Roth-Radetzkymarsch

Der aus dem ostgalizischen Brody (heute Westukraine) stammende österreichische Schriftsteller Joseph Roth hat mit dem Roman Radetzkymarsch 1932 anhand der Geschichte einer aus Slowenien stammenden Bauernfamilie namens Trotta die an den Rändern der Donaumonarchie herrschenden Bedingungen in Literatur gegossen.

Ahnenreihe der Familie, die 1916 beinahe zeitgleich mit dem österreichischen Kaiser Franz Joseph ausstarb, in fünf Generationen:

Bauer in Slowenien > Gärtner im Schloss Laxenburg > Retter des Kaisers in Solferino 1859, geadelt > Bezirkshauptmann in Mähren > Leutnant in der Habsburgarmee

Der Roman zeigt die meritokratischen Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Donaumonarchie, der Lebensretter von Franz Joseph in Solferino wird geadelt und bekommt ein Gut, sein Sohn wird Bezirkshauptmann einer mährischen Kleinstadt auf Lebenszeit, dessen Sohn wiederum kann auch ohne Begabung Leutnant in der Armee werden und wird in Galizien in der Nähe Russlands stationiert, wo er säuft, Geld verspielt und eine verheiratete Frau in Wien als Liebhaberin hat. Als seine hohen Schulden zurückgefordert werden, gelingt es seinem Vater (Sohn des Helden von Solferino) bei einer kaiserlichen Audienz, dass der Kaiserhof die Rückzahlung der Schulden regelt.

Vorgestellt wird in oft langen Beschreibungen eine Männergesellschaft, in der Frauen Mütter, Ehefrauen, Liebhaberinnen oder Prostituierte sind. Auch Kleinadelige wie Carl Joseph von Trotta als Baron (der letzte Spross) kann Ehefrauen verführen, wie er will, und die Ehemänner können praktisch nichts dagegen ausrichten, sie müssen es erdulden (in diesem Fall ein Wachmann und später ein geisteskranker Adeliger).

Roth arbeitet den Niedergang der Donaumonarchie anhand von Bildern heraus. Die Schwäche Einzelner wird zum Symbol der Schwäche der Monarchie.
Unsere Großväter haben uns nicht viel Kraft hinterlassen, wenig Kraft zum Leben, es reicht gerade noch, um unsinnig zu sterben.
Andererseits wird die alte Monarchie mit der heraufdämmernden Moderne kontrastiert:
Damals, vor dem großen Kriege, da sich die Begebenheiten zutrugen, von denen auf diesen Blättern berichtet wird, war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. Wenn einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte ... heutzutage lebt [man] von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.
Über den aufkommenden Nationalismus und das Schicksal der Vielvölkermonarchie:
Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehn nicht mehr in die Kirchen. Sie gehn in nationale Vereine. ... Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verläßt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen!
Am gelungensten sind die Schilderungen der Kaserne in Brody an der Grenze zu Russland, wo man "den Untergang der Welt" sieht. Geprägt ist der Ort von Schmugglern, von desertierenden russischen Soldaten, von Bauern, von reich werdenden Händlern und Gutsbesitzern. Die Juden sind für den Kleinkram zuständig. Frauen sind im Hintergrund. Die Industrie spiegelt sich in einer gesundheitsschädlichen Borstenfabrik, und bei einem Streik wird das Militär herangezogen, um in die Streikenden zu schießen.

Im Juli 1914 demissioniert Leutnant Trotta und wird Schreiber bei einem kleinen Gutsherrn, muss aber bei Kriegsbeginn wieder in die Armee zurück. Bereits nach drei Tagen begann der Rückzug nach Westen und die Flucht der Zivilisten. Desertierende werden brutalst verurteilt.
Der Krieg der österreichischen Armee begann mit Militärgerichten. Tagelang hingen die echten und die vermeintlichen Verräter an den Bäumen auf den Kirchplätzen, zur Abschreckung der Lebendigen. Aber weit und breit waren die Lebenden geflohen. Rings um die hängenden Leichen an den Bäumen brannte es, und schon begann das Laub zu knistern, und das Feuer war stärker als der ständige, leise rieselnde, graue Landregen, der den blutigen Herbst einleitete. Die alte Rinde der uralten Bäume verkohlte langsam, und schwelende, winzige, silberne Funken krochen zwischen den Rillen empor, feurige Würmer, erfaßten die Blätter, das grüne Blatt rollte sich zusammen und wurde rot, dann schwarz, dann grau; die Stricke lösten sich, und die Leichen fielen zu Boden, die Gesichter verkohlt und die Körper noch unversehrt.
Carl Joseph stirbt, als er für die durstige Kompanie Wasser von einem Brunnen auf einem Bahndamm holen will, im Kugelhagel der russischen Armee. Sein Vater, der Bezirkshauptmann, stirbt 1916, nicht lange nach Franz Joseph.

Dieser hochkomplexe und von Kritik wie Literaturwissenschaft gefeierte Roman ist streckenweise ermüdend zu lesen, aber für an der Donaumonarchie Interessierte ein Gustostückerl. Bis 2022 wurden von einigen Reiseveranstaltern Reisen zu den Handlungsorten der Romane Roths veranstaltet. Im Augenblick sind diese wegen des Überfalls Russlands auf die Ukraine nicht möglich.

Das Sequel ist der Roman Die Kapuzinergruft, das anhand eines anderen Zweigs der Trotta Österreich von 1913 bis 1938 thematisiert.

Hier eine Postkarte aus der Goldgasse in Brody wohl zu der Monarchiezeit, die zeigt, dass es auch im Zentrum des Ortes keinerlei befestigte Straßen gegeben hat und Fußwege mit Holzplanken errichtet worden sind.

Brody
Goldgasse in Brody. Bild: Unbekannt/Brodyer Regionalmuseum/Herder-Institut