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Corona in der Seele
10.08.2022 um 18:50Die Leiter des privaten Pädagogischen Instituts Berlin, Udo Baer und Claus Koch, haben nach einem Jahr Pandemiemaßnahmen einen Ratgeberband veröffentlicht, wie mit psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie wie deren Maßnahmen (und nein, es geht nicht um Masken) umgegangen werden kann. Anhand mehrerer Studien aus Deutschland und Österreich konstatieren sie einen Anstieg an psychischen Auswirkungen während des ersten Jahrs Corona-Pandemie und versuchen sie auch anhand von Fallbeispielen strukturiert zu analysieren und Wege der Problemlösung aufzuzeigen. Kern aller Lösungsvorschläge ist Zuwendung, nur im Falle von Suizidgedanken wird eine professionelle Hilfe empfohlen.
Hauptproblem der Pandemie sei, dass die sieben sozialen und psychischen Grundbedürfnisse, die Menschen ab Geburt haben, gestört sind, und zwar bei Kindern, Jugendlichen wie Erwachsenen:
- (Ur-)Vertrauen: Es gibt keine Hilfe mehr von anderen (Familie, soziales Umfeld).
- Geborgenheit und Sicherheit: Die Welt ist unsicher.
- Anerkennung: Man wird nicht mehr gesehen und gehört, als ob man nicht mehr existiere.
- Resonanz: Die Welt antwortet nicht mehr. Niemand sagt, was gerade vorgeht.
- Selbstgefühl und Authentizität: Man darf nicht so sein, wie man möchte.
- Selbstwert: Man wird von der Gemeinschaft nicht mehr angenommen. Es gibt nur Vorschriften.
- Wirksamkeit: Eigenes Handeln scheint wirkungslos zu sein.
Mit fehlenden Grundbedürfnissen geht ein Kontrollverlust einher, der wiederum Ängste verstärken kann. Kernthese ist, dass zwei Aspekte psychische Störungen während der Pandemie verstärken: Armut und wohnliche Enge sowie bereits gestörte Grundbedürfnisse. Wichtig ist für Baer und Koch, dass Zuwendung nicht abgebrochen wird, dass auch eigene Ängste vermittelt werden, dass auch rationale Erklärungsmuster angeboten und zur Diskussion gestellt werden, dass vor allem Kinder mit dieser für sie neuen Welt nicht alleine gelassen werden.
Vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zeigen erhöhte Zukunftsangst. Der Aufbau privater wie beruflicher sozialer Bindungen funktioniert nicht, was die Zukunft düster erscheinen lässt und depressive Stimmungen verstärkt und zu schwer kontrollierbaren Alternativhandlungen führen kann bis hin zu Selbstverletzung (Ritzen), Ernährungsstörungen, Drogenkonsum, erhöhten Alkoholkonsum. Auch psychische Störungen wie Derealisierung (als ob zwischen einem selbst und der Welt eine Milchglasscheibe sei) können ausgelöst werden. Es muss bedacht werden, dass es um nicht gelebtes Leben geht, das oft nicht nachgeholt werden kann. Und dieses nicht gelebte Leben ist keine eigene freie Entscheidung (ich mache dies und nicht das), sondern von außen aufoktroyiert.
Hilfestellungen können durchaus Spiele bieten. Man braucht einen Fluchtraum, einen sogenannten Möglichkeitsraum. Wobei eindringlich davor gewarnt wird, vor allem Kinder in Lernspiele zu jagen. Das Ziel eines Spiels sei zu spielen und nicht ein Lernziel zu erreichen, was aus einem Spiel einen Leistungswettbewerb macht. Auch Computerspiele werden nicht negativ bewertet, wobei als Grenze zur Spielsucht (oder Computersucht) ein tägliches Spielen von mehr als fünf Stunden gesehen wird (bei Jugendlichen).
Kritisch wird auch der Wiedereinstieg in den Schulalltag gesehen. Halbklassen können wichtige soziale Bindungen weiterhin trennen (man freut sich auf einen Freund, und der ist in der anderen Gruppe), auch soll das "Nachholen von Lernstoff" reflektiert geschehen. Freiwillige Wiederholung eines Jahrgangs, Nachhilfe oder Sommerkurse können sich schnell wie Strafen anfühlen und aufgrund der dadurch fehlenden Lernmotivation zu mehr seelischen Schäden als pädagogischem Nutzen führen. Das heißt, im kognitiven Wissensgedächtnis bleibt nichts hängen, dafür brennt sich das Gefühl der Minderwertigkeit bzw. des Ausgeschlossenwerdens ins Erlebensgedächtnis ein, das viel länger sich etwas merkt als das Wissensgedächtnis (Beispiel: der Horror einer misslungenen Abiturprüfung ist Jahrzehnte vorhanden, auch wenn niemand mehr die Fragestellung weiß).
Beachtet soll auch werden, dass Gefühle sich durch andere Gefühle ausrücken können. Wenn Angst unterdrückt wird oder werden soll, kann sie sich als Wut, Zorn oder auf der anderen Seite als depressive Melancholie zeigen. Wichtig wäre in diesem Fall, dass das ursprüngliche Gefühl entschlüsselt und thematisiert bzw. in schweren Fällen therapiert wird.
Schwerwiegend sind Traumata, die bereits vor oder während der Pandmie entstanden sind. Als Trauma wird eine (seelische oder körperliche) Verletzung gesehen, die drei Kriterien erfüllen muss: Sie wird als existenziell bedrohlich erlebt, sie übersteigt die Bewältigungsmöglichkeit des Betroffenen, sie zeigt nachhaltige Folgen. Traumatische Erfahrungen können durch Sinneseindrücke oder emotionale Situationen (sogenannte Trigger) wiederbelebt werden, wobei diese Trigger nicht dem ursprünglichen Auslöser des Traumas entsprechen müssen, eine Ähnlichkeit genügt. Als Beispiel wird ein Junge angeführt, der vor der Pandemie in der Schule am Gang von einer Gruppe verprügelt wurde. Nach dem Wiedereinstieg erlitt er im leeren Treppenhaus der Schule, als er während der Stunde etwas holen musste, eine Panikattacke. Zweites Beispiel ist ein Mädchen, das vor der Pandemie sexuell belästigt wurde. Sie verfiel in Panik, als ihr ein guter alter Schulfreund nach Rückkehr aus dem Lockdown um den Hals fiel. Er hatte nichts mit der sexuellen Belästigung zu tun. Traumata zu erkennen sei sehr schwierig, aber wichtig, da traumatisierte Personen nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen.
Am Ende des Büchleins (es ist ja nicht dick) werden einige Verhaltensratschläge angeboten:
- Keine Schuldzuweisungen, auch wenn jemand angesteckt wurde.
- Der Übergang zwischen den Lockdownphasen soll langsam beschritten werden.
- Während eines Lockdown soll eine Alltagsstruktur aufgebaut werden.
- Eigene Gefühle sollen auch den Kindern gegenüber gezeigt und angesprochen werden.
- Mit Kindern soll gespielt werden.
- Wirksames Handeln soll gefördert werden (kochen, Fahrrad reparieren, ... Kleinigkeiten sind wichtig).
- Man soll sich selbst nicht und schon gar nicht Kinder einem Dauerdruck aussetzen.
- Man soll Möglichkeiten finden, damit der Alltag auch genossen werden kann.
Fazit: Dass diese Problematik nicht nur hysterischen Schreihälsen überlassen wird, ist sehr erbaulich.