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Lois Lowry - Hüter der Erinnerung
07.08.2022 um 00:02Original anzeigen (0,3 MB)
Dies ist der erste Band eines 1993 erschienenen Dystopie-Romans für Jugendliche bzw. eher für Kinder, der sehr an Huxley, Orwell, Bradbury und Harrison (Schöne Neue Welt, 1984, Fahrenheit 451, New York 1999 aka Soylent Green) angelehnt ist und Stärken wie eklatante Schwächen aufweist.
Der Roman spielt in einer Kleinstadt, die fast schon an eine hochtechnologische Pol-Pot-Gesellschaft erinnert. Das komplette Leben der Menschen ist in feste Bahnen gegossen, eigene Entscheidungen gibt es nicht. Berufe werden bei 12-Jährigen vom Komitee der Ältesten zugeteilt, Ehepartner werden zugeteilt und haben nur eine Aufgabe: zwei Kinder großzuziehen, einen Jungen und ein Mädchen. Diese werden aber nicht von den Eltern gezeugt, sondern von Genetikern designt und von Gebärerinnen anscheinend mittels In-Virtro-Fertilisation zur Welt gebracht und den Familien zugewiesen. Ab dem zwölften Lebensjahr werden auch erregungsunterdrückende Pillen eingenommen: Sex gibt es wohl nicht, auch Gefühle wie Liebe kennt niemand. Dafür werden jeden Abend in den Familien Gefühlsaussprachen und jeden Morgen Traumaussprachen abgehalten.
Das Leben ist streng nach Regeln ausgerichtet, die Menschen werden überwacht und es gibt öffentliche Lautsprechersysteme, die auf beobachtete Regelverstöße hinweisen. Wie bei Orwell gibt es Überwachungsbildschirme, die nicht abgeschaltet werden können. Für das materielle Leben sorgt die Gemeinschaft, so wird dreimal am Tag Essen geliefert. Gekocht muss nicht werden. Ein individuelles gesellschaftliches Leben gibt es nicht, in der Nacht herrscht striktes Ausgehverbot. Restaurants, Gasthäuser, Bars, gegenseitiges Treffen, Partys sind nicht existent. Die Menschen leben in ihren kleinen Familieneinheiten, arbeiten oder gehen zur Schule, Kinder dürfen noch spielen, aber am besten in organisierten Spielgruppen. Bücher sind verboten, Musik gibt es nicht.
Der Lebensweg ist streng eingeteilt. Die Grobstruktur ist Kindheit bis 12, Erwachsenenleben, Alter. Für die Kinder gibt es jedes Jahr im Dezember Initiationsriten für das nächste Lebensjahr mit Kontrolle, ob sie dem Reifungsprozess entsprechen, das Erwachsenenleben ist zweigeteilt in Kernfamilie mit zwei (fremden) Kindern und danach das Leben bei den kinderlosen Erwachsenen, schließlich das Alter in Pflegeheimen.
Die Regeln sind streng überwacht, körperliche Bestrafungen gibt es für Kinder und Alte, wer zu oft gegen Regeln verstößt, wird wie Alte ins Anderswo "freigegeben". Dass es sich dabei um Tötungen handeln muss, wird beim Lesen schon sehr früh klar - zumindest wenn man Soylent Green kennt.
Sehr unstimmig ist der Roman bezüglich der Gesellschaft. Da es pro Jahrgang etwas mehr als 20 Kinder gibt, muss man eigentlich von einem Dorf um die 200 Leute ausgehen. Pro Jahrgang wird eine Gebärerin ausgewählt, die drei Jahre als Gebärmaschine tätig ist. Also gibt es drei Gebärerinnen gleichzeitig. Wie diese über 20 Kinder im Jahr schaffen, bleibt unklar. Andererseits ist das Umfeld nicht schaffbar, selbst wenn man die erwähnten Nachbargemeinden hinzuzieht, da der Umkreis sehr klein ist und kein großer totalitärer Staat existiert. Berge sind abgetragen worden wegen des Verkehrs, das Klima wird geregelt, sodass es keine Jahreszeiten mehr gibt (wegen der Landwirtschaft), es regnet nicht und die Sonne scheint nicht, Menschen können keine Farben mehr sehen, ihre Hautfarbe ist gleich, Kriege gibt es auch nicht mehr (aber Flugabwehrsysteme - warum?). Gegen Ende wird eine sehr kleine Welt gezeichnet. Das passt alles nicht zusammen.
Erinnerungen an die Vergangenheit hat nur mehr eine Person: der Hüter der Erinnerung. Das ist ein alter Mann mit hellen Augen (die meisten haben dunkle Augen). Die Geschichte dreht sich um den 12-jährigen Jonas, der auch helle Augen hat und mit 12 Jahren zum neuen Hüter der Erinnerung ausgewählt wird. Bereits vor der Auswahl hat er immer wieder Farberscheinungen, die er zunächst nicht einordnen kann (seine Welt ist ja grau).
Die Lehre beim alten Hüter der Erinnerung ist sehr esoterisch. Erinnerungen werden per Handauflegen am Rücken übertragen, und wenn eine Erinnerung übertragen wird, verliert der alte Träger diese. Auch sind die Erinnerungen, die übertragen werden, mit Nacherleben von Empfindungen und Gefühlen verbunden. Ein Sonnebrand tut weh, ein Beinbruch tut weh. Als Einziger hat der Hüter der Erinnerung auch eine große Bibliothek, die aber im Roman nur Deko ist. Vermittlung geschieht ja durch Handauflegen.
Eine Wende im Leben von Jonas ist die Freigabe eines Zwillings in der Säuglingspflegeanstalt, in der sein Vater als Pfleger arbeitet. Auf einem Bildschirm beim Hüter der Erinnerung kann er das Freigaberitual nach einer Zwillingsgeburt mitverfolgen (der schwächere wird immer freigegeben): Sein Vater setzt dem Neugeborenen eine Todesspritze an. Nun weiß Jonas, dass er in einer mörderischen Gesellschaft lebt und ausbrechen will. Der alte Hüter der Erinnerung unterstützt ihn, da bei Verschwinden des Hüters die Erinnerungen unkontrolliert auf die Bewohner übertragen werden. Wieder so ein nicht erklärtes esoterisches Phänomen. Im Laufe eines Jahres nimmt Jonas so viel Erinnerungen der Menschheitsgeschichte auf, wie es zeitlich möglich ist.
Der Zeitpunkt der Flucht kommt, als das Kleinstkind Gabriel, das sein Vater in die Familie zur Pflege übernommen hat und Jonas sehr gern hat, freigegeben werden soll. Jonas flieht in der Nacht vor Gabriels Freigabe auf dem Fahrrad seines Vaters aus dem Ort mit Gabriel auf dem Kindersitz. Unbehelligt kommt er aus der Stadt, Grenzkontrollen gibt es nicht, er platziert Kleidungsstücke am Fluss, damit die Gemeinschaft denkt, er ist ertrunken. Dennoch verfolgen ihn Flugzeuge (wessen?), er kann sich und Gabriel aber durch Kälteerinnerungsübertragung vor den Wärmebildkameras schützen. So gelangen sie ausgehungert in eine Gegend mit Bergen und Schnee (warum es den Weg gibt, ist auch nicht klar), von einer Anhöhe fahren sie auf einem Schlitten (wie in einer der Erinnerungen) in ein Tal, in dem ein bunt beleuchtetes Haus steht, in dem Menschen singen (wie in einer Erinnerung).
Mit dieser traumartigen Sequenz endet der Roman, und es bleibt offen, ob dies überhaupt real ist.
Eigentlich ist das Buch flott zu lesen, aber die Inkonsistenzen und esoterischen Eigenartigkeiten kumulieren gegen Ende des Textes und irritieren. So ist das Buch für ältere Kinder durchaus geeignet, über fremdbestimmtes und eigenverantwortliches Leben nachzudenken, aber die Logik darf nicht immer hinterfragt werden.
Dies ist der erste Band eines 1993 erschienenen Dystopie-Romans für Jugendliche bzw. eher für Kinder, der sehr an Huxley, Orwell, Bradbury und Harrison (Schöne Neue Welt, 1984, Fahrenheit 451, New York 1999 aka Soylent Green) angelehnt ist und Stärken wie eklatante Schwächen aufweist.
Der Roman spielt in einer Kleinstadt, die fast schon an eine hochtechnologische Pol-Pot-Gesellschaft erinnert. Das komplette Leben der Menschen ist in feste Bahnen gegossen, eigene Entscheidungen gibt es nicht. Berufe werden bei 12-Jährigen vom Komitee der Ältesten zugeteilt, Ehepartner werden zugeteilt und haben nur eine Aufgabe: zwei Kinder großzuziehen, einen Jungen und ein Mädchen. Diese werden aber nicht von den Eltern gezeugt, sondern von Genetikern designt und von Gebärerinnen anscheinend mittels In-Virtro-Fertilisation zur Welt gebracht und den Familien zugewiesen. Ab dem zwölften Lebensjahr werden auch erregungsunterdrückende Pillen eingenommen: Sex gibt es wohl nicht, auch Gefühle wie Liebe kennt niemand. Dafür werden jeden Abend in den Familien Gefühlsaussprachen und jeden Morgen Traumaussprachen abgehalten.
Das Leben ist streng nach Regeln ausgerichtet, die Menschen werden überwacht und es gibt öffentliche Lautsprechersysteme, die auf beobachtete Regelverstöße hinweisen. Wie bei Orwell gibt es Überwachungsbildschirme, die nicht abgeschaltet werden können. Für das materielle Leben sorgt die Gemeinschaft, so wird dreimal am Tag Essen geliefert. Gekocht muss nicht werden. Ein individuelles gesellschaftliches Leben gibt es nicht, in der Nacht herrscht striktes Ausgehverbot. Restaurants, Gasthäuser, Bars, gegenseitiges Treffen, Partys sind nicht existent. Die Menschen leben in ihren kleinen Familieneinheiten, arbeiten oder gehen zur Schule, Kinder dürfen noch spielen, aber am besten in organisierten Spielgruppen. Bücher sind verboten, Musik gibt es nicht.
Der Lebensweg ist streng eingeteilt. Die Grobstruktur ist Kindheit bis 12, Erwachsenenleben, Alter. Für die Kinder gibt es jedes Jahr im Dezember Initiationsriten für das nächste Lebensjahr mit Kontrolle, ob sie dem Reifungsprozess entsprechen, das Erwachsenenleben ist zweigeteilt in Kernfamilie mit zwei (fremden) Kindern und danach das Leben bei den kinderlosen Erwachsenen, schließlich das Alter in Pflegeheimen.
Die Regeln sind streng überwacht, körperliche Bestrafungen gibt es für Kinder und Alte, wer zu oft gegen Regeln verstößt, wird wie Alte ins Anderswo "freigegeben". Dass es sich dabei um Tötungen handeln muss, wird beim Lesen schon sehr früh klar - zumindest wenn man Soylent Green kennt.
Sehr unstimmig ist der Roman bezüglich der Gesellschaft. Da es pro Jahrgang etwas mehr als 20 Kinder gibt, muss man eigentlich von einem Dorf um die 200 Leute ausgehen. Pro Jahrgang wird eine Gebärerin ausgewählt, die drei Jahre als Gebärmaschine tätig ist. Also gibt es drei Gebärerinnen gleichzeitig. Wie diese über 20 Kinder im Jahr schaffen, bleibt unklar. Andererseits ist das Umfeld nicht schaffbar, selbst wenn man die erwähnten Nachbargemeinden hinzuzieht, da der Umkreis sehr klein ist und kein großer totalitärer Staat existiert. Berge sind abgetragen worden wegen des Verkehrs, das Klima wird geregelt, sodass es keine Jahreszeiten mehr gibt (wegen der Landwirtschaft), es regnet nicht und die Sonne scheint nicht, Menschen können keine Farben mehr sehen, ihre Hautfarbe ist gleich, Kriege gibt es auch nicht mehr (aber Flugabwehrsysteme - warum?). Gegen Ende wird eine sehr kleine Welt gezeichnet. Das passt alles nicht zusammen.
Erinnerungen an die Vergangenheit hat nur mehr eine Person: der Hüter der Erinnerung. Das ist ein alter Mann mit hellen Augen (die meisten haben dunkle Augen). Die Geschichte dreht sich um den 12-jährigen Jonas, der auch helle Augen hat und mit 12 Jahren zum neuen Hüter der Erinnerung ausgewählt wird. Bereits vor der Auswahl hat er immer wieder Farberscheinungen, die er zunächst nicht einordnen kann (seine Welt ist ja grau).
Die Lehre beim alten Hüter der Erinnerung ist sehr esoterisch. Erinnerungen werden per Handauflegen am Rücken übertragen, und wenn eine Erinnerung übertragen wird, verliert der alte Träger diese. Auch sind die Erinnerungen, die übertragen werden, mit Nacherleben von Empfindungen und Gefühlen verbunden. Ein Sonnebrand tut weh, ein Beinbruch tut weh. Als Einziger hat der Hüter der Erinnerung auch eine große Bibliothek, die aber im Roman nur Deko ist. Vermittlung geschieht ja durch Handauflegen.
Eine Wende im Leben von Jonas ist die Freigabe eines Zwillings in der Säuglingspflegeanstalt, in der sein Vater als Pfleger arbeitet. Auf einem Bildschirm beim Hüter der Erinnerung kann er das Freigaberitual nach einer Zwillingsgeburt mitverfolgen (der schwächere wird immer freigegeben): Sein Vater setzt dem Neugeborenen eine Todesspritze an. Nun weiß Jonas, dass er in einer mörderischen Gesellschaft lebt und ausbrechen will. Der alte Hüter der Erinnerung unterstützt ihn, da bei Verschwinden des Hüters die Erinnerungen unkontrolliert auf die Bewohner übertragen werden. Wieder so ein nicht erklärtes esoterisches Phänomen. Im Laufe eines Jahres nimmt Jonas so viel Erinnerungen der Menschheitsgeschichte auf, wie es zeitlich möglich ist.
Der Zeitpunkt der Flucht kommt, als das Kleinstkind Gabriel, das sein Vater in die Familie zur Pflege übernommen hat und Jonas sehr gern hat, freigegeben werden soll. Jonas flieht in der Nacht vor Gabriels Freigabe auf dem Fahrrad seines Vaters aus dem Ort mit Gabriel auf dem Kindersitz. Unbehelligt kommt er aus der Stadt, Grenzkontrollen gibt es nicht, er platziert Kleidungsstücke am Fluss, damit die Gemeinschaft denkt, er ist ertrunken. Dennoch verfolgen ihn Flugzeuge (wessen?), er kann sich und Gabriel aber durch Kälteerinnerungsübertragung vor den Wärmebildkameras schützen. So gelangen sie ausgehungert in eine Gegend mit Bergen und Schnee (warum es den Weg gibt, ist auch nicht klar), von einer Anhöhe fahren sie auf einem Schlitten (wie in einer der Erinnerungen) in ein Tal, in dem ein bunt beleuchtetes Haus steht, in dem Menschen singen (wie in einer Erinnerung).
Mit dieser traumartigen Sequenz endet der Roman, und es bleibt offen, ob dies überhaupt real ist.
Eigentlich ist das Buch flott zu lesen, aber die Inkonsistenzen und esoterischen Eigenartigkeiten kumulieren gegen Ende des Textes und irritieren. So ist das Buch für ältere Kinder durchaus geeignet, über fremdbestimmtes und eigenverantwortliches Leben nachzudenken, aber die Logik darf nicht immer hinterfragt werden.