Juror Blues666:
Ein herzliches Grüß Gott an alle Clasher, Juroren, Organisten und Mitleser!
Tja...
Wie bewertet man einen Clash? Wie bewertet man ihn fair? Schwierig...
Zu vergeben sind 100 Punkte, prinzipiell aufgeteilt auf die Bereiche "Stil" und "Argumentation".
Erweiterungen sind möglich und willkommen. Also lagere ich den Bereich "Tippfehler und Form" aus dem Stil aus und vergebe dafür 10 Punkte, für den "Stil" 36 Punkte und für die "Argumentation" 54 Punkte.
Das Thema passt eigentlich sehr gut in die heutige Zeit. Die Menschheit, vor allem aber die Industriestaaten stehen vor Umwälzungen wie schon lange nicht mehr. Digitalisierung und KI werden den gesamten Wirtschaftsbereich - und vor allem den Arbeitsmarkt - von Grund auf umkrempeln, die Klimaerwärmung fordert umfangreichste Maßnahmen und das bevorstehende Ende der fossilen Brennstoffe verlangt ebenfalls nach einer Anpassung. In allen drei Bereichen wird fleißig diskutiert, Ergebnisse sind aber bis dato noch nicht sichtbar.
Da kann es nicht ausbleiben, dass man sich auch mal des Themas "Schule" annimmt. Wie immer ist Allmy am Puls der Raumzeit und prescht unter dem Titel "Unser Schulsystem - abschaffen?" mutig in Bereiche vor, in denen noch niemand je gewesen ist. Okay, vielleicht doch, aber wenn, dann hat sich das in unseren Hirnen noch nicht manifestiert.
Tatsächlich hat sich beispielsweise der deutsche Philosoph und Autor Richard David Precht in seinem - nicht ganz unumstrittenen - Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" bereits 2013 mit dem Thema beschäftigt und umfangreiche Änderungen vorgeschlagen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich es noch nicht gelesen habe, obwohl es sich durchaus in meinem Besitz befindet (wenn auch nur als Datei). Aber Wikipedia weiß auch da zu helfen...
So weit Precht in seinem Buch auch geht, eine komplette Abschaffung der Schule fordert er nicht.
@shionoro tut das sehr wohl. Und er tut dies aus vollster Überzeugung, erkennbar an seinem Thread im Bereich "Politik", wo er ebenfalls für eine Abschaffung der Schule plädiert.
@itfc kriegt die Arschkarte und darf den Skeptiker mimen. Denn einer muss ja dagegen sein.
Das ist die Ausgangslage.
@shionoro vertritt die Auffassung, dass das aktuelle Schulsystem einem industriell geprägten Charakter hat und nicht mehr zeitgemäß ist. Man wolle den Kindern einen vordefinierten Block an Allgemeinwissen vermitteln, wisse aber heute gar nicht mehr, was man in eine Allgemeinbildung fließen lassen solle (das Gesamtwissen ist auch mittlerweile zu umfangreich geworden), und die Uneinheitlichkeit der Gesellschaft wäre ein zusätzliches Problem. Das heutige Schulsystem sei - und das wiederholt er des Öfteren - nicht mehr in der Lage, die Kinder auf das Erwachsenenleben vorzubereiten und nur noch rausgeschmissenes Geld. Er bringt in diesem Zusammenhang sowohl eigene Erfahrungen als Nachhilfelehrer als auch mehrere Links von Berichten über desolate Zuständen an deutschen Schulen in die Diskussion.
Er fordert daher eine komplette Abschaffung des Schulsystems und die Einrichtung von Stätten - die er sich als eine Art Kitas oder Jugendzentren vorstellt - in denen nur ein sehr geringer Grundstock tatsächlich gelehrt werden soll (Schreiben und Lesen sowie die Grundrechnungsarten, darüberhinaus gehend dann eine Verlagerung auf Skills zum alltäglichen Leben) um anschließend den Kindern Angebote für spezielle Themenbereiche zu unterbreiten, die diese frei wählen können. Und die Abschaffung der Schulen würde Kosten sparen.
@itfc kann sich als Opponent mit dieser Idee gar nicht anfreunden, seiner Meinung nach würde das vorgestellte Modell lediglich die Probleme verlagern. Erstens wäre eine Auflösung der Schulen schon juristisch äußerst problematisch, zweitens müssten wesentlich mehr Leute zur Betreuung der Kinder angestellt werden, was die Kosten erhöhen und nicht senken würde. Eine Änderung der gesellschaftlichen Probleme, die zu den heutigen Zuständen an vielen Schulen führen, kann er in dem Modell nicht erkennen. Zudem würde das vorgestellte Modell vermutlich zu einer großen Anzahl von Leuten führen, deren Bildungsstand auf das absolute Minimum beschränkt ist, weil er nicht davon ausgeht, dass alle Kinder die ihnen angebotenen Themen aufgreifen werden und sie dies in manchen Fällen auch gar nicht könnten, weil eben auch dafür ein über das Mindestmaß hinausgehender Wissensstand von Nöten wäre. Das Modell sieht er als eine Hartz4-Produktion.
Diese Grundeinstellungen der beiden Kontrahenten zieht sich letzten Endes durch das ganze Match. Es werden dann noch weitere Themen angeschnitten - beispielsweise das Thema Jugendkriminalität - und beide Kontrahenten bemühen sich nach Kräften, ihren Standpunkt zu vertreten (beispielsweise bringt
@itfc die Frage aufs Tableau, wie Kinder, die bisher gewohnt sind, das zu tun, worauf sie Lust haben, als Erwachsene dann einen 8 oder 10stündigen Arbeitstag schaffen sollen), doch sind dies nur Variationen des ursprünglichen Standpunktes. Was mich aber nicht stört.
Leider wurde aber auf die Ursache der aktuellen Misere nicht weiter eingegangen, nämlich die Segregation der deutschen Schullandschaft, wie in dem von
@shionoro in seinem dritten Post verlinkten Bericht vom Spiegel-Online zu finden ist und auf der letzten Endes die heutigen Zustände beruhen (unter freundlicher Mithilfe unfähiger Politiker). Für mich stellt sich das Modell "Schule weg, Jugendzentrum her" wie die Reaktion auf ein Symptom dar, ohne die Ursache, die dieses Symptom überhaupt erst hervorgebracht hat, zu erkunden oder gar zu behandeln. Ursachenforschung hätte hier Not getan. Das ist schon bei der Schule in die Hose gegangen und wäre, wie ich finde, ein interessantes Thema im Match gewesen.
Dies dürfte aber, wie ich vermute, dem Zeitdruck geschuldet sein, dem beide Kontrahenten eines Clash-Matches ausgesetzt sind. All jenen, die sich vielleicht abschätzig äußern kann ich nur nahelegen, sich selbst mal an einem Clash zu versuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die große Mehrzahl derer dann auch eben
nicht jeden verlinkten Artikel von Anfang bis Ende durchlesen. Und ich garantiere rauchende Köpfe und eine zehrende Müdigkeit, vor allem zum Ende hin.
Was mich nun zur Bewertung führt.
Rechtschreibung und Form - 10 Punkte:Vorweg zur Erinnerung: in den Allmy-Regeln steht auch, dass man auf die Rechtschreibung achten soll.
;)Beide Kontrahenten haben den Schwerpunkt eher auf die Diskussion an sich gelegt und die Form Form sein lassen. Nennt mich einen Erbsenzähler (der ich ja auch bin), aber ein Absatz verdient eine Leerzeile. Und insbesondere der Tippfehlerteufel hat wohl - sinister grinsend - eine Doppelschicht eingelegt und so manchen suchenden Finger auf die falsche Taste fallen lassen. Was das Thema "Absätze" angeht, liegen beide Kontrahenten in etwa Kopf an Kopf, beim Thema "Tippfehler" aber hat
@itfc die Nase vorne (im negativen Sinne). In einem normalen Thread sicher kein Problem (da haben wir schon bedeutend Schlimmeres gesehen), im Clash aber schon. Daher:
@shionoro : 7 Punkte
@itfc : 3 Punkte
Stil - 36 Punkte:Unter Stil verstehe ich die Art, wie sich ein User präsentiert, sowohl textlich als auch bei der optischen Gestaltung der Posts und natürlich auch, wie sein Diskussionsverhalten ist. Beide Kontrahenten haben bei der optischen Präsentation auf ein weitergehendes "Aufrüsten" verzichtet und sich vorwiegend auf den Text konzentriert, was ich übrigens grundsätzlich in Ordnung finde.
Die Texte waren - ebenfalls von beiden - sehr gut ausformuliert und verständlich, auch hier haben beide mehrheitlich auf Überpointierungen, Satire oder gar ad hominem verzichtet. Mehrheitlich schrieb ich deswegen, weil
@itfc - sehr sparsam, aber doch - leicht überpointierte Vergleiche verwendet hat, um seine Ansichten zu veranschaulichen.
Im Diskussionsverhalten hat sich
@shionoro als ein ruhiger, intelligenter und im Grund eher introvertierter Typ präsentiert, der die feine Klinge bevorzugen würde, wenn es denn zum Kampf käme, den er aber zu vermeiden sucht. Ernsthaft und gesittet, aber auch etwas statisch.
@itfc dagegen wirkte da schon lebendiger, allerdings auch etwas kantiger. Kein Rabauke, aber jemand, der auch mal deftiger zur Sache geht, wenns nötig ist. Eher der Praktiker als der Theoretiker und mit einem scharfen Alltagsverstand ausgestattet.
Im Grunde waren beide annähernd auf Augenhöhe. Mir liegen an sich ruhigere Menschen etwas mehr als die etwas hektischere Sorte. Was für
@shionoro spräche. Andererseits hat
@itfc doch für etwas mehr Farbe in der Diskussion gesorgt und auch mehrmals durch gezielte Fragen die Führung des Gesprächs an sich genommen (sein Gegner hat dies nur einmal gemacht). Daher sehe ich einen leichten Vorteil für
@itfc .
@shionoro : 17 Punkte
@itfc : 19 Punkte
Argumentation - 54 Punkte:Im Idealfall ist ein Argument stringent und gut ausformuliert. Wenn es zwar zwingend ist, aber schlecht und/oder lückenhaft ausformuliert ist, wird es fehlerhaft sein. Andererseits kann ein Argument falsch oder zumindest nicht zwingend sein, wenn es uns gut vorgetragen wird, werden wir es akzeptieren. Wie viele Leute wurden schon durch das Argument
"Eine Hummel kann gemäß den Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen. Die Hummel weiß das aber nicht und fliegt trotzdem!"
erleuchtet und aufgeputscht, obwohl das Argument kompletter Humbug ist (und auf einem Studentenulk beruht). Ein Klassiker unter den Motivationstrainern, der noch heute Verwendung findet, ich musste ihn erst kürzlich wieder ertragen.
Einigen wir uns darauf, dass ein Argument zwingend sein sollte.
Jetzt haben wir es in diesem Match ja mit einer Vision zu tun. @shinoro selbst sagte, dass sie sicherlich auch Schwächen haben würde. So richtig stringent wären Argumente, was die Auswirkungen des Modells anbelangt, eigentlich nicht. Ich kenne kein vergleichbares Modell anderswo, und vermutlich würden sich selbst Experten schwer tun, die Auswirkungen dieser radikalen Änderungen abzuschätzen. Wie auch immer, nehmen wir also, was wir haben.
Prinzipiell finde ich die Idee, die
@shionoro da in seinem Modell präsentiert, faszinierend. Ich denke, dass der Ansatz gar nicht so falsch ist. Allerdings meine ich, dass das mit Schulen auch gehen müsste. Dazu bedürfe es natürlich einer Reform, die diesen Namen auch verdient. Wesentlich mehr Geld für die Bildungseinrichtungen (mindestens 50 % mehr als jetzt), flächendeckend Ganztagsschulen, auch der Unterricht müsste natürlich radikal umgestellt werden, das Lehrpersonal müsste genauso die besten Voraussetzungen mitbringen wie auch die Ausstattung der Schulen. Aber so ganz ohne Geschichte sollte es nicht sein, wie auch
@itfc sehr richtig meinte. Und auch nicht so ganz ohne Physik, sonst lassen sich die Bälger als Erwachsene Auftriebskraftwerke andrehen.
Zum Wandel der Gesellschaft kann ich auch zustimmen. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, und das tut sie auch weiterhin. Dem müssen auch die Bildungseinrichtungen Folge leisten. Bedauerlicherweise werden aber maßgebliche Entscheidungen dazu von Politikern getroffen, und die denken eher an die nächste Wahl und wie sie bis dahin Wähler anlocken können. Und leider ist der Unterrichtsminister vom Finanzminister abhängig. In Deutschland (und teilweise auch in Österreich) wird der Wirtschaft eine wesentlich höhere Bedeutung beigemessen als der Bildung. Und schon da müsste man ansetzen. Ob sich das verwirklichen lässt, steht auf einem anderen Blatt.
Unsinn ist es natürlich, zu glauben, wenn man die Schulen abschafft, würde man Kosten sparen. ganz im Gegenteil, selbst wenn man die vorhandenen Gebäude für die riesigen Jungendzentren verwendet müsste man voraussichtlich einige Umbauten vornehmen. Und die Jugendbetreuer wären nicht weniger als die Lehrer und würden auch nicht weniger verdienen. Selbst wenn man alle Lehrer übernimmt und sie in "Jugendbetreuer" umbenennt, müsste man für die neue Organisation noch einige weitere Betreuer aufnehmen. Von Ersparnis keine Spur, das würde ein teurer Spaß werden.
Ein viel heißeres Problem ist die Segregation der Bevölkerung, und dabei ist es eigentlich egal, ob es sich um Migranten oder Ansässige handelt. Denn es gibt eine Häufung von Migranten in Stadtteilen, in denen - ebenfalls vermehrt - auch Deutsche mit sozialen Nachteilen leben. Oder anders ausgedrückt: schickt die Migranten zum Prekariat, dann müssen wir Reichen sie nicht sehen. Unterschiedliche Einkommensgruppen schirmen sich immer mehr von den anderen ab. Vorwiegend schirmen sich die Reichen von den Armen ab, das sollte auch mal erwähnt werden. Dass dann in Schulen in Gebieten mit überwiegend niedrigen Einkommensschichten und einer großen Anzahl Migranten der Ausnahmezustand herrscht, braucht nicht zu verwundern. Darauf wurde von keinem der beiden Kontrahenten hingewiesen. Schade eigentlich, denn den Hinweis auf die Segregations-Problematik findet man im 3. Post von
@shionoro in dem da verlinkten Artikel.
Das würde dann natürlich auch für die dortigen Jugendzentren gelten.
@itfc hat also völlig recht, wenn er hier von einer Verlagerung der Probleme spricht. Und ich muss ihm auch zustimmen, wenn er von einer Hartz4-Produktion spricht, die sich hier anbahnt. Das gilt meiner Meinung nach aber auch für Schulen in den Problemgebieten.
Der Hinweis auf die Gefahr, dass es doch sein könne, das die Kids zum Großteil einfach nur den Tag genießen und danach in die "Hartz4-Produktion" einsteigen, hat
@shionoro eigentlich mit einem Achselzucken quittiert. Was mich dann doch ein wenig ernüchtert hat. Dafür wurde mantrahaft immer gerne wiederholt, dass die Schule den Kindern nichts beibringen würde, was sie später brauchen könnten und sie auch nicht auf das Berufsleben vorbereiten würden. Da schließe ich mich der Frage von
@itfc an, wie das wohl aussähe, wenn die Kids vom - mehr oder weniger sorgenfreien - Jugendzentrum in einen 8-Stunden Arbeitstag umsteigen würden.
Um es kurz zu machen: so schön die Idee ist, wenn man ins Detail geht, konnten mich die Argumente "Pro-Abschaffung der Schulen" nicht überzeugen.
Nichts desto Trotz werde ich mir den Thread von
@shionoro näher ansehen. Vielleicht kommen wir ja noch auf einen grünen Zweig. Denn in einem hat er unumstößlich recht: es muss sich was ändern...
Für den Clash aber sehe ich bei der Argumentation doch
@itfc relativ deutlich vorne.
@shionoro: 23 Punkte
@itfc: 31 Punkte
Gesamtwertung daher:
@shionoro: 47 Punkte
@itfc: 53 Punkte
Gratulation an beide Kontrahenten: Ihr habt einen schönen, ehrlichen, schnickschnackfreien Clash hingelegt. Er war, wenn man so will, die Essenz des Clash: eine saubere Diskussion ohne Gezicke, ohne ad hominem (oder schlimmerem) und ohne Taktik. Ran an den Feind und posten bis der Arzt kommt!
Bravo!
:Y:Einer muss der Sieger sein, dem ich jetzt schon gratuliere. Und der Verlierer, wer immer es sein wird, sei getröstet, denn er hat sich wacker geschlagen!
Zuletzt noch vielen Dank an
@TerracottaPie für die Organisation dieses außertourlichen Events. Wie immer bestens gemacht!
;)Und an meine Kollegen, die es vermutlich besser gemacht haben als ich. Sicher aber kürzer...
:D