@vielefragen geeky schrieb:Inwiefern gehst du denn nun davon aus, Natascha könnte die Ermittler "ausspielen"?
Nun ja, keine Antwort ist auch eine Antwort.
("Es sei denn, das war nur ...")
Apropos gedankenlos dahergeplappert:
vielefragen schrieb:nur ein privater, diskreter bereich hätte ihr ermöglicht, ein wenig freier zu entscheiden.
Du maßt dir also an, selber festlegen zu wollen, was für sie ausreichend privat und diskret ist und was nicht. Wer bist du, daß du nun über ihre Entscheidungen richtest, nachdem du ihr schon frech unterstellt hast, ihre Erinnerungen wären falsch? Die hören sich immer noch tausendmal durchdachter an als das, was du hier zum besten gibst:
"Die ersten Tage meines neuen Lebens in Freiheit verbrachte ich im Allgemeinen Krankenhaus Wien auf der kinder- und jugendpsychiatrischen Station. Es war ein langsamer, behutsamer Einstieg in das normale Leben - und auch ein Vorgeschmack auf das, was mich erwartete. Ich war bestens betreut, aber auf einer geschlossenen Station untergebracht, die ich nicht verlassen durfte. Von der Außenwelt abgeschnitten, in die ich mich gerade erst gerettet hatte, unterhielt ich mich im Aufenthaltsraum mit magersüchtigen jungen Mädchen und Kindern, die sich selbst verletzten. Draußen, vor den schützenden Mauern, tobte ein Mediensturm. Fotografen kletterten in die Bäume, um das erste Bild von mir zu erhaschen. Reporter versuchten, sich als Krankenpfleger verkleidet ins Spital einzuschleusen.
Meine Eltern wurden mit Interviewanfragen überhäuft. Mein Fall war der erste, sagen Medienwissenschaftler, bei dem die sonst eher zurückhaltenden österreichischen und deutschen Medien alle Schranken fallen ließen. In den Zeitungen erschienen Fotos meines Verlieses. Die Betontüre stand weit offen. Meine kostbaren, wenigen Besitztümer, meine Tagebücher und die paar Kleider - lieblos durcheinandergeworfen von Männern in weißen Schutzanzügen. Gelbe Schilder mit Nummern prangten auf meinem Schreibtisch und an meinem Bett. Ich musste zusehen, wie mein kleines, so lange eingeschlossenes Privatleben auf den Titelseiten landete. Alles, was ich selbst vor dem Täter noch verbergen hatte können, wurde nun in die Öffentlichkeit gezerrt, die sich ihre eigene Wahrheit zurechtlegte.
Zwei Wochen nach meiner Selbstbefreiung entschloss ich mich, den Spekulationen ein Ende zu setzen und meine Geschichte selbst zu erzählen. Ich gab drei Interviews: dem Österreichischen Fernsehen, der größten Tageszeitung des Landes, der Kronenzeitung, und dem Magazin News.
Vor diesem Schritt an die Öffentlichkeit hatte ich von vielen Seiten den Rat bekommen, meinen Namen zu wechseln und unterzutauchen. Man sagte mir, dass ich sonst niemals eine Chance auf ein normales Leben haben würde. Aber was ist das für ein Leben, in dem man sein Gesicht nicht zeigen kann, seine Familie nicht sehen darf und seinen Namen verleugnen muss? Was wäre das für ein Leben, gerade für jemanden wie mich, der all die Zeit in der Gefangenschaft darum gekämpft hat, sich nicht zu verlieren? Trotz all der Gewalt, der Isolation, der Dunkelhaft und all der anderen Qualen war ich Natascha Kampusch geblieben. Niemals würde ich jetzt, nach meiner Befreiung, dieses wichtigste Gut aufgeben: meine Identität.
[...]
Jetzt, vier Jahre nach meiner Selbstbefreiung, kann ich aufatmen und mich dem schwersten Kapitel der Aufarbeitung widmen: selbst mit dem Vergangenen abzuschließen und nach vorne zu sehen. Ich sehe nun wieder, dass nur wenige Menschen, meist anonym, aggressiv auf mich reagieren. Die Mehrheit der Menschen, die ich treffe, unterstützt mich auf meinem Weg. Langsam und vorsichtig setze ich einen Schritt nach dem nächsten und lerne, wieder zu vertrauen.
Ich habe in diesen vier Jahren meine Familie neu kennengelernt und wieder zu einem liebevollen Verhältnis mit meiner Mutter gefunden. Ich habe meinen Hauptschulabschluss nachgeholt und lerne nun Sprachen. Die Gefangenschaft wird mich mein Leben lang beschäftigen, aber ich habe langsam das Gefühl, dass ich davon nicht mehr bestimmt werde. Sie ist ein Teil von mir, aber sie ist nicht alles. Es gibt noch so viele andere Facetten des Lebens, die ich erleben möchte.
Mit diesem Buch habe ich versucht, das bisher längste und dunkelste Kapitel meines Lebens abzuschließen. Ich bin zutiefst erleichtert, dass ich für all das Unaussprechliche, Widersprüchliche, Worte gefunden habe. Sie gedruckt vor mir zu sehen hilft mir dabei, mit Zuversicht nach vorne zu blicken. Denn das, was ich erlebt habe, gibt mir auch Stärke: Ich habe die Gefangenschaft im Verlies überlebt, mich selbst befreit und bin aufrecht geblieben. Ich weiß, dass ich auch das Leben in Freiheit meistern kann. Und diese Freiheit beginnt erst jetzt, vier Jahre nach dem 23. August 2006. Erst jetzt kann ich mit diesen Zeilen einen Schlussstrich ziehen und wirklich sagen: Ich bin frei."