Mythos selbst und die existentielle Erfahrung jeder einzelnen Kultur mit den Gefahren von Wasser.
Natürlich gibt es auch Kulturtransfer. Benachbarte Kulturen tauschen Erfahrungen, Wissen, Technologien, Mythen aus. Nicht ohne Grund ist der Baal-Anat-Mythos dem des Isis-Osiris-Mythos so ähnlich. Und auch die biblische Schöpfung und Sintflut haben Bezüge zu mesopotamischen Pendants. Nicht nur sie? Mythen gemeinsamen Überlieferungsursprungs findet man von Europa bis Indien.
Ein schönes Beispiel ist Marduks Kampf gegen den Chaosdrachen Tiamat aus dem Enuma Elisch. Die Tiamat bedroht die Schöpfungsordnung, die Götter sind machtlos. Marduk verspricht, die Tiamat zu besiegen, fordert dafür den Thron über die Götter. Schließlich macht er sie durch einen Wind handlungsunfähig, spaltet ihren Körper in zwei Teile. Die eine Hälfte verbirgt er am Himmel, die andere unter der Erde. Und erschafft eine Grenzwand und stellt Wächter auf, damit die beiden Hälften nicht wieder zusammenkommen. Biblisch ist es Gott, der die ruach 'älohim - heißt "Geist Gottes", aber auch "göttlicher = starker Wind" - über die Wasser schickt, sie teilt, die eine Hälfte an den Himmel packt, die andere unter die Erde. Und damit sie nicht zusammenkommen, baut Gott eine Wölbung, die er Himmel nennt. Die Ähnlichkeiten sind überdeutlich. Auch der kanaanäische Wettergott Baal erhält vom alten Göttervater El den Thron über alle Götter, nachdem dieser die Bedrohung durch den Gott Yam (semitisch jam = Meer) und dessen Sohn Lotan, den Drachen, abwehrte. Lotan, semitisch lwtn geschrieben, ähnelt nicht von ungefähr dem Leviathan, hebräisch lwytn geschrieben. In Ugarit findet man noch das Lob des Totengottes Mut für Baals Sieg über Lotan:
"Als du Lothan niederschlugst, die flüchtige Schlange,
Wie du ein Ende bereitetest der geringelten Schlange,
Dem Machthaber mit sieben Köpfen,
Wurden die Himmel schlaff und sanken hin"
Geradezu wortwörtlich vergleichbar schreibt der biblische Prophet Jesaja:
"An jenem Tag wird der HERR mit seinem harten, großen und starken Schwert heimsuchen den Lewiatan, die flüchtige Schlange, und den Lewiatan, die gewundene Schlange, und wird das Ungeheuer erschlagen, das im Meer ist."
Es geht noch weiter. Bei den Hethitern kämpft der Wettergott gegen den Meer- und Chaosgott Illujanka. Dieser hatte dem Wettergott Augen und Herz gestohlen. Ein Sohn des Wettergottes schafft es, diese von Illujankas Tochter zurückzuerhalten, bringt sie seinem Vater, der darauf genest und Illujanka erschlägt. Hier ist die Geschichte etwas anders geworden, aber man erkennt noch immer das Chaoswasser und den siegreichen Wettergott. Auch die Griechen haben hierzu ne Version. Typhon, der hundertköpfige Chaosdrache, stiehlt Zeus Körperteile, die Sehnen. Klein Hermes geht zu Typhons Tochter Delphyne, luchst ihr Papas Raub ab und bringt sie zu el Cheffe. Der genest und erschlägt Typhon. Und eine noch immer recht ähnliche Geschichte der Griechen erzählt, daß weit im Westen im Meer der hundertköpfige Drache Ladon die Äpfel der Hesperiden wie seinen Raub bewacht. Held Herakles geht hin und nimmt sie ihm weg. Und erschlägt den Drachen gleich selbst. Ist es jemandem aufgefallen? Ladon - Lotan. Bekanntermaßen hängt Herakles mit den Phöniziern zusammen, und die Phönizier lebten dort, wo Jahrhunderte zuvor der Lotanmythos in Ugarit niedergeschrieben wurde.
Von Tiamat über Illujanka und Lotan bis zu Typhon, der Kulturtransfer der antiken Gesellschaften überbrückte tausende von Kilometern und tausende von Jahren. Mythen änderten Namen und auch die Ereignisse, aber dennoch lebten sie immer wieder weiter. Und blieben erkennbar in ihrem gemeinsamen Ursprung.
Wohl die meisten Mythen einer Kultur sind keine Eigenbildung, sondern bestehen ganz oder teilweise aus übernommenen Mythen bzw. Mythenelementen benachbarter Kulturen. Das ist kein Mythenklau, sondern ganz normaler "Informationsaustausch", Lernen vom anderen. Nahezu alles, was ein Mensch gelernt hat, hat er schließlich von anderen gelernt. Selbst eigene Entdeckungen und Erfindungen basieren zu einem erklecklichen Anteil darauf, was er zuvor von anderen gelernt hat. Ist bei einzelnen Menschen so, ist auch bei Kulturen so. Daher ist es wohl auch illusorisch zu meinen, wir könnten die älteste Sintflutgeschichte der Welt irgendwann mal in Händen halten. Jede Sintflutgeschichte aus dem Alten Orient hat ihre Vorläufer, von denen sie zumindest mitbeeinflußt war. Wir können allenfalls die älteste erhalten gebliebene Sintflutgeschichte finden. Die nach heutigem Kenntnisstand älteste erhaltene. Künftige Funde könnten das wieder ändern. Da aber die Sumerer die ersten waren, die Schriftliches hinterließen (die Ägypter haben keine Sintflut, daher laß ich die außen vor), wird die älteste je auffindbare Sintflutlegende eine sumerische sein. Aber die Sumerer werden nicht deren absolute Ersterfinder gewesen sein.
Wir sehen auch, daß Geschichten nicht einfach nur übernommen werden, sie werden auch abgewandelt. Sie erhalten nicht nur neue Namen der Akterure, sondern auch ihre Aussageintention kann sich verschieben. Der biblische Gott muß sich nicht erst unter den anderen Göttern die Vormacht erkämpfen, er ist schon der eine und einzige Akteur. Und bei ihm sind die Urwasser keine Bedrohung mehr, sondern einfach nur eine Flüssigkeit. Daher muß er auch keine Wächter aufstellen; Tiamat ist keine akute Bedrohung, die vorhat, hastalavista wiederzukehren. Die latent weiterbestehende Bedrohung der Weltordnung, wie sie im Enuma Elisch oder im pharaonischen Apophiskampf zutage tritt, ist in den biblischen Geschichten ausgenommen. Wasser ist keine Macht, es ist nur eine Flüssigkeit. Auch die mächtigen Gestirnsgottheiten der Mesopotamier sind in der biblischen Schöpfung nur noch Objekte mit Funktion. Gott macht zwei Lampen und hängt sie an die Himmelswölbung dran, damit sie leuchten sowie Tage, Monate und Jahre zählen. So wie hier macht das jede Kultur bei Übernahme von Mythen, sie nehmen nicht nur mechanisch was auf, sondern gestalten um, integrieren das Aufgegriffene in die eigene Vorstellungswelt. Das ist ein kreativer Prozeß, kein Klauen und Nachplappern.