Janesch-Sibir

2023 hat die deutsch-polnische Schriftstellerin in drei Zeitebenen die Geschichte ihres Großvaters fiktiv aus der Sicht von Leila Ambacher nachgezeichnet. Ausgangs- und Endpunkt ist die Demenz des alten Mannes, der seine Erinnerung verliert.

Die Familie des Großvaters Josef ist Opfer der "Heim ins Reich"-Kampagne der Nationalsozialisten nach dem Pakt mit der Sowjetunion. Sie wird aus dem der Sowjetunion zugeschlagenen Galizien ins Wartheland verfrachtet, von wo sie wiederum 1945 von den sowjetischen Truppen nach Kasachstan verschleppt wird. Die lange, entbehrungsreiche Zugfahrt mit vielen Todesopfern sowie das Leben in einem kargen kasachischen Dorf, in dem die Familie eingesperrt ist, wird aus der Sicht des 12-jährigen Josef geschildert. Dessen Mutter ist bei Ankunft in einem Schneesturm verschollen und nie wieder aufgetaucht. Die politischen Zusammenhänge blitzen durch, so die Verschleppung von Menschen in den Gulag, aber immer aus der beschränkten Sicht eines Kindes.

Die zweite Zeitebene spielt nach der Ankunft in der Bundesrepublik am Rand der fiktiven niedersächsischen Kleinstadt Mühlheide, wo die 1955 auf Vermittlung von Adenauer Rückgekehrte, Janesch nennt sie lieber Freigelassene, in einer Siedlung untergebracht werden und sich langsam eine Existenz haben aufbauen können, bis sie schließlich Baugrund an einem See haben erwerben können. Josef hat eine Polin geheiratet und hat sich als gut verdienender Programmierer mit BMW etablieren können. Auch diese Zeitepoche ist aus Sicht eines Kindes geschrieben, aus der Sicht von Leila. Gelungen sind die Konfrontationen der Kinder mit einem in der Siedlung wohnenden Tartter, der SS-Aufseher im KZ Bergen-Belsen war, sowie die Reibungen mit den aus Russland kommenden Wolgadeutschen in den frühen 1990er Jahren.

Am Ende des Romans packt die nun erwachsene Leila ihren dementen Großvater in ihr Auto und sie fahren wohl nach Kasachstan.

Janesch hat für diesen Roman ausführlich recherchiert und hat sowohl Galizien als auch Kasachstan bereist, um dem Herkunftsraum ihrer Familien nahe zu kommen. Die Kindperspektive hat ihren Reiz, da die phänomenologische Betrachtungsweise konsequent durchgezogen ist, auch wenn dadurch eine erwachsene historisch-politische Reflexion geopfert wird. Kompositorisch ist etwas eigenartig, dass weder Josef während der zehn Jahre in Kasachstan noch Leila in Mühlheide zu altern oder zu reifen scheinen. Der Sprung zum wohlhabenden und eleganten Programmierer wie auch zur erwachsenen Frau ist nicht nachgezeichnet.