Searle-Soziale Welt

2012 ist dieses Alterswerk eines der einflussreichsten Sprachwissenschafter des 20. Jahrhunderts erschienen. Aufbauend auf seiner Sprechakttheorie legt er dar, wie wir Menschen die soziale Welt, die Institutionen von Sommerferien bis politische Strukturen schaffen. Dafür benötigt es eine voll entwickelte Sprache mit Satzstrukturen (Syntax) und laut Searle unterscheidet uns Menschen diese Fähigkeit von allen bekannten derzeit lebenden nichtmenschlichen Lebewesen.

Konstituierende Regel sei die Konvention "X gilt im Kontext K als Y" (egal ob es um die Zugregel für eine Schachfigur oder die Inauguration einer Staatspräsident:in handelt). Die gültige Deklaration (Spielregel, Prozedere zur Ernennung eines Staatsoberhaupts) schafft via Anerkennung und Akzeptanz (auch bei Nicht-Billigung) die Status-Funktion, der mit einer deontischen Macht, also einer institutionell existierenden Macht einhergeht. Sei es ein Standesbeamter, der aufgrund seines Amtes Ehen schließen kann, oder sei es ein Präsident, der aufgrund seines Amtes ein Veto gegen ein Gesetz einlegen kann. Als Person X kann er es nicht, aber in der Funktion Y ist er dazu ermächtigt. Und um die Funktion Y zu erlangen, benötigt es eines Sprechaktes, einer Deklaration. In komplexen Gesellschaften kommt die Notwendigkeit einer dauerhaften Deklaration hinzu. Dazu benötigt es Schrift (Spielregeln, Verordnungen, Gesetze sind solche dauerhafte Deklarationen).

Zu Beginn wiederholt Searle seine fünf berühmten Sprechakte (illokutionären Akte):


  1. Assertiva (Aussagen, Behauptungen)
  2. Direktiva (Anweisungen oder Befehle - jemand anderer soll etwas tun)
  3. Kommissiva (Festlegungen wie Versprechungen oder Gelübde)
  4. Expressiva (Gefühlsausdrücke wie Entschuldigungen oder Danksagungen)
  5. Deklarativa (etwas durch Proklamation herbeiführen wie einen Krieg erklären oder eine Sitzung vertagen)


Nur der fünfte Sprechakt, Deklarativa, sei in der Tierwelt nicht zu beobachten und dieser sei für die Bildung von Institutionen der maßgebliche (seien es Spielregeln, die Anerkennung eines Papierstücks als Geld, die Anerkennung eines Staatsoberhaupts). Und dieser sei der Grund für wunschunabhängige Handlungen (man geht zur Arbeit, weil man einen Vertrag hat und diesen anerkennt, auch wenn man keine Lust hat).

Da durch Deklarationen Status-Funktionen kollektiv anerkannt werden, ist es möglich, dass es eine kollektive Intentionalität gibt, sprich: es kann nach Plan (prior intention = vorgängige Absicht) gehandelt werden (intention in action = handlungsimmanente Absicht). Dabei muss nicht jedes Mitglied wissen, was eine andere Person genau tut (der Violinist muss nicht wissen, was die Klavierspielerin genau tut, der Stürmer muss nicht wissen, wie der Verteidiger zu ihm einen Pass spielt). Jede Person muss nur ihren eigenen Beitrag leisten, um eine handlungsimmanente Absicht zu erreichen (Musikstück aufführen, Fußball spielen). Voraussetzung zur Erreichung des Ziels (kollektive Intentionalität) ist, dass jede Person im Team ihren Beitrag leistet.

Sprache ist für Searle ein ganz besonderes Kommunikationsmittel, das Warnschreie oder Knurren nicht zustandebringen kann. Deklarationen erschaffen etwas, was wiederum in der Welt gültig ist.
Die Sprache beschreibt nicht nur, sondern sie erschafft und ist teilweise konstitutiv für das, was sie sowohl beschreibt als auch erschafft.
"Dies ist mein Auto" gilt als korrekte Aussage nur, wenn es zuvor eine Deklaration (einen gültigen Kaufvertrag) gegeben hat. Ohne diese ist die Aussage schlichtweg falsch. Der Kaufvertrag, der schriftlich vorliegt, ist ein fortwährender, permanenter Sprechakt, der jederzeit vorgewiesen werden kann. Diese Deklarationen sind nun Konventionen, mit denen Rechte (Autobesitz), Pflichten (Papierstück als Geld zu akzeptieren), Festlegungen (der Lageort eines Balles zählt als Tor) einhergehen. Deklarationen schaffen deontische Kräfte und deontische Macht. Genau diese Fähigkeit von Sprache halte die menschliche Gesellschaft zusammen.

Deklarationen, die anerkannt und konventionell sind, schaffen die Institutionen. Searle reiht eine lange Beispielliste auf:
Regierungsinstitutionen: Legislative, Exekutive, Judikative, Militär, Polizei.
Sportliche Institutionen: Fußballbundesliga, Hochleistungssportler mit Amateurstatus, lokale Sportvereine.
Zweckgebundene Institutionen: Krankenhäuser, Schulen, Hochschulen, Gewerkschaften, Restaurants, Theater, Kirchen.
Wirtschaftliche Institutionen: Industriekonzerne, Finanzberater, Immobilienhändler, Handelsge-sellschaften, Sozietäten.
Strukturierte Mehrzweckinstitutionen: Geld, Privateigentum, Ehe, Regierung.
Unstrukturierte, informelle und (zumeist) nicht kodifizierte Institutionen: Freundschaft, Familie, Liebesverhältnisse, Partys.
Allgemeine Formen menschlicher Aktivität, die zwar selbst keine Institutionen sind, aber Institutionen umfassen: Wissenschaft, Religion, Erholung, Literatur, Sex, Essen.
Berufliche Tätigkeiten, die zwar selbst keine Institutionen sind, aber Institutionen umfassen: Jus, Medizin, Hochschulwesen, Theater, Tischlern, Einzelhandel.
Formal sieht die Schaffung von Institutionen nach Searle so aus:

Durch Deklaration führen wir (führe ich) es herbei, daß die Y-Status-Funktion existiert.

Status-Funktion ist folgendermaßen definiert:
Eine Status-Funktion definiere ich als eine Funktion, die von einem Gegenstand (Gegenständen), einer Person (Personen) oder einer anderen Entität (Entitäten) erfüllt wird und die nur aufgrund der Tatsache erfüllt werden kann, daß die Gemeinschaft, in der sie erfüllt wird, dem betreffenden Gegenstand, der betreffenden Person oder der betreffenden Entität einen bestimmten Status zuschreibt, und daß die Funktion vermöge der kollektiven Akzeptierung oder Anerkennung des Gegenstands, der Person oder der Entität als Träger dieses Status erfüllt wird.
Und warum es dazu Sprache benötigt, erklärt Searle folgendermaßen:
Eine solche Deontologie setzt Sprache voraus. Warum? Weil man ohne Sprache über nichts weiter verfügt als vorsprachliche intentionale Zustände (wie Wünsche und Überzeugungen) sowie Neigungen. Um dahin zu gelangen, daß man eine Verpflichtung als Verpflichtung anerkennen kann, muß man über den Begriff der Verpflichtung verfügen, denn man muß dazu imstande sein, etwas als Verpflichtung zu repräsentieren, das heißt: als etwas, das uns einen von unseren Neigungen und Wünschen unabhängigen Handlungsgrund liefert.
Eine ganz simple und in Europa lange existierende bzw. existiert habende konventionelle Deklaration ist:
Für alle x, wenn x der älteste lebende Sohn des verstorbenen Königs ist, dann gilt x als der König.
Durch Deklarationen kann der Mensch Könige, Grenzen, Firmen, Eheleute, Autofahrer:innen usw. schaffen, also institutionelle Tatsachen. Und diese funktionieren, solange sie anerkannt und akzeptiert werden. Wenn sie nicht mehr anerkannt werden, verschwinden sie (als politisches Beispiel nennt Searle die Sowjetmacht ab 1989). In einer Gesellschaft, in der keine deontischen Kräfte oder Mächte mehr anerkannt würden, gäbe es kein wunschunabhängiges Handeln mehr, jede Person täte, wonach ihr gerade der Sinn steht. Damit bräche das System zusammen, auch die Gesellschaft würde nicht mehr als solche existieren.

Durch Status-Funktionen erhält eine Person oder Personengruppe Macht über andere Personen: "X hat mit Bezug auf Handlung A Macht über Y." Das kann die Ausstellung eines gültigen Führerscheins sein oder die Unterfertigung eines Staatsvertrags. Gewisse Status-Funktionen bringen mit sich, dass jemand einer anderen Person ihre Freiheit nehmen kann (Polizei oder Richter). Und weiter: "Um Ausübung von Macht handelt es sich nur, wenn der Akteur das Objekt dazu bringt, etwas unabhängig davon, ob das Objekt den entsprechenden Wunsch hat oder nicht, zu tun."

Grundsätzlich beinhalten deontische Machtbefugnisse (auf Basis einer Status-Funktion), "daß man die Menschen zu bestimmten Handlungen bringt, ohne Gewalt anzuwenden". Ausführlich grenzt Searle diesen Machtbegriff vom "Biomachtbegriff" Foucaults ab. Eine Besatzungsarmee hätte zum Beispiel keine deontische Macht, ihre Macht würde ausschließlich auf Brachialgewalt und der daraus entstehenden Furcht beruhen.

Dennoch setzt er sich ausführlich mit Regierungsmacht auseinander, der er zwei Merkmale zuschreibt: "ein Monopol auf organisierte Gewalt und die Kontrolle über das Territorium". Für Searle ist eine Regierung die "ultimative institutionelle Struktur", die in ihrem Grad der Kontrolle über andere institutionelle Strukturen (etwa Familie, Bildung, Geld, Wirtschaft, Eigentum, Kirche) variieren kann: von anarchistischen Verhältnissen beinahe ohne Einfluss bis hin zu einem totalitären System. Dennoch würde ohne Gewaltmonopol sie aufhören, als Regierung zu fungieren (Searle führt "einige afrikanische Staaten" bzw. durch die Mafia kontrollierte Gebiete in Süditalien an).

Akzeptanz und Anerkennung einer Regierung muss jedoch nicht Billigung bedeuten. Stalin und Hitler hätten ein sehr großes Sicherheitsbedürfnis gehabt. "Die Akzeptierung ihres Systems von Status-Funktionen konnten sie niemals einfach als einen gegebenen Teil der Realität voraussetzen, sondern sie mußte ununterbrochen durch ein gewaltiges System von Belohnungen und Bestrafungen sowie durch Terrorherrschaft gewährleistet werden."

Die Struktur von Gesellschaften beruht nach Searle auf einer kollektiven Intentionalität. Diese kann zerstört werden, indem eine alternative kollektive Intentionalität geschaffen wird. Dies könne im Positiven mit der Abkehr von sexistischen oder rassistischem Sprachgebrauch geschehen. Andererseits ist dieses Vorgehen auch Kern revolutionärer totalitärer Strömungen. Die Bolschewiki erhoben das Proletariat, die Nationalsozialisten die arische Rasse zur Identifikationsform kollektiver Intentionalität.

Demokratische Gesellschaften zeichnen sich für Searle durch den geregelten regelmäßigen Machtwechsel aus und dass politische Gegner sich nicht gegenseitig vernichten. Selbst als der Wahlsieg George W. Bush' uneindeutig war, wurde die deontische Macht des Präsidenten nach dem Entscheid des Obersten Gerichtshofs auch von den meisten derjenigen anerkannt, die ihn eigentlich ablehnten.

Auch dass sich nach Wahlen in für Searle idealen demokratischen Gesellschaften die Lebensverhältnisse für die meisten Menschen nicht grundlegend ändern und die Parteien sich nach außen sehr ähnlich geben, ist für ihn eine Stärke und keine Schwäche. Sehr überspitzt schreibt er:
Wüßte man, daß man im Fall eines gegnerischen Wahlsiegs wahrscheinlich im Konzentrationslager landet, hingerichtet wird oder seinen gesamten Besitz durch Enteignung verliert, kann man keinen stabilen und dauerhaften Lebensplan schmieden. In erfolgreichen Demokratien spielt der Wahlausgang keine große Rolle, und genauso soll es sein.
Im letzten Kapitel schreibt Searle über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auch diese seien Status-Funktionen.
Menschsein ist ein Status, dem Funktionen zugeordnet werden können, die unserer Definition der Status-Funktionen entsprechen. ... Wer als Mensch gilt, dem sind also automatisch Menschenrechte garantiert.
Dabei unterscheidet Searle zwischen negativen Rechten (jemand darf nicht an etwas gehindert werden) und positiven Rechten (jemand hat Anrecht auf etwas). Für die negativen Rechte gilt:

X hat ein Recht (X tut A)
impliziert
Y hat eine Pflicht (Y behindert nicht (X tut A))

Am Beispiel Redefreiheit:

X hat hat ein Recht (X spricht ungehindert)
impliziert
Y hat die Pflicht, nicht hindernd einzugreifen
(X spricht ungehindert).

Negative Rechte sind im Regelfall gegen jemanden gerichtet, meist den Staat. Der Staat darf das Recht auf Redefreiheit nicht einschränken, außer es werden durch die Redefreiheit Grundrechte anderer eingeschränkt. ("Feuer!" in einem vollen Theater rufen oder jemanden bei Dritten verleumden).

Schwieriger sind für Searle die positiven Menschenrechte wie zum Beispiel nach "angemessener Wohnung" umzusetzen, da jemand anderer verpflichtet wird und nicht geklärt ist, wer das sein soll, der verpflichtet ist. Aber da sind wir vielleicht in einer US-amerikanischen Diskussion.

Insgesamt ist dies ein sehr flott zu lesendes Buch. Es hinterlässt den Eindruck eines sehr selbstbewussten Mannes, der weiß, welchen Beitrag er für die Sprachwissenschaft bereits geleistet hat. Trotz mancher Wiederholungen ist es an vielen Stellen witzig geschrieben, auch wenn er nie Zweifel aufkommen lässt, dass seine Terminologe extrem präzise ist. Hat Spaß gemacht. Vielen Dank an den nun schon über 90-Jährigen (auch wenn er hier wohl kaum mitliest ;) ).