Ist er zu weit gegangen ? Der Fall Rainer Brüderle von der FDP
27.01.2013 um 17:41
Spiegel online 24.01.2013
Sexuelle Belästigung Mal wieder "zufällig" am Po berührt
Von Matthias Kaufmann
Die Mehrheit der berufstätigen Frauen wurde schon am Arbeitsplatz sexuell belästigt. Dennoch wird über das Thema kaum gesprochen - aus Scham oder Angst um den Arbeitsplatz. Wo fängt Belästigung an? Was können Betroffene tun? Ein Überblick.
Rainer Brüderle soll eine junge Redakteurin des "Stern" mit Anzüglichkeiten bedrängt haben. Es steht der Vorwurf im Raum: sexuelle Belästigung. Nun tobt in Berlin die Debatte: Darf man sowas öffentlich ansprechen? Hätte das nicht besser im kleinen Kreis ausgeräumt werden sollen?
Das Problem kommt vielen Frauen bekannt vor. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO geht davon aus, dass in der EU zwischen 40 und 50 Prozent der Frauen im Beruf schon einmal sexuell belästigt wurden. Die Dortmunder Studie, bei der Ende der achtziger Jahre 4000 Frauen zum Thema befragt wurden, kommt auf 72 Prozent. Das heißt: Die Mehrheit der Frauen hat damit schon Erfahrungen gemacht. Und ja: Es trifft zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend Frauen.
Die Frage, ob und wie die Betroffenen damit umgehen, steht dann immer im Raum. Sollen sie es ansprechen? Und wenn ja: An wen wendet man sich? Ein Überblick.
Wann spricht man von sexueller Belästigung?
Geht man nach dem Antidiskriminierungsgesetz, ist der Fall klar: Alle unerwünschten Annäherungen fallen darunter, die sexueller Natur sind und sich an eine bestimmte Person richten. Konkret:
Ein Kollege lässt keine Gelegenheit aus, die neue Mitarbeiterin zu berühren. Scheinbar zufällig legt er seine Hand auf ihre, drängt sich in der Kantinenschlange an sie oder massiert ihr ungefragt den Nacken. Das ist sexuelle Belästigung.
Fast schon zu naheliegend, aber immer wieder ein Streitpunkt: Wer seinem Gegenüber auf den Ausschnitt starrt, belästigt diese Frau.
Aufforderungen zum Sex gehen überhaupt nicht. Oft wird dann noch angeführt, die angesprochene habe das Angebot doch wahrscheinlich reizvoll gefunden. Doch das ist Quatsch: "Der Arbeitsplatz ist nicht der geeignete Ort dafür, im Zweifel muss man dort immer davon ausgehen, dass Sex unerwünscht ist", sagt Martina Perreng, Arbeitsrechtlerin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Sexuelle Anspielungen und Herrenwitze finden nicht alle lustig. Das ist nicht nur unfreiwillig peinlich für den, der die Witze reißt, es kann auch eine echte Last für viele Anwesende werden. Allein schon die Frage, ob man sich direkt oder indirekt angesprochen fühlen soll, setzt Kollegen unter Druck. Das kann leicht in sexuelle Belästigung abrutschen, so eindeutig wie in den anderen Fällen ist die Lage hier aber nicht.
Ein Nacktkalender am Arbeitsplatz? Hier kommt es auf den Kontext an. Martina Perreng, Arbeitsrechtsexpertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund, erklärt es am Beispiel: "Ein Nacktkalender in einer Werkstatt, wo nur Männer arbeiten, ist eigentlich unproblematisch. Wird er aber so aufgehängt, dass die Sekretärin bei der Arbeit zwangsläufig darauf blickt, ist das eine Form der Belästigung."
Wie verbreitet ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz?
Auch wenn die Zahlen nicht ganz aktuell sind, vermittelt die Dortmunder Studie ein deutliches Bild:
Jede zweite Frau muss sich schlüpfrige Bemerkungen übe Ihre Figur oder Ihr Privatleben gefallen lassen.
Jede dritte berichtet von eindeutig zweideutigen Angeboten, etwa durch Po-Kneifen oder pornografischen Bildern am Arbeitsplatz.
Jeder fünften wurde überraschend an die Brust gefasst.
Jede sechste wurde mit aufgedrängten Küssen belästigt oder mit Briefen und Telefonaten mit sexuellen Anspielungen.
Jede zehnte wurde zum Geschlechtsverkehr aufgefordert.
Jede zwanzigste wurde mit Nachteilen im Job bedroht, falls sie nicht gefügig ist.
Jede dreißigste berichtete von Exhibitionismus der Kollegen und von Vergewaltigung.
Sollte man einen Kollegen zur Rede stellen, wenn man sich von ihm sexuell diskriminiert fühlt?
Die Frage ist sehr schwer zu beantworten. Zunächst einmal dürfte den Betroffenen der Schritt sehr schwer fallen. In der überwiegenden Zahl der Fälle gehen Belästigungen von Mitarbeitern aus, die in der Unternehmenshierarchie über den Betroffenen stehen. Da schwingt immer die Angst um den Job mit.
"Die meisten Täter dürften alles abstreiten. Es besteht auch die Gefahr, dass ihre Übergriffe danach schlimmer werden", sagt Perreng. Andererseits hat sie selbst schon Fälle erlebt, wo dem Täter tatsächlich nicht bewusst war, was er mit seinem Verhalten anrichtet. Das dürfte aber die Ausnahme sein. Bei der Einschätzung sollte man sich Hilfe holen.
Sollte man andere Kollegen ins Vertrauen ziehen?
Schon deshalb ist es gut, die Einschätzung eines unbeteiligten Kollegen zu bekommen. Der kann als Zeuge dienen und bei der Frage helfen, ob sich das direkte Gespräch mit dem Täter lohnt. Gerade, wenn Betroffene an den eigenen Gefühlen zweifeln, ist die Rückversicherung sinnvoll: War das überhaupt eine Belästigung? Oder nur ein dummer Witz, der nicht wieder vorkommt? "Viele machen da eine überraschende Erfahrung", sagt Perreng: "Oft haben Kollegen nämlich schon ähnliche Erlebnisse mit dem gleichen Täter gehabt."
Wie kann man sich wehren?
Wer den Mut dazu hat, sollte immer zum Vorgesetzten gehen und den Fall dort schildern. Denn: Der Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, seine Mitarbeiter vor sexueller Belästigung zu schützen. Er muss eingreifen, und ihm stehen wirksame Mittel zur Verfügung: Er kann einen Täter abmahnen oder in schweren Fällen auch kündigen. "In den allermeisten Unternehmen wird das konsequent verfolgt. Daher kommen auch in Deutschland so wenige Fälle vor Gericht", sagt Perreng.
"Wir ermutigen Frauen ausdrücklich, solche Fälle anzusprechen", sagt Lüders von der Antidiskriminierungsstelle. Es geht darum, gesellschaftliche Grenzen deutlich zu machen. Andererseits ist es für die Betroffenen sehr schwer, einen Vorfall zu melden, aus Scham, aus Unsicherheit, weil die Übergriffe oft von Kollegen ausgehen, die im Machtgefüge über ihnen stehen. "Die wenigen, die sich zu diesem Schritt trotz allem durchringen, leisten Pionierarbeit für viele andere Frauen", so Lüders.
Was, wenn man sich damit nicht zum Chef traut?
Wer nicht gleich zum Chef gehen möchte, sollte sich woanders Unterstützung suchen. Große Unternehmen haben eigene Beschwerdestellen für solche Probleme, der Betriebsrat kann auch oft weiterhelfen. Außerdem kann sich jeder unentgeltlich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Sie berät juristisch und übernimmt, wenn nötig, auch unangenehme Anrufe bei der Personalabteilung eines Unternehmens.
Wie sieht es mit der Beweislage aus?
Damit der Arbeitgeber einschreitet, muss der Vorwurf plausibel und belegt sein - er kann nicht auf Verdacht Mitarbeiter abmahnen. Da wird es allerdings oft schwierig. Wenn es für die Belästigung keinen Zeugen gibt, steht Aussage gegen Aussage. Auch deshalb ist es wichtig, andere Kollegen ins Vertrauen zu ziehen. Wenn sie ähnliche Erlebnisse gemacht haben, ist der eigene Fall glaubwürdiger. Übrigens kann niemand verlangen, dass eine Betroffene vor einer Beschwerde den Täter zur Rede gestellt hat.