Manning-Reichtum

Olivia Mannings Balkan-Triologie ist seit 2020 in Deutsch zu lesen und eine Wucht. So geht autobiographische Fiktion. Manning ist mit 31 Jahren frisch verheiratet mit dem Englischlehrer und Sozialisten Reginald Donald Smith, der für das British Council und möglicherweise für den britischen Geheimdienst gearbeitet hat, nach Bukarest gefahren. Aus ihrem Leben in den Kriegsjahren hat Manning diese Trilogie gestaltet, und der erste Teil umfasst die Zugreise im September 1939 durch Italien, Slowenien und Ungarn bis zum Zeitpunkt der deutschen Eroberung von Paris im Juni 1940.

Das Beeindruckende ist, dass Manning keine Ich-Ich-Ich-Texte verfasst hat, wie sie heutzutage so beliebt sind, sondern aus Außensicht gestaltet. Hauptfiguren sind Harriet und Guy Pringle. Harriet, ein Waisenkind, Guy ein Englischlehrer. Einstieg ist die langwierige Zugreise im September 1939 nach Bukarest, während zeitgleich Deutschland Polen überfällt. Harriet findet nur schwer Zugang zur Gesellschaft in Bukarest. Rumänien ist zwar offizell mit Großbritannien verbündet, aber die faschistische Eiserne Front, die auch den Ministerpräsidenten ermordet, wird immer stärker und schließlich in die Regierung eingebunden. Die deutsche und britische Botschaft sind baulich praktisch Nachbarn und führen einen Propagandakampf. Die rumänische Gesellschaft ist extrem auseinandergerissen, die Kluft zwischen Arm und Reich ist riesig, dennoch sind die Ausländer noch eine Stufe drüber, und Harriet findet sehr schwer Zugang und ist auch von der rumänischen Gesellschaft abgestoßen. Andererseits ist sie sowieso eher unzugänglich und direkt im Gegensatz zu ihrem Ehemann, der sehr umgänglich ist, aber dessen Geheimdienstverbindungen im Dunklen bleiben. Anknüpfungspunkte zu Frauen, die entweder schon länger in Rumänien lebende britische Damen oder (ehemalige) Studentinnen von Guy sind, gestalten sich mühsam. Die Frauen des aktuellen Personals der britischen Botschaft bzw. des British Council sind bereits abgereist. Auch beginnt die Ehe der beiden zu kriseln, zerbricht jedoch nicht.

Höhepunkt ist die von Guy im Nationaltheater inszenierte Aufführung von Shakespeares Troilus und Cressida, in der sowohl die in Bukarest lebenden britischen Expats wie Studenten von Guy spielen. Troja sind Frankreich und Großbritannien, das Athen Agamemnons die faschistischen Mächte.

Beeindruckend sind Mannings Beobachtungen und Schilderungen sowohl der britischen Expats als auch der rumänischen Gesellschaft. Die Expats sind abgeschottet und können sich die teuren Restaurants leisten. Selbst der mittellose Prinz Jakimov kann sich durchschnorren. Die Darstellung der rumänischen Gesellschaft ist nicht ausschließlich auf einen Kulturschock zurückzuführen, sie ist schockierend. Drei Beispiele seien angeführt.

Bald nach Ankunft spazieren Harriet und Guy in der Calea Victoriei, der zentralen Straße in Bukarest, und Harriet erkennt in der vollgestopften Straße die sozialen wie geschlechtlichen Hierarchien.
Schließlich waren sie frei und konnten sich unter die Spaziergänger mischen. Es war ein trübsinniger Menschenauflauf, der aus mehr Männern als Frauen bestand. Frauen höheren Alters spazierten nicht allein herum. Es gab wenige Gruppen von Mädchen, die nur Augen füreinander hatten und denen nicht bewusst zu sein schien, dass einzelne Manner sie wild anstarrten. Vor allem aber waren maßgeschneiderte, ausgepolsterte, zugeknöpfte Paare unterwegs, überkorrekt aus Unsicherheit. Dies war nämlich, erläuterte Guy, die Stunde, in der es lediglich dem Mittelstand erlaubt war, auf die Straße zu gehen.

Für sie war der Spaziergang eine körperliche Herausforderung. So gemächlich sie auch schlenderten, die Rumänen hielten sich finster entschlossen und skrupellos auf dem Gehweg. Nur Bauern oder Bedienstete sah man auf der Straße gehen. Wenn sie unter Druck gerieten, wichen die Männer wohl einige Zentimeter zur Seite, die Frauen jedoch waren so unerbittlich wie Dampfwalzen. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, während sie, kleingewachsen und kräftig, mit Hintern und Brüsten auskeilten. die schwer waren wie Beutel voll Schweineschmalz. Am erbittertsten verteidigt wurde die Innenseite des Gehwegs, direkt vor den Schaufenstern.
Hier ein Foto der Calea Victoriei aus dem Jahr 1923:

Nicolae Ionescu - Victory Avenue in 1923Original anzeigen (0,2 MB)
Foto: Nicolae Ionescu / Wikimedia / Public Domain

Schlimm steht es um die Menschen, die betteln müssen. Einerseits gibt es Familen, die ausschließlich von Bettelei leben und sich selbst wie ihre Kinder verstümmeln, um Mitleid erheischen zu können. Auch wird mehrfach die Aggressivität vor allem der Kinder betont und es werden achtjährige Mädchen beschrieben, die sich prostituieren. Hier die Beschreibung der Verstümmelungen.
Guy schlug vor, ein kleines Stück zu gehen, aber zuerst mussten sie durch das Fegefeuer der das Hotel umlagernden Bettler. Es waren professionelle Bettler, die in ihrer Kindheit von Bettlereltern geblendet oder verkrüppelt worden waren. Guy hatte sich in seinem ersten Lehrjahr zwar an den Anblick weißer Augäpfel und schwärender Wunden gewöhnt, daran, dass man ihm Stümpfe und verkümmerte Arme und die Brüste stillender Mütter vors Gesicht hielt, immun war er nicht dagegen. Die Rumänen akzeptierten all dies als Teil des Lebens und spendeten Münzen, die so klein waren, dass ein Bettler für den Gegenwert einer Mahlzeit vermutlich den ganzen Tag sammeln musste.
Andererseits ziehen im sehr strengen Winter 1939/40 Bauernfamilien nach Bukarest, um Unterstützung vom Staat zu erhalten oder Nahrungsmitteln zu erbetteln. Der Grund: Die Männer sind bei der Mobilisierung eingezogen worden und diese fehlen bei der Arbeit. Bauernfamilien, die von den Städtern verachtet werden, sind vorm Verhungern. Die Glücklichen finden noch Unterkünfte, in denen zwanzig bis dreißig Menschen in einem Raum schlafen dürfen, die Unglücklichen erfrieren im schönsten Park von Bukarest, im Cismigiu.
Die Bettler waren nun zahlreicher als jemals zuvor. Hunderte verzweifelter Bauernfamilien, deren Ernährer zwangsverpflichtet worden waren, hatte der Winter in die Hauptstadt getrieben, wo sie glaubten, Gerechtigkeit zu finden. Stundenlang standen sie vor dem Palast an. vor den Gerichten. der Präfektur oder jedem ähnlich aussehenden Gebäude. Sie wagten nicht einzutreten. Wenn die Kälte und der Hunger sie endlich in die Knie zwang, zogen sie in Gruppen davon, um zu betteln - Frauen, Kinder und uralte, beinahe kriechende Männer. Da ihnen die Hartnäckigkeit der Berufsbettler fehlte, wurden sie immer wieder abgeschüttelt. Viele von ihnen taten nicht mehr, als weinend in Hauseingängen zu kauern. Manche machten den berühmten Cismigiu ausfindig, der sich von Tor zu Tor wie ein riesiger, mit einer Eisschicht bedeckter Ballsaal erstreckte. Manche schliefen dort nachts unter den Bäumen, andere wanderten hinaus zur Chaussee. Nur wenige von ihnen überlebten lange. Jeden Morgen machte ein Karren die Runde und sammelte die Körper ein, die man aus dem Schnee ausgegraben hatte. Manche wurden miteinander verknäuelt vorgefunden, unzertrennlich eingefroren, und so warf man sie, wie man sie fand, zusammen in ein Massengrab.
Auch der Antisemitismus wird angesprochen und anhand der Bankierfamilie Drucker personalisiert. Der alte Drucker hat einen großen Teil des Familienvermögens in die Schweiz gebracht, macht naiv Exportgeschäfte mit Deutschland und wird schließlich verhaftet. Die ganze Familie verschwindet und ist nicht mehr auffindbar.

Mit dem Einmarsch Deutschlands in Paris endet - wie oben angeführt - der Roman. Ein perfekter Cliffhanger für einen beeindruckenden Roman, dessen Titel sich einerseits auf den natürlichen und ungenutzten Reichtum Rumäniens bezieht, andererseits auf den Reichtum, den das Leben an sich darstellt.